Boomtown Cotonou

Die Küstenmetropole des westafrikanischen Staates Benin entwickelt sich zum kapitalistischen Vorzeigeprojekt - mit ungewissen Folgen für die Bewohner

"Diese Stadt ist ein Moloch geworden", jammern einmütig gebeutelte Bewohner, Medien und ausländische Beobachter. Gemeint ist Cotonou, die ökonomische und kulturelle Hauptstadt der ehemals französischen Kolonie Benin, und gemeint sind die Früchte einer städtischen market-democracy made in Africa.

Der kleine Staat an der "Sklavenküste" ist über Fachkreise hinaus als Musterbeispiel der afrikanischen Demokratisierung bekannt geworden. Eine "Nationalversammlung aller gesellschaftlich relevanten Gruppen" beendete 1990 gewaltlos die 17jährige "marxistisch-beninistische" Herrschaft von General Mathieu Kérékou. Zu dessen Nachfolger als Staatspräsident wurde ein Jahr darauf Nicephore Soglo gewählt. Der ehemalige Beamte der Weltbank agierte vornehmlich als Marionette seiner früheren Arbeitgeber. Er setzte per Dekret und gegen den Willen der Nationalversammlung Entlassungen und Privatisierungen durch, öffnete den beninischen Markt und bereitete damit nach Jahren realsozialistischer Staatswirtschaft der market-democracy den Weg.

Das hat sich auch dadurch nichts geändert, daß Benin zum ersten subsaharischen Staat Afrikas avancierte, in dem auf friedlichem Weg ein demokratisch gewählter Präsident seinen ebenso gewählten Vorgänger ablöste. Kérékou - sein persönliches Wahrzeichen ist das Chamäleon - ist als gewendeter Markt-Demokrat 1996 an die Spitze des Staates zurückgekehrt. Der nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 65 und 75 Jahre alte Politiker gab sich sogar einen sozialen Touch: Er schlug auf dem Weg von Nachverhandlungen mit den Bretton-Woods-Institutionen über das wirtschaftliche Strukturanpassungsprogramm eine Erhöhung von Staatsanteilen an den zu privatisierenden Unternehmen und niedrigere Entlassungsquoten heraus.

Doch daß der Markt weiterhin mit Wachstumsraten von fünf bis sieben Prozent boomt, möchte auch Kérékou nicht verhindern, marktwirtschaftliche haben eben vor sozialen Maßnahmen Priorität. Nur diese Politik sichert den Zufluß von Entwicklungshilfegeldern, von denen 80 Prozent der staatlichen Investitionen und viele Dienstwagen - allein Soglo hatte während seiner Amtszeit 18 - bezahlt werden.

Die offiziellen Wachstumsraten sagen, wie die meisten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsdaten von Trikont-Staaten, nicht viel aus. In Benin ist über die Hälfte der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, der Großteil davon in der Subsistenzwirtschaft. Weitere 40 Prozent wirtschaften im sogenannten informellen Sektor "schwarz". Subsistenzwirtschaft fällt aus der Wachstumsrechnung heraus, der informelle Sektor ist statistisch nur zum Teil erfaßbar. In Cotonou jedoch sind wirtschaftliches Wachstum und die damit einhergehende rasante Entwicklung auf dem Weg in die kapitalistische Weltgesellschaft nicht zu übersehen. Basis dieser Entwicklung ist die für afrikanische Verhältnisse nicht selbstverständliche Monetarisierung. Während auf Benin insgesamt bezogen noch annähernd zehn Prozent der Bevölkerung vom Geldkreislauf ausgeschlossen sind, gibt es in der Hafenstadt an der Atlantikküste wohl niemanden mehr, der noch gebrauchswertorientiert malochen kann. Gehandelt wird in der Hauptsache mit Altkleidern, Gebrauchtwagen und Mofas, ferner blüht das Handwerk. Das Angebot an Dienstleistungen - vor allem für Ausländer - umfaßt jede nur denkbare Arbeit. Der Exportschlager ist Baumwolle. Ein immenses Außenhandelsdefizit läßt sich allerdings auch dank der entsprechenden GATT- und EU-Politik nicht verhindern.

Die Masse der Metropolen-Bewohner bekommt aber trotz Wachstum stärker den neuen Wind einer tauschwertorientierten Gesellschaft zu spüren und weniger die Verbesserung der Lebensverhältnisse. Landflucht und die metropolitane Sogwirkung auch auf Nachbarstaaten wie Nigeria und Togo haben Cotonou in nur wenigen Jahren von einer Kleinstadt zur Millionenmetropole aufgebläht. Mit diesem Bevölkerungswachstum hält das wirtschaftliche Wachstum nicht Schritt, von der Verteilung des neuen Wohlstands ganz abgesehen. Die städtische Armut hat in Cotonou seit der wirtschaftlichen Liberalisierung entsprechend zugenommen, eine Studie des Entwicklungshilfeprogramms der Vereinten Nationen aus dem vergangenen Jahr bestätigt dies: 35 Prozent der Bevölkerung Cotonous können nur weniger als 80 Prozent ihres täglichen Kalorienbedarfs decken, wobei als Bedarf ohnehin nur der Minimalwert zur Lebenserhaltung angegeben wird.

Auch die übrigen Folgen der Tauschwertorientierung sehen in Cotonou so aus wie in anderen Gegenden des globalen Dorfes: wachsende Müllberge, gelegentlich eintretender Verkehrsinfarkt und entsprechende Schadstoffbelastungen. Die wenigen, die es sich leisten können, also staatliche Angestellte und Beamte, glauben im Streik eine Antwort auf die kapitalistische Misere gefunden zu haben. Erstmals seit Jahren werden die Verbraucher von einer regelrechten Streikwelle genervt: Ende 1997 forderten Studierende die Verbesserung des Transports zur Universität, der Mensa-Kost und des Lehrangebots. Es folgte Ende Februar dieses Jahres ein Streik in den öffentlichen Diensten, vor allem in den Verwaltungsbehörden und im Erziehungswesen, der sich über zwei Wochen hinzog und dessen Fortsetzung zu erwarten ist. Die Forderung der Gewerkschaften nach Mitsprache bei der Einführung des Leistungsprinzips bei Beförderungen und nach Anhebung des Gehaltsindexes auf das Niveau von 1996 wurden nur ansatzweise erfüllt.

Dagegen trifft der Protest der Mitarbeiter der staatlichen Ölgesellschaft eine empfindliche Ware. Zum zweiten Mal sind in diesem Monat die Tankstellen blockiert. Die Streikenden sehen sich von der Gestaltung der Privatisierung ausgeschlossen und unterstellen der Regierung beim Verkauf an einen ausländischen Investor "dubiose Geschäfte". Doch dank des "schwarz" importierten nigerianischen Benzins kann in Cotonou während des Streiks die Mehrheit an Fahrzeugen weiterhin rollen.

Die Antwort vieler Stadtbewohner auf ihr neues Cotonou ist die stumme Anpassung an den städtischen Kampf aller gegen alle. Der Verlust ihrer personal-feudalistischen oder auch -kollektivistischen Strukturen in einer notwendig nichtpersonal-individualistischen Ökonomie treibt die Menschen dabei in unterschiedliche Zwangslagen. Die langjährige Benin-Kennerin Karola Elwert-Kretschmer von der Humboldt-Universität Berlin berichtete in Cotonou bei der Vorstellung einer jüngst veröffentlichten Studie (Titel: "Religion und Angst"), daß sie sich noch daran erinnere, wie Anfang der siebziger Jahre über den ersten Mordfall in Benin gesprochen wurde. Wer heute die beninische Presse verfolgt, weiß, daß dieser Notiz nostalgischer Wert zukommt. Verläßliche Statistiken fehlen zwar, aber der Direktor des führenden Recherche-Instituts in Cotonou, der Soziologe Lazare Souheto, ist sich ebenso sicher wie viele seiner Kollegen, daß mit der wirtschaftlichen Liberalisierung ein immenser Anstieg der Gewaltverbrechen, insbesondere der Raubüberfälle, einhergegangen ist. Wird ein Dieb auf frischer Tat ertappt, sorgen mittlerweile häufig Reifen, Benzin und Streichholz für einen kurzen Prozeß.

Ein anderes Phänomen beobachtete die Ethnologin Erdmute Alber von der Freien Universität Berlin. Die in einigen Regionen Benins schon seit langem praktizierte soziale Elternschaft, deren Charakteristikum die kollektive Kindererziehung gewesen sei, degeneriere gemäß ihrer Forschungen in den letzten Jahren zu einer Methode, Kinder an reiche Verwandte abzuschieben. Für die reichen Verwandten seien die Kinder als billige Hausangestellte willkommen. Im übrigen scheint totale Käuflichkeit für jeden denkbaren Dienst immer allgemeiner praktiziert zu werden, "westliche Utensilien" wie Coca-Cola, Video und Kopfhörer werden verehrt.

"Le monde s'occidentalise" (Die Welt verwestlicht sich), lesen beninische Schulkinder in der Pflichtlektüre

"L'aventure ambigue" ("Das ungewisse Abenteuer") des westafrikanischen Schriftstellers Cheikh Hamidou Kane - Cotonou bietet für diese These gutes Anschauungsmaterial.