Durch Fajer, Blut un Menschenhass

Ein Ausstellungskatalog dokumentiert die Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung

1892 fand in Wilna die erste Kundgebung zum 1. Mai statt. Die Reden, die von zwei Arbeiterinnen und zwei Arbeitern vorgetragen wurden, erschienen bald darauf und gingen als die "Vier Reden jüdischer Arbeiter" in die Geschichte ein; ein Gründungsdokument der Arbeiterbewegung in Rußland, das weit über die jüdische Bevölkerung hinaus wirkte.

Einundfünzig Jahre später - der Aufstand im Warschauer Ghetto hatte wenige Wochen zuvor, am 19. April 1943, begonnen - organisierte die jüdische Kampforganisation des Wilnaer Ghettos eine illegale 1.Mai-Feier. "Wir versammelten uns heimlich im Café in der Schaulener Straße Nr. 6. Teilnehmer waren Mitglieder der illegalen Partisanenorganisationen, Jugendliche und Kinder. Alle trugen weiße Hemden und Blusen und hatten sich rote Bänder angesteckt. Der Saal war mit Grün und Blumen geschmückt. Die zur Zwangsarbeit eingesetzten Jugendlichen hatten sie an den Wachen, die sie am Tor durchsuchten, vorbeigeschmuggelt und heimlich ins Ghetto gebracht. Der Duft des frischen Grüns erinnerte die Gefangenen des Ghettos an die Freiheit", schreibt dazu Abraham Sutzkever im "Schwarzbuch" über den Völkermord an den sowjetischen Juden. Wenig später sollte das Ghetto liquidiert werden, und damit auch die Tradition der jüdischen Arbeiterbewegung in Wilna, dem "Jerusalem Litauens".

Der Katalog "Arbeiter und Revolutionäre - die jüdische Arbeiterbewegung" ist als Begleitband zu einer Ausstellung des Beth Hatefutsoth-Museums in Tel Aviv erschienen. Mit zahlreichen Fotografien werden die Lebensbedingungen und Aktivitäten jüdischer Arbeiterinnen und Arbeiter dokumentiert.

Einen Schwerpunkt des Bandes bildet die Darstellung der jüdischen Arbeiterbewegung in Osteuropa, wo in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erste revolutionär-sozialistische Gruppen entstanden, deren Mitglieder vor allem Juden waren. Nach ihrer Auffassung war das Judentum in erster Linie eine Religion, also "Opium fürs Volk"; sie propagierten die allgemeine Emanzipation der Arbeiter, die auch den Antisemitismus beenden würde, den man als überkommene Ideologie ansah.

Aber schon die Pogromwelle von 1881/82 und die ausbleibende Solidarität der nichtjüdischen Linken, die im jüdischen Kapitalisten den Hauptfeind ausgemacht hatte, setzte den Hoffnungen auf Assimilation innerhalb einer allgemeinen revolutionären Bewegung ein Ende.

Es entstanden die vielfältigen Organisationen der jüdischen Arbeiterbewegung, deren größte gegen Ende des Jahrhunderts der Bund war, eine sozialrevolutionäre Partei, die sowohl den ökonomischen wie den politischen Interessenkampf führte. Die Entscheidung des Bundes, sich an der Gründung der Sozialdemokratischen Partei Rußlands zu beteiligen, ermöglichte erst deren Gründung.

Obwohl es noch eine deutliche Abgrenzung gegenüber dem Zionismus gab, der als bürgerliche Ideologie begriffen wurde, entwickelten sich in der Auseinandersetzung mit dem in allen Klassen verbreiteten Antisemitismus linksnationalistische und autonomistische Strömungen. So verurteilte z.B. der Bund den Zionismus und bestand zugleich auf einer jüdischen Autonomie in einem nachrevolutionären Rußland.

Als es in Folge der Revolution von 1905 zwei Jahre lang zu brutalen Pogromen kam, erstarkte der Zionismus; in diesen Jahren beteiligten sich allerdings auch nichtjüdische Gewerkschafter und Sozialisten an der Selbstverteidigung gegen die Pogrome. Die Hoffnung schwand, daß nach dem Scheitern der jüdischen Emanzipation in der bürgerlichen Gesellschaft diese innerhalb einer sozialistischen gelingen könne.

Mit dem Entstehen der sozialistisch-zionistischen Bewegung in Osteuropa am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verbanden viele Aktivisten die Idee eines Neubeginns, unbelastet von den Leiden der Vergangenheit, romantische Vorstellungen von einer homogenen Nation spielten dabei eine Rolle.

Die Fotos belegen diesen politischen Wandel auf ihre Art: Die Aufnahmen von Streiks und Demonstrationen werden nach 1905 abgelöst durch die Bilder von Beerdigungen und Trauerkundgebungen für die Opfer der Pogrome. Allerdings erläutern die Texte im Katalog diesen Zusammenhang kaum. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Vorreiterrolle, die große Teile der jüdisch-sozialistischen Bewegung für die Gründung des Staates Israel hatte - trotz und zum Teil auch wegen ihrer heftigen Abwehr gegen den Zionismus. Die Bilder vermitteln jedoch eher den Eindruck einer gescheiterten Hoffnung; vor dem Hintergrund des Holocaust wirken sie wie Schtetl-Impressionen einer vernichteten Kultur, allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, daß das Elend hier nicht verklärt wird.

In einer Rezension war zu lesen, daß diese Bilder sich von anderen der Zeit oft nur durch die Plakate und Transparente mit hebräischen Schriftzeichen unterscheiden, und der flüchtige Blick in den Katalog scheint dies zu bestätigen. Etwas anderes fällt jedoch vor allem auf: Auf fast allen Bildern aus Osteuropa, auch auf denen, die Parteivorstände oder Selbstverteidigungsgruppen zeigen, sind relativ viele Frauen zu sehen. Dies ist vielleicht der wichtigere Unterschied, wenn man schon Vergleiche anstellen will.

Das Foto einer Arbeiterin allerdings, die 1910 in Chicago von der Polizei verhaftet wird, ist mit der Bildunterschrift "Streikende Arbeiter bei ihrer Verhaftung durch die Polizei" versehen - selbst dort, wo es explizit um Frauen geht, wird konsequent von "Arbeitern" gesprochen.

Der Anteil der Frauen wird an keiner Stelle thematisiert, obwohl dies wahrscheinlich den wesentlichen Unterschied zu den nichtjüdischen Bewegungen ausmacht. Dies deckt sich u.a. auch mit Ingrid Strobls Forschungsergebnissen zur Herkunft der Frauen aus dem jüdischen Widerstand im deutsch besetzten Europa.

Die Beziehungen zur nichtjüdischen Arbeiterbewegung werden ebenfalls kaum thematisiert, wie überhaupt die Bedingungen und Beweggründe und Widersprüche innerhalb der verschiedenen Organisationen kaum analysiert werden. So wird die politische Entwicklung auch nicht erläutert, mit der Konsequenz, daß politische Kursänderungen nicht nachvollziehbar werden.

Dieses Manko des Katalogs verweist auf einen generellen Schwachpunkt der Geschichtsschreibung der nichtjüdischen Arbeiterbewegungen, die den Anteil der jüdischen Sozialistinnen und Sozialisten oftmals mit Blick auf den Antisemitismus der Massen, die sie mobilisieren wollten, verharmlosten oder verschwiegen.

So muß der Ausstellungskatalog erst darüber informieren, daß es eine jüdische Arbeiterbewegung nennenswerten Ausmaßes überhaupt gegeben hat. Die Bilder der Massendemonstrationen machen dies deutlich, und auch vereinzelte Zahlen über die Mitgliederstärke der Organisationen vermitteln einen Eindruck davon, daß in der Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung die jüdischen Organisationen nicht einfach nur übersehen wurden.

Beth Hatefutsoth, The Nahum Goldmann Museum of the Jewish Diaspora / Museum der Arbeit (Hg.): Arbeiter und Revolutionäre. Die jüdische Arbeiterbewegung. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1998, 140 S., DM 48