Jelzin will’s wissen

Der gerade gefeuerte Tschernomyrdin kündigt seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 an. Ob er Jelzins Wunschkandidat ist, steht in den Sternen

Die undurchsichtigen Machtspiele in der Führung des russischen Staates können die Herzen der Kreml-Astrologen höher schlagen lassen: Sechs Tage nach seiner Entlassung durch Boris Jelzin hat der russische Ex-Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin am Wochenende angekündigt, bei der Präsidentenwahl im Jahr 2000 zu kandidieren. Das ist nicht ohne Risiko: In einer Meinungsumfrage nach seiner Entlassung hatten sich etwa 50 Prozent gegen seine Kandidatur ausgesprochen. In einem TV-Interview erklärte Tschernomyrdin gewunden, er habe Jelzin dahingehend verstanden, daß der mit seiner Entscheidung einverstanden sei. Sollte Tschernomyrdin nicht die Unterstützung der Partei der Macht im Kreml erhalten, werden seine Chancen von politischen Beobachtern als gering eingeschätzt.

Jelzin wiederum wollte Tschernomyrdin, der sich in der letzten Zeit zu seinem ernstzunehmenden Konkurrenten gemausert hatte, nicht explizit als seinen Nachfolger bezeichnen. Aus verschiedenen Andeutungen Jelzins ließ sich entnehmen, daß er wohl nicht zum dritten Mal für das Präsidentenamt kandidieren möchte.

Klar ist mittlerweile jedenfalls, daß der zukünftige Ministerpräsident nach dem Willen Jelzins Sergej Kirijenko heißt. Am vergangenen Donnerstag suchte Jelzin den Sitz der Regierung auf. Gemeinsam mit Kirijenko betrat er das leere Arbeitszimmer des Ex-Premiers Tschernomyrdin und lud seinen jungen Zögling ein, auf dem Ledersessel seines gefeuerten Vorgängers Platz zu nehmen. Kirijenko schaute Jelzin unsicher an. Meint er es nun ernst oder scherzt er wieder? Doch nur scheinbar scherzte der. Den Vorsitzenden der Staatsduma, Gennadij Selesnjow, forderte Jelzin sodann auf, den geschäftsführenden Ministerpräsidenten Sergej Kirijenko in seinem Posten zu bestätigen. Selesnjow reagierte sofort und erklärte, Kirijenko solle sich am kommenden Freitag der Duma vorstellen. Bis zu seiner Bestätigung durch das Parlament will der frischgebackene Kandidat keine Namen für mögliche Mitglieder der neuen Regierung nennen.

Über seinen Schützling Kirijenko meinte Jelzin, dieser sei zwar "ein neuer Mensch an der Macht", verfüge aber über wichtige Qualitäten: "Er ist mit keiner Partei und Bewegung verbunden. Er ist in der Lage, mit allen den Dialog zu führen. Und er ist in der Lage, sich die Meinung verschiedener Seiten anzuhören."

Widerspruch gegen seinen Vorschlag will der russische Präsident auf keinen Fall dulden, wie er vor Journalisten bekräftigte. Mit grimmiger Miene erklärte er, er werde gegenüber der Duma "keine Nachsicht üben", das Parlament solle keine Zeit verlieren und keinen Konflikt riskieren. Sollten die Abgeordneten seinen Vorschlag dreimal ablehnen, werde er von seinem verfassungsgemäßen Recht Gebrauch machen, das Parlament aufzulösen. Damit befindet sich die Staatsduma in einer ungünstigen Situation. Sie soll für einen Ministerpräsidenten stimmen, der kaum über eigenes politisches Profil verfügt, geschweige denn ausreichende Regierungserfahrung hat: ein Grund, warum Kommunisten-Chef Gennadi Sjuganow ihn am Wochenende für das Amt des Ministerpräsidenten ablehnte.

Allein um ihr Gesicht zu wahren, werden die Kommunisten wohl in der ersten Abstimmung gegen Kirijenko stimmen. Wie der stellvertretende KP-Vorsitzende Walentin Kupzow erklärte, würden sich die Duma-Abgeordneten nicht erpressen lassen. Der Duma-Vorsitzende Selesnjow äußerte sich etwas zurückhaltender: "Ich erkläre ebenso kategorisch, daß wir dem Präsidenten keinen verfassungsmäßigen Grund geben werden, die Duma zu entlassen." Die auflagenstarke Wochenzeitung Argumenty i Fakti bewertet Jelzins Vorschlag für einen neuen Ministerpräsidenten als abgekartetes Spiel. Da die regulären Wahlen für die Staatsduma (1999) und das Präsidentenamt (2000) nur sieben Monate auseinanderliegen, habe man - so vermutet die Zeitung - im Kreml beschlossen, den zeitlichen Abstand zwischen beiden Wahlen zu vergrößern. Sonst wäre das Land durch zwei Wahlkämpfe "für mindestens eineinhalb Jahre paralysiert". Jelzin schlage der Staatsduma deshalb einen "unannehmbaren Kandidaten" vor. Nach der erwarteten Ablehnung könne der Präsident dann das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen.

Die Situation will Jelzin sogleich zu Umstrukturierungen in der Regierung nutzen. Die Anzahl der Regierungsmitglieder soll nach seinem Willen um die Hälfte reduziert werden. Zur Zeit besteht das Kabinett aus insgesamt 66 Beamten: neun Vizepremiers, 21 Minister sowie 36 Vertreter der föderalen Macht. Außerdem wünscht der Präsident, daß Sergej Kirijenko ihm alle drei Monate einen Bericht darüber vorlegt, inwieweit der Haushaltsplan eingehalten wird.

Hauptproblem des russischen Staates ist derzeit, daß das monatelang umstrittene Budget (Jungle World, Nr. 44/97) keine praktische Bedeutung hat. Bis zum März dieses Jahres floß nur ein Sechstel der erwarteten Steuersumme in die Staatskasse. Millionen Beschäftigte staatlicher Einrichtungen müssen seit Monaten auf ihre Lohnzahlungen warten. Jelzins neuer Zögling soll an dieser Front offensichtlich jenes Wunder vollbringen, auf das man schon seit Jahren wartet.