45. War's wer

Fortgesetzte Erzählungen

Da angeblich jeder Fall nach Aufklärung schreit, hier noch rasch die Auflösung des Silvester-Rätsels aus Kapitel 38 - Sie erinnern sich: Die tugendhafte Gräfin, ihr angeschossener Gatte auf dem Diwan und die halb verkohlte Leiche seines Freundes Dr. Hontheimer, die sechs Tage später aus den noch qualmenden Strohmassen des gräflichen Schafstalls geborgen wurde.

Max Klebe im Gespräch mit den Kriminalisten Fahrensohn und Schade (vgl. Kapitel 10). Wesentlicher Inhalt des Palavers: Wer war's, wenn überhaupt?

Fahrensohn, Schade, fest:

"Ein Unbekannter, ein Fremder."

Klebe, familiär:

"Natürlich, der geheimnisvolle Pisser hat wieder zugeschlagen. Lassen Sie Formulare drucken."

Nach draußen schöner Blick über die Trümmerwüste am Kasseläner Altmark (als Ruinenlandschaft erheblich reizvoller als vor und nach dem Wiederaufbau), ferner ein schöner, grauer Novembertag, nasse Füße, triefende Haare, miefender Überzieher.

Dämmerschoppen in Erichs Kajüte, die sich wie alle Geschäfte der Innenstadt in einer relativ gemütlichen Bretterbude befindet, noch ohne Musikbox, aber mit einarmigen Banditen, einbeinigen Herren und Tischfußball. Ich vermute mal, Tischfußball hat man damals erfunden, damit die vielen Kriegskrüppel auch mal'n Ball vor die Füße kriegten.

Dolores von den langen Beinen serviert Brötchen mit Hackfleisch (kasselänisch: Musteweck), leger aus der Lameng (Kassel hatte mal einen französischen König!). Der junge Schade spitzt gemächlich die Lippen. Dolores, frivol: "Und jeder wünscht sich doch nur das eine!"

Klebe, versöhnlich.

"Also, nicht, daß ich das ausschließen wollte, daß die Herren sich duelliert haben. Mich stört die miese Trefferquote."

"Die Verletzung, die der Horwitz hatte, stammt möglicherweise aus der Waffe, die wir im Schafstall gefunden haben."

"Ganz eindeutig!" - "Zweideutig: Der junge Jordan will ein Dutzend Schüsse gehört haben." - "Der hört schlecht, seit er sich an einem Leiterhaken die Hoden abgerissen hat."

"Weil es dunkel war. Sie vergessen, solche Duelle werden mit Vorliebe bei Dunkelheit ausgetragen. Die Duellanten begeben sich in einen geräumigen Raum, in dem man nichts sieht und zünden sich eine Zigarre an. Dann erst zücken sie den Ballermann."

"Glaub' ich nicht, daß ein Frontschwein wie Horwitz so blöd ist, sich die brennende Zigarre vor die Oberschenkel zu halten und sein Freund Hontheimer ist so blöd und schießt genau dazwischen."

"Das stimmt. Wissen Sie, wie man den Schuß kalkuliert?" - "Sagen Sie's mir." - "Sie fahren mit ihrer Waffe eine Armlänge plus ein Schulterstück nach links und drücken ab." - "Das ergibt einen Bauchschuß."

"Wenn der Getroffene die Zigarre mit links hält. Der Hontheimer hatte aber einen Schuß im Rücken. Die Kugel steckte noch in der Wirbelsäule." - "Vielleicht ein Wanderschuß." - "Ja, das ist der entscheidende Punkt."

"Also kein Duell." - "Kein Duell." - "Bleiben wir noch einen Moment bei diesem Duell. Der Getötete könnte Horwitz den Rücken zugewandt haben." - "Warum?" - "Ein Affront." - "Oder um ihn zu irritieren." - "Dann müßte Horwitz mehr als zwei Armlängen weit daneben geschossen haben." - "Wenn er geschossen hat."

"Ich plädiere noch immer für das Eifersuchtsdrama. Man feiert Silvester, alle haben was getrunken, Frau Horwitz und Hontheimer tanzen vielleicht ein bißchen zu eng, sie brummt brünstig: 'Kann denn Liebe Sünde sein?', der Hausherr schöpft Verdacht, läßt die Zofe einen Handschuh holen und gibt Hontheimer eine Ohrfeige: 'Ich verlange Satisfaktion.' Kramuschke bringt die Turnierpistolen, und schon fangen sie an zu ballern."

"Klingt doch gut, oder?" - "Find' ich nicht." - "Warum nicht? Wollen Sie sagen, ein Bundestagsabgeordneter der FDP duelliert sich nicht?"

"Es wäre nicht commentmäßig. Zu einem Duell unter Corpsbrüdern gehören Visitenkarten, Sekundanten, Ärzte, Sektkübel, Frack und Zylinder." - "Schwarze Anzüge hatten sie an." - "Ja, aber sie waren beide nicht bewaffnet." - "Wer sagt das?" - "Horwitz." - "Und das glauben Sie?" - "Was ich glaube, ist meine Privatsache."

"Also, nochmal: In fünf Minuten ist Neujahr, die Gräfinmutter geht schlafen, Gräfin Cosima plaudert mit den Gästen, die Kinder spielen Mühle oder Dame, die Zofe macht schon mal den Sekt auf, da, plötzlich, wird die Tür aufgerissen, jemand führt Horwitz rein und bettet ihn auf den Diwan. Der Hausherr blutet aus dem Oberschenkel und ruft: 'Hontheimer, um Himmels willen, mein Freund Hontheimer. Wenn ihm etwas passiert ist!' Oder so ähnlich. Dann wird er ohnmächtig. Ich frage mich nur, warum die Alte schon im Bett war."

"Sie haßt den Jahreswechsel. Die ersten sechs Wochen schreibt sie jedes Datum falsch, sagt sie. Außerdem soll am 30. Mai die Welt untergehen."

"Eine rührende Geschichte. Sie konnte nur nicht mit ansehn, wie ihr Sohn sich umbringen läßt. Warum hat die Scheune überhaupt gebrannt?" - "Der Schafstall, bitte."

"Sie vergessen die Zigarren. Die Herren beschießen einander, Hontheimer verletzt Horwitz am Oberschenkel, der trifft seinen Kontrahenten in den Rücken, beide lassen vor Schreck die Zigarren fallen, und nach einer halben Stunde schlagen die Flammen schon aus dem Dach."

"Unwahrscheinlich. Hontheimer war Nichtraucher, und Horwitz hatte seine Zigarre noch im Maul, als er wieder reinkam." - "Ich finde Horwitzens Version auch glaubwürdiger." - "Erzählen Sie, Herr Schade."

"Er und Hontheimer gehn schon mal raus auf'n Hof, Luft schnappen, auf einmal hört er ein Geräusch, so ein Klacken. Er spürt einen Schlag am Bein und wie er hinfaßt, ist alles ganz naß. Ein großes Gefäß zerfetzt. Sein Bursche eilt herbei. Sie kennen ihn, sein' Burschi. Kramuschke hebt ihn auf und trägt ihn rein."

"Und Hontheimer?"

"Also, wenn Sie mich fragen, der Täter stand schon draußen. Sie kommen raus, Hontheimer hört den Schuß, sieht Horwitz fallen, und versteckt sich im Schafstall. Der Täter läuft hinterher und erschießt ihn von hinten."

"Das wäre dann das Geballer, das der junge Jordan gehört hat." - "Dann war Hontheimer aber bewaffnet." - "Warum nicht?"

"Dann war es so: Hontheimer schießt auf Horwitz und versteckt sich dann im Schafstall, um einen Überfall vorzutäuschen. Kramuschke läuft raus, nachdem er Horwitz gerettet hat, erschießt Hontheimer und zündet die ganze Bude an."

"Natürlich muß die Sache geheim bleiben." - "Wer gibt schon gerne zu, daß sein bester Freund auf ihn geschossen hat?" - "Mir wär' das nicht peinlich."

"Also, ich glaube, es war war ein Attentat. Jemand wollte Horwitz bestrafen." - "Und wofür bitte?" - "Weil er im Bundestag sitzt." - "Quatsch." - "Für manche Leute ist das Verrat." - "?" - "An der nationalsozialistischen Sache." - "An der was?" - "Er war in der SS, er war Offizier, die Herren von Horwitz sind seit Generationen Nazis ... Und so einer mischt mit in Bonn als Mitglied einer demokratischen Partei in einem gewählten Parlament. Für manche Leut ist das Verrat." - "Das glaub' ich nicht." - "Herr Klebe, es ist so. Es ist ein Verrat an der nationalsozialistischen Sache. Sie waren die entscheidenden Jahre nicht da. Sie sind erst seit zwei, drei Jahren wieder hier. Ich war hier, ich weiß Bescheid, er auch, Sie nicht."

"Ein Attentat?" - "Ein versuchter Fememord." - "Dann sollte der Mann besser aufpassen." - "Sagen Sie ihm das mal." - "Wissen Sie was, Fahrensohn? Ich glaub' Ihnen kein Wort. Eher glaub' ich an Herrn Schades Eifersuchtsdrama." - "Können glauben, was Sie wollen, Herr Klebe, aber geben Sie acht, was Sie sagen."

Nächste Woche: "Eine der letzten Bastionen des Adels"