Kirijenko in der Schuldenfalle

Jelzins Kandidat für den Posten des Ministerpräsidenten steht vor einer schwierigen Situation. Steckt am Ende der russische Präsident dahinter?

Rußland ist pleite. Jedenfalls laut der Situationsbeschreibung des amtierenden Ministerpräsidenten Sergej Kirijenko, der diesen Posten auch gerne vom Parlament zugesprochen bekäme. Die Wirtschaft des Landes erlebe ein Null-Wachstum, die Investitionen seien in den ersten beiden Monaten dieses Jahres um 7,5 Prozent zurückgegangen, die Außenhandelsbilanz könne dieses Jahr nur noch ein Plus von rund 270 Millionen Mark verbuchen. Im vergangenen Jahr waren es immerhin mehr als 2,5 Milliarden Mark. Außerdem ist Rußland mit mehr als 247 Milliarden Mark im In- und Ausland verschuldet, im ersten Quartal dieses Jahres hat die Schuldentilgung allein ein Drittel des Staatshaushaltes in Anspruch genommen. Monatlich bleiben erwartete Steuereinnahmen in Höhe von umgerechnet 27 Millionen Mark aus, so daß Rußland den Staatsangestellten keine Löhne mehr auszahlen kann.

Doch die Offenheit bezüglich der aktuellen Wirtschaftsdaten nützte dem Zögling von Präsident Boris Jelzin wenig. Nur 143 der insgesamt 450 Duma-Abgeordneten votierten am Freitag für Kirijenko. Schließlich, so bemerkte Grigorij Jawlinski von der liberalen Jabloko-Fraktion, falle es schwer, jemandem zu vertrauen, der das letzte halbe Jahr als Regierungsmitglied keinerlei Kritik an der Wirtschaftspolitik geäußert habe, nun aber "alles anders machen will". Kirijenko hatte zuvor in der Duma erläutert, um Löhne und Renten auszuzahlen, sei der Verkauf von Staatseigentum nicht nötig, es müsse lediglich besser verwaltet werden. Die Marktwirtschaft erfordere in dieser Übergangsperiode eine strenge staatliche Kontrolle. Monopolbetriebe wie der Stromgigant RAO EES oder die Gasgesellschaft Gasprom müßten vorerst in Staatsbesitz bleiben.

Damit wollte Kirijenko offensichtlich auch der Opposition gefallen. KP-Führer Gennadi Sjuganow fand so "einige interessante Aspekte" in dem Kirijenko-Programm, das mit der von der KP-Fraktion geforderten Kursänderung allerdings nichts zu tun habe. Und so stimmten die vermeintlichen Kommunisten gegen den Kandidaten Jelzins. Der beobachtete den ersten Auftritt seines Zöglings aus sicherer Distanz in seiner Vorstadtresidenz "Gorki-9" und forderte, kaum daß das Votum bekannt wurde, die Abgeordneten erneut auf, seinen Favoriten zu bestätigen.

Die Präsentation der Wirtschaftsdaten diente nicht nur als Versuch Kirijenkos, sich mit der Opposition gut zu stellen. Sie war auch ein deutliches Zeichen, daß es mit dem alten Premierminister Viktor Tschernomyrdin einfach nicht hätte weitergehen können. Mit der demonstrativen Offenheit könnte es aber bald schon vorbei sein. Die Tageszeitung Iswestija vermutete vergangene Woche hinter den schönen Worten bereits eine Fortsetzung der bisherigen Politik: "In den öffentlichen Auftritten Kirijenkos hörte man zwei Programmpunkte, welche ihm den Einzug ins Weiße Haus ermöglichen könnten: Wirtschaftswachstum und Kampf gegen die Armut. Für die letzte Regierung waren diese Begriffe mehr Folge als Ziel. Jetzt erscheinen sie das erste Mal als Hauptaufgabe. Aber selbst wenn sich dahinter die gleichen harten Maßnahmen verstecken, welche das alte Kabinett in den letzten Monaten praktizierte, es klingt schon anders."

Auch die Nesawissimaja Gaseta berichtete bereits Ende März unter Berufung auf eine "einflußreiche Quelle" in der Duma, die Wirtschaftsprobleme Rußlands seien so groß, "daß die Regierung für deren Korrektur in den nächsten eineinhalb bis zwei Jahren eine Reihe von für die Mehrheit der Bevölkerung schmerzhaften sozialen Reformen durchführen wird". Damit hätte man Jelzin auch den Privatisierungsspezialisten Anatolij Tschubais beauftragen können, doch den hätte die Duma als Premier unter keinen Umständen bestätigt. Kirijenko, so lobt man hingegen, könne zuhören und beziehe die öffentliche Meinung in seine Überlegungen mit ein.

In der Tat bemerkte Kirijenko: "Im letzten halben Jahr sprach die Regierung von Wirtschaftswachstum. Aber kein Bürger dieses Landes hat etwas von ihm bemerkt" - aus "subjektiven und objektiven", "inneren und äußeren Gründen". Schuld sei die Finanzkrise in Asien, die Verschlechterung der Konjunktur auf den Weltmärkten, "unrealistische staatliche Verpflichtungen" und fehlende Steuergesetze. Um all dies wieder auszugleichen, kündigte Jelzins Kandidat an, "unpopuläre Maßnahmen" würden sich wahrscheinlich nicht vermeiden lassen. Dabei spielte er im wesentlichen auf die Kürzung der noch aus Sowjetzeiten stammenden sozialen "Privilegien" an. Zwei Drittel der 150 Millionen Staatsbürger haben das Recht auf finanzielle Hilfe vom Staat. Diese "Privilegien" seien angesichts der heutigen Wirtschaftslage absurd.

Auch nach Meinung von Finanzminister Michail Sadornow ist die Erhöhung der Staatseinnahmen über verstärkte Steuereintreibung ebenso notwendig wie die Begrenzung der Ausgaben, etwa durch die Streichung der "Privilegien", damit Rußland nicht auf den Bankrott zusteuere. Rechne man die aktuelle Situation hoch, müsse das Land im Jahre 2003 mehr als 70 Prozent seines Haushaltes für die Schuldentilgung aufwenden. Sadornow gehört zu jenen, die auch unter Kirijenko ihr Amt behalten. Die zentralen Ministerposten sind nämlich längst vergeben. Und so bemühte sich Jelzin sofort, Gerüchte zu dementieren, nach denen in die neue Regierung auch die Kommunisten miteinbezogen werden sollen. Als Zeichen der Kontinuität werden hingegen die Minister Primakow (Außenpolitik) und Sergejew (Verteidigung) ihre Posten behalten. Als Nachfolger des entlassenen Innenministers Kulikow berief der russische Präsident hingegen Sergej Stepaschin. Dieser leitete 1994 als Chef der russischen Spionageabwehr das Tschetschenien-Drama ein, sieht das aber inzwischen als Fehler.

Über die Strategie Jelzins, so es eine gibt, herrscht in Rußland Unklarheit. Allein über die Gründe, die Jelzin bewogen haben, das Tschernomyrdin-Kabinett zu entlassen, um nun einen Teil der Minister unter Kirijenko wieder einzusetzen, spekulieren die russischen Medien bis heute. Ein strategischer Plan ist kaum erkennbar, Jelzins Vorgehensweise scheint unberechenbar. Und das nicht nur aus der Sicht der Opposition, sondern für alle politischen und wirtschaftlichen Gruppen, die keinen direkten Zugang zu seinem engsten Beraterkreis haben. Dabei hat sich die Situation in Rußland wesentlich verändert. Jelzins "Partei der Macht" basierte vor knapp zwei Jahren noch auf der deutlichen Abgrenzung gegenüber den Kommunisten. Mittlerweile aber ist die politische und wirtschaftliche Elite selbst stark differenziert. Somit gibt es keinerlei Garantie dafür, daß die unterschiedlichen Interessengruppen, die hinter Jelzin stehen, in der jetzigen instabilen Situation nicht bereits andere Wege erwägen.

Ausgeschlossen werden kann aber auch nicht, daß Jelzin dem Premier Tschernomyrdin mit seiner Entlassung den Weg für die Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 freimachen wollte. Momentan allerdings führt KP-Chef Sjuganow die Meinungsumfragen über die aussichtsreichste Präsidentschaftskandidatur mit etwa 20 Prozent an. Andere favorisierte Kandidaten wie Lebed, Luschkow und Jawlinski liegen bei acht bis zehn Prozent, Tschernomyrdin weit dahinter. Sollten die "unpopulären Maßnahmen" jetzt aber von Kirijenko verantwortet werden, könnte sich der geschaßte Tschernomyrdin in zwei Jahren den Wählern als Garant der Stabilität präsentieren. Denn mit der Entlassung des Kabinetts Tschernomyrdin ist die Stabilität in Rußland erstmal dahin. Insbesondere scheint Jelzin durch die autoritäre Politik seinen selbstgesteckten Zielen, Reformen und Verbesserung des Investitionsklimas, mehr zu schaden als zu nützen. Der Jabloko-Abgeordnete Jawlinskij machte Jelzins Vorgehen daher für einen Zustand der Unvorhersehbarkeit und Gefahr in Rußland verantwortlich: Durch die Einsetzung eines Jelzin-hörigen Präsidenten sei "die Regierung als politische Institution im Land praktisch liquidiert" worden.