Radio Days

Das Mysterium vom idealen Hörer

Im Konzept Gegenöffentlichkeit soll lediglich der herrschende Diskurs links umgeschrieben werden.

Fühlen Sie sich einsam, abgetrennt von anderen? Kein Problem, zumindest kein technisches, denn es gibt ja den Rundfunk. Seit jeher sollte Freies Radio Verbindungen zu einer anderen Praxis herstellen. Botschaften sollten wie kommunikative Funken auf die Menschen überspringen und mobilisierende Flächenbrände auslösen. Rette sich, wer kann ... Das Leben?

Der Traum vom "denkbar großartigsten Kommunikationsapparat" (Brecht) wird seit sechs Jahrzehnten immer wieder neu geträumt. Radio soll die Zuhörer nicht isolieren, sondern selbst zu Sprechenden machen. Konkret gesagt: um Sender zu werden, braucht man kein Kapital, sondern nur einen Lötkolben und ein wenig Bastelei.

Jean Baudrillard räumte mit derlei Optimismus radikal auf. Medien stellen gerade das Gegenteil von Kommunikation dar und können daher auch nicht "befreit" oder "emanzipiert" werden. Jedes Medium verbietet dem Empfänger eine Antwort, ja noch perfider, die Situation erzeugt in ihrer Abstraktheit gerade die Simulation eines Austauschs. Das Leben? Wir haben es mit einer sozialen Form zu tun, die in ihrer Abstraktheit an die Warenform erinnert. Dem sinnlich Unsinnlichen der Ware entspricht in gewisser Weise der Moderator, der in seiner aufdringlichen Sinnlichkeit uns angeblich persönlich gegenübertritt (und segensreich von unserer Entfremdung erlöst) - die Situation bleibt dennoch unsinnlich, abstrakt.

Brecht war übrigens nicht der einzige, der die Idee mit der Überwindung individueller Entfremdung mittels Radio hatte. Richard Kolb, Zeitgenosse Brechts, unter Goebbels Intendant, träumte Ähnliches, wobei es ihm nicht um Kommunikation, sondern um das Individuum geht, das durch die Moderne zunehmend atomisiert und fragmentiert wird. Gerade in der Unabhängigkeit der Radiostimme von einem Standpunkt, in ihrem mystischen Ausschweifen sah er das Potential zum sinnstiftenden Dichterwort, das uns wieder

mit dem abgetrennten Ursprung kurzschließen könnte.

Die Modernität des Antimodernisten Kolb ist bemerkenswert: Die "individuale Wirkung des Funks" wird nicht "von außen an den Hörer herangetragen" (etwa propagandistisch), sondern "geht aus seiner eigenen inneren Vorstellungswelt" hervor. Nach Kolb beseitigen die Individuen unter der "geistigen Führerschaft" des Radioklangs ihre Entfremdung vom Sozialen. Ein Modell zur Kontrolle sozialer Gruppen: Wer zuhört, hört mit den anderen mit. Der Medientheoretiker Marshall McLuhan wird etwas später nicht umsonst vom Radio als "Stammestrommel" sprechen.

Ein Freies Radio hat es also nicht leicht. Austausch zwischen Sender und Empfänger wäre pure Simulation; zugleich versieht der Rundfunk in seiner Räume überwindenden Gewalt jedes noch so isolierte Individuum mit Anschlüssen an die Gesellschaft. Ist Freies Radio politischer Unfug? Nein: Geboten wird ein großer Spielraum für produktive Prozesse, trotz eines meist sehr festgelegten Programmschemas. Und dort liegen vielleicht die Fluchtlinien für Verbindungen mit anderen Orten/Kontexten. Freie Radios sollten einen Begriff von Produktivität (nicht: "Arbeit"!) entwickeln und erproben, der das Potential zu solchen Verbindungen hat. Dieser stünde aber im Widerspruch zu einer traditionell pädagogischen Variante der Gegenöffentlichkeit.

Jene begnügt sich mit Korrekturen der bürgerlichen Öffentlichkeit, träumt von den Massen und will aufklärerisch wirken. Die Betroffenen sollen zwar ungefiltert sprechen, aber Hörbarkeit gilt weiterhin als Standard und "schlechte" Ausdrucksweisen werden Gegenstand pädagogischer Sorge. Sprache und Studiotechnik sollen als Werkzeuge "gebraucht" werden, Effekte wie Stottern, Schweigen oder das manipulative Potential der Geräte werden als "Fehler" geächtet. Mit dem Rüstzeug des Journalismus erfolgt der Griff nach den herrschenden Diskursen. Diese sollen nach "links" umgeschrieben werden - aber gegen den hegemonialen Charakter solcher Diskurse weiß niemand etwas einzuwenden. Doch die Aussicht auf die Massen verdirbt auch die Inhalte, weil sie sich nicht an der Sache verausgabt, sondern an dem Mysterium des "idealen Hörers". Hör-Erwartungen werden geprüft - Motto: die HörerInnen da abholen, wo sie stehen; nur wo? - und die damit verbundene ästhetische wie inhaltliche Normalisierung geleugnet.

Mit dieser Idealisierung der HörerInnen wird das Potential für kritische Anschlüsse zerstört. Entsprechend Anklang findet diese Variante mittlerweile bei Gewerkschaften und Landesmedienanstalten. Die AnhängerInnen einer pädagogischen Gegenöffentlichkeit können sich der amtlichen Unterstützung ihrer Workshops weitgehend gewiß sein.

In den Pionierzeiten der Achtziger war der Wunsch, Sender zu werden noch, mit dem Glauben an ein politisches Experiment verbunden. Der nichtkommerzielle Rundfunk gilt heute als etabliert, nicht zuletzt dank der Mühe um einen ordentlichen Journalismus. Botschaften ergehen, wenn überhaupt, nur noch an subkulturelle Teilöffentlichkeiten und drohen inhaltlich wie sozial in einem geschlossenen System zu versanden. Der Magazinstil fast aller Sendungen, die Beliebigkeit aus Musik und Wort, vor der uns zuweilen das Geplaudere des Moderators ablenken soll, ist Ausdruck einer Hilflosigkeit, die aber nicht als Krise daherkommt. Die Tendenz geht eher in eine Ausweitung und Professionalisierung solcher Formen.

Produktivität wäre etwas anderes: Das Potential zu kollektiver Verkettung und subversiven Prozessen sowie zu kritischer Reflektion liegt gerade im irritierenden und unkontrollierbaren Moment, das jedem produktiven Akt innewohnt. Die Arbeit am Material ist niemals "richtig", sondern prinzipiell manipulativ. Sprache und Apparate müßten nicht als Werkzeuge "genutzt", sondern in ihrem entgrenzenden und differentiellen Potential erprobt werden (und umgekehrt uns erproben). Ein solches Experimentieren (anstelle pädagogisiertem Interpretieren) steht einem Kräftefeld "linker" Praxis und der Formulierung von Kritik wesentlich näher als eine hegemonial gedachte Gegenöffentlichkeit.