Die Wunder von Bielefeld

Ein keineswegs zu knapp bemessener, trotzdem nur wenig erhellender Streifzug durch die Geschichte einer schwer zu begreifenden Stadt.

Die Stadtporträts erscheinen im Februar in dem von Jürgen Roth und Rayk Wieland herausgegebenen Band "Öde Orte. Ausgewählte Stadtkritiken von Aachen bis Zwickau" bei Reclam Leipzig.

Als Anton Pawlowitsch Tschechow am 8. Juni des Jahres 1904 mit der Eisenbahn von Berlin nach Badenweiler im Schwarzwald reiste (wo der bereits schwerkranke russische Schriftsteller wenige Wochen später verstarb), passierte er, über die Ost-West-Schiene via Ruhrgebiet fahrend, auch das auf halber Strecke zwischen Hannover und Dortmund gelegene Städtchen Bielefeld, in dessen Bahnhof es einen fahrplanmäßigen zehnminütigen Aufenthalt gab. Durch seine ihn begleitende Ehefrau Olga ist überliefert, daß Tschechow kurz hinter Hannover von der Reisemüdigkeit übermannt worden und eingeschlafen war, so daß er von Bielefeld zunächst keinerlei Notiz nahm. Erst während der Fahrt durch die gut 30 Kilometer hinter Bielefeld auftauchende Ortschaft Gütersloh sei er erwacht und habe sich über den für einen Russen gleichsam exotisch anmutenden Namen "Gütersloh" sehr amüsiert gezeigt. Daraufhin sei er jedoch von Gattin Olga auf die soeben durchfahrene Stadt aufmerksam gemacht worden, deren Name, Bielefeld nämlich, einen, wie sie meinte, noch weitaus ulkigeren Klang besäße. Tschechow habe dem vorbehaltlos heiter zugestimmt, ehe er erneut in die Sitzpolster gesunken sei, um sich eine weitere Mütze Schlaf zu gönnen.

Nachzulesen ist diese kleine Episode in einer Broschüre, die, vom Bielefelder Heimattümler A. Liebold herausgegeben, mit "Unser schönes Bielefeld in der Literatur der Welt" betitelt und immerhin zwölf Seiten stark ist. Das vermutlich einzige noch erhaltene Exemplar dieses Anno 1930 im Selbstverlag erschienenen historiographischen Kleinods befindet sich in der Stadtbibliothek an der Bielefelder Wilhelmstraße, wo es der literaturgeschichtlich Interessierte unter Aufsicht einsehen, natürlich aber niemals ausleihen kann. Ohne Probleme bekommt er dafür Die Illustrierten Jahresberichte des Statistischen Vereins zu Bielefeld ausgehändigt, die darüber hinaus auch in Buchhandlungen, Tabakgeschäften und einigen Kaufhäusern zahlreich zur kostenlosen Mitnahme ausliegen.

In den Statistischen Jahresberichten von 1992 liest man zum Beispiel unter dem Rubrum "Verkehrswegebau" folgendes: "Wußten Sie schon, daß alle Bielefelder Straßen übereinander gestapelt einen Wall bilden würden, mit dem man die gesamte ehemalige DDR 1 000 Meter hoch umzäunen könnte? Daß ein einzelner Arbeiter 326 Jahre rund um die Uhr schuften müßte, so er sämtliche Bielefelder Bürgersteige hoch- und anschließend wieder herunterklappen hätte?"

Das sind nur zwei der unzähligen Superlative, mit denen man hier die in der Tat ungeheuren Dimensionen und Abmessungen des Bielefelder Straßennetzes zu verdeutlichen sucht. Ein weiterer Vergleich, in dem die Menge der für sämtliche Fahrbahnmarkierungen verwendeten Farbe durch die Anzahl der "Neger", die damit weiß angestrichen werden könnten, veranschaulicht wird, soll aus hoffentlich verständlichen Gründen unzitiert bleiben. Dabei läßt schon ein beiläufiger Blick auf den Bielefelder Stadtplan erkennen, wie gewaltig die Ausmaße des öffentlichen Verkehrswegesystems sind. Und was zunächst wie ein wild wucherndes Gewirr und schier unauflösliches Knäuel von Haupt- und Nebenstraßen erscheint, entpuppt sich zuletzt als eine durchdachte und höchst effektive Verbindungsstruktur, über die sich quasi jeder Punkt der Stadt denkbar bequem erreichen läßt.

So mag man anfänglich kaum glauben, daß jede Straße tatsächlich einen Anfang und ein Ende hat. Keine der Straßen führt einfach so ins Nichts. Von etlichen Straßen gehen zum Teil mehrere andere ab. Diese bilden Verbindungen zu weiteren Straßen, die sich dann entweder gabeln oder wiederum andere Straßen kreuzen. Am Ende aber stößt jede Straße mindestens auf eine neue Straße, auf der man dann seinen Weg in wenigstens zwei unterschiedliche Richtungen fortsetzen kann. Praktischer geht es kaum. Ein Beweis für den hohen Standard, den die Kunst des Verkehrswegebaus in Bielefeld erreicht hat.

Alle Bielefelder Straßen wurden obendrein, auch dies eine Leistung ohnegleichen, mit Namen versehen. Die Namen beziehen sich größtenteils auf historische Geschehnisse und Persönlichkeiten, die Bielefeld zu jenem blühenden Gemeinwesen machten, als das es heute bekannt ist. So läßt sich an Hand der Straßennamensschilder die durchaus bewegte Entwicklung der Stadt nachvollziehen - vorausgesetzt, man weiß, wer oder was sich hinter dem jeweiligen Namen verbirgt.

So lernt man zum Beispiel, daß es vor Klaus Schwickert (dem einzig wahren, wenn auch zur Zeit, aber hoffentlich nur vorübergehend nicht in Amt und Würden stehenden Oberbürgermeister) bereits andere Bielefelder Stadtoberhäupter gegeben hat wie etwa Puhvogel, Pöppelmann oder den legendären Poggenbrink. Man erfährt, daß der innerstädtische Verkehrsbrodelpunkt Jahnplatz ursprünglich den Namen Uli-Stein-Platz erhalten sollte und die Murnaustraße nur deshalb angelegt wurde, um rechtzeitig zum 100. Geburtstag des zu Bielefeld geborenen (und drei Jahre später auf Nimmerwiedersehen von hier verschwundenen) Hollywood-Regisseurs eine Straße vorweisen zu können, die seinen Namen trägt.

Man erfährt und lernt aber auch, daß es sich beim Namenspatron der Bielefelder August-Bebel-Straße keineswegs um den weltbekannten Sozialdemokraten handelt, sondern um einen Metzgermeister gleichen Namens aus dem Bielefelder Stadtteil Oldentrup. Dieser hatte in der Silvesternacht 1920/21 eine vollbesetzte Straßenbahn der Linie 2 gut einen Kilometer weit, nämlich von der Endstation Sieker bis zur Haltestelle Prießallee gezogen; wohlgemerkt mit den Zähnen, was ihm als erstem Bielefelder überhaupt einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde brachte. Dadurch wiederum sahen sich seine begeisterten Mitbürger veranlaßt, eine Straße nach ihm zu benennen.

Eine außergewöhnliche Ehrung, da sie verdienten Bielefeldern für gewöhnlich erst nach dem Ableben zuteil wurde und wird. So auch Bürgermeister Poggenbrink, der von 1347 bis 1413 in Bielefeld lebte und wirkte und zufällig jener Straße zu ihrem Namen verhalf, in der ich 1958 geboren wurde und anschließend aufwuchs.

Untrennbar mit Poggenbrinks Namen verbunden sind die bis heute vergeblichen Bemühungen, aus Bielefeld ein nationales Handelszentrum zu formen. Immerhin vermochte Poggenbrink die Bürgerschaft schon im Mittelalter davon zu überzeugen, daß nur ein ordentlicher Nordseehafen den ersehnten wirtschaftlichen Aufschwung brächte. 1411 begann man nach den Plänen eines Baumeisters Sudbrack - an ihn erinnert die Bielefelder Sudbrackstraße - ein Hafenbecken unweit des Kesselbrinks (wo sich heute ein malerischer Busbahnhof befindet) sowie einen Kanal "auszuheepen", der allerdings statt - wenigstens grob - Richtung Nordsee irrtümlich gen Osten vorangetrieben wurde. Fragmentarisch erhalten ist dieser architektonische Kunstfehler in Gestalt der später zeitweise auch als Cloaca Maxima genutzten sogenannten Stauteiche entlang der ostwärts führenden Heeperstraße.

Während einer durch den Hafenbau notwendig gewordenen Bildungsreise, die ihn 1413 auch auf eine Nordseehallig (Halligstraße) führte, ertrank Poggenbrink jedoch im Watt (Wattstraße), weil er spazierengehend von der Flut überrascht wurde. Mit seinem Tod erlosch der soeben erst erwachte Pioniergeist der Bielefelder. Sie stellten die Arbeiten am Kanal ein und erklärten das bereits vollendete Hafenbecken zum heute noch bestehenden Freibad an der Wiesenstraße. Immerhin kamen die Bielefelder solcherart schon im Mittelalter zu einem Freiluftbad mit (inzwischen denkmalgeschütztem) Zehner und Rutsche.

An Poggenbrinks Tod knüpft sich eine interessante Legende, die hier nicht unerwähnt bleiben soll. Ähnlich wie seinerzeit nach der Schlacht bei Marathon, wurde die Nachricht vom Tod des beliebten Bürgermeisters durch seinen Sohn Hermann überbracht, der die gesamte Strecke von der Küste nach Bielefeld in einem gewaltigen Fußmarsch und ohne jede Pause (Pausenweg) zurücklegte. Endlich angekommen, konnte der völlig erschöpfte Hermann jedoch nur noch "De Vadder is dod" stöhnen, um dann seinem Vater in die Ewigkeit zu folgen.

An Hermann erinnern heute nicht nur die Bielefelder Hermannstraße und das ihm zu Ehren erbaute Hermannsdenkmal bei Detmold, sondern vor allem der Hermannslauf, der alljährlich stattfindet und den jeder Bielefelder vor seinem 40. Geburtstag absolvieren muß, so er seine Bürgerrechte nicht verwirken will. Die Route führt vom Hermannsdenkmal über den Kammweg des Teutoburger Waldes bis nach Bielefeld, was in etwa einem Zwölftel der Strecke Nordsee - Bielefeld entspricht, nämlich rund 36 Kilometern. Laufen müssen die Teilnehmer so schnell wie möglich, und am Ziel müssen sie ausrufen: "De Vadder is dod!" Wer's vergißt, muß den mörderischen Lauf im nächsten Jahr wiederholen.

Bielefeld hat natürlich nicht nur bedeutende Männer hervorgebracht. Auch Frauen machten hier reichlich Geschichte, wie mancher Straßenname beweist. Daß es sich bei diesen Straßen in erster Linie um Sackgassen oder Einbahnstraßen handelt (was in Kreisen engagierter Frauen unter Hinweis auf z.B. die Mathilden- oder die Kriemhildstraße immer mal wieder beklagt wird), läßt sich so eigentlich nicht sagen. Als Gegenbeweis sollte man zwar nicht gerade die Turnerstraße nennen (Tina Turner wurde nämlich nicht, wie sie selbst angibt, 1940 in Bielefeld, sondern 1914 im benachbarten Landkreis Herford geboren), dafür aber seine Argumentationsstrategie um so mehr auf die Voltmannstraße stützen, eine zum Teil vierspurig ausgebaute Hauptverkehrsader, deren Name einer Frau, nämlich Josefina Voltmann entliehen ist; und keineswegs, so wird immer wieder fälschlicherweise angenommen, auf den französischen Philosophen und Literaten Voltaire zurückgeht.

Ein Irrglaube, der sich hartnäckig hält und vermutlich daher rührt, daß Voltaire, als er 1752 für einige Monate in Bielefeld logierte, von den Einheimischen, denen sein französischer Name nur schwer über die ostwestfälischen Lippen gehen wollte, kumpelhaft Voltmann genannt wurde. Wie ausgezeichnet es "Voltmann" übrigens in Bielefeld gefiel, mag man, zumindest nach dem bereits erwähnten Heimatkundler Liebold, daraus ersehen, daß in seinem 1759 verfaßten Roman "Candide" ursprünglich die Stadt Bielefeld jene Rolle übernehmen sollte, die letztlich das sagenhafte Land Eldorado übernahm. Somit wurde Bielefeld darum gebracht, als ewig gültiges Synonym für unermeßlichen Glanz und Wohlstand in den Wissensschatz der Welt einzugehen. Vielleicht mußten die Bielefelder Herrn Voltaire deshalb bis heute die Ehre eines Straßennamens verwehren.

Nicht so der Dame Josefina Voltmann, die, um 1670 (also lange vor Voltaires Abstecher nach Ostwestfalen) geboren, sich zeit ihres Lebens dafür einsetzte, daß auch die Bielefelder Frauen das Recht erhielten, Alkoholisches zu trinken. Erst 1714 wurde solches Recht in der Magna Alcoholica gesetzlich verankert. Josefina Voltmann aber trank sich noch im selben Jahr ins Delirium und verstarb. Die Bedeutung dieses Gesetzes kann nur ermessen, wer bedenkt, welche gewichtige Rolle der Alkohol in Bielefelds Geschichte stets spielte. Und zwar von Beginn an! Die Gründungs-Legende nämlich besagt, Bielefeld sei aus einer Schnapswette hervorgegangen.

Demnach empfing der Landesherr Graf Bewekenhorn im Jahre 1214 auf seiner Burg Ravensberg (Ravensbergerstraße) den römischen Bettelmönch Paulus (Paulusstraße), der aus Friesland kommend, wo er vergeblich zu missionieren versucht hatte (Missionsweg), eine kleine Pause (Pausenweg) einlegte, ehe er die Heimreise (Heimweg) nach Italien fortsetzen wollte. Die beiden brachen eine gar fürchterliche Zecherei vom Zaun, die sich über drei Tage hinzog. Während dieses entsetzlichen Umtrunks habe der Römer immer wieder mit der angeblichen Pracht seiner Heimatstadt geprahlt und derart rumrenommiert, daß es den alten Bewekenhorn gewurmt und schließlich zu dem zornigen Ausruf bewogen haben soll, er werde noch im selben Jahr eine Stadt gründen, deren Glanz den von Rom bei weitem übertreffe. Als dies der Gottesmann mit unchristlichstem Hohnlachen quittiert habe (Quittenweg), soll er vom Grafen eigenhändig gepackt und - mit Ziegeln beschwert (Ziegelstraße) - in einem 80 Meter tiefen Brunnen (Brunnenstraße) versenkt worden sein.

Ob Dichtung oder Wahrheit, urkundlich belegt ist jedenfalls, daß besagter Graf Bewekenhorn im Jahre 1214 die heute noch existierende und denkmalgeschützte Gaststätte Bewekenhorn errichten ließ, eine für damalige Verhältnisse einzigartig dimensionierte Bierschwemme. Damit aber hatte er die wichtigste Voraussetzung geschaffen, um siedlungswillige Menschen anzulocken. Und tatsächlich, getreu dem Bibelwort "Wo eine Schenke ist, da laß dich nieder" (Johannes der Säufer) strömte schon bald eine stattliche Anzahl von Ostwestfalen zusammen und fand zunächst im gemütlichen Schankraum, später in mehr oder weniger festen Bauten um die Kneipe herum eine neue Heimat.

Die ersten Bürger Bielefelds waren Strauchdiebe und Wegelagerer aus den umliegenden Teutoburger Wäldern. Durch die Gründung einer "Ehrbaren Zunft der Kaufmannschaft" gaben sie sich zwar den Anschein von Seriosität, wickelten ihre Geschäfte jedoch weiterhin nach bewährter Methode ab, also durch Betrug, Raub und Trickgaunerei. Da hat sich bis heute nicht viel geändert.

Ab 1414 begingen die Bielefelder das Ereignis der Stadtgründung alljährlich mit einer, wie es eine alte Chronik beschreibt, "gar kleynen aber nichtsdestotrutz feynen Festivitate", die jedoch nichts anderes als ein wüstes Gelage war und im Gedenken an die gräflich-mönchische Sauferei stets drei Tage anhielt. Frauen waren von diesen Festen ausgeschlossen, da sie "immerzu meckern, zetern und lamentern und allerley Grund herbeizerren, welcher geeignet sey, dem Mannsvolke seine ungehemmten Vergnieglichkeiten zu trüben." Erst mit der erwähnten Magna Alcoholica wurde es Frauen gestattet, an entsprechenden "Vergnieglichkeiten" aktiv teilzunehmen, wenn auch zunächst nur nackt.

Zu einem Höhepunkt des Gründungsfestes entwickelte sich bald der Umzug der Kaufmannschaft, den zu veranstalten die jeweils zehn bestbetuchten Krämer und Händler der Stadt gezwungen wurden. Man karrte sie auf einem offenen Wagen durch die Straßen, währenddessen sie mindestens die Hälfte ihrer Barschaft unters entrückte Volk zu werfen hatten. So sich einer der Reichen dieser Umverteilung verweigerte, wurde er unter allgemeinem Hohn und Spott zum römischen Bettelmönch Paulus ernannt und kurzerhand in einem Brunnen ertränkt. So wollten es die damaligen Sitten und Räusche, und eigentlich ist's schade, daß diese schöne Tradition im heutigen Bielefeld keinen Bestand mehr hat.

Fritz Tietz lebt als Journalist in Hamburg und arbeitet u.a. für das NDR-Satire-Magazin Extra Drei.
In der nächsten Ausgabe schreibt Kay Sokolowsky über Hamburg: "Die Große Övelgönner Haßnacht".