Gesellschaftskritik statt Minderheitenschutz

Dürfen Schwule als Schwule und Lesben als Lesben jetzt nur noch Realpolitik machen? Zur Kritik von Alfred Schoberts Normalisierung der Normalität.

Das kommt immer an, wenn einer sich mit großer Geste gegen die marxistische Sauertöpfigkeit ins Zeug schmeißt und gegen die graue Theorie das bunte Leben setzt, das nun einmal "widersprechende empirische Befunde" (Alfred Schobert in Jungle World, Nr. 27/98) liefert.

Wer diese Widersprüche vorsätzlich negiert oder auch nur Schoberts Empirie mißtraut, gehört dann zu denjenigen "Linken, die Kultur im Bahamas-Dreieck zwischen Wert, Geld und Fetisch verschwinden lassen". Mit dem zur Zeit so modischen "Ökonomismus"-Vorwurf versichert sich Schobert seiner Gemeinde, die nichts (mehr) von der Freudlosigkeit der Warenwelt hören will, und zeiht Eike Stedefeldt (vgl. Jungle World, Nr.26/98) und mich der "kulturtheoretischen Defizite".

Hinter diesem Vorwurf verbirgt sich jedoch nicht die Behauptung, ein Aufholen dieses Defizits hätte realitätstauglichere Resultate zur Folge, sondern die Absage an die Analyse der Wirklichkeit. Schobert schreibt: "Auf der einen Seite homosexuelle Akzeptanzgewinne und die Szeneetablierung und -normalisierung, erschreckenderweise - wie Stedefeldt materialreich beschreibt - zunehmend im Gleichschritt mit dem Rechtsruck der Gesamtgesellschaft; auf der anderen Seite ein gegen Ästhetisierung in Medien und Werbung Sturm laufender homophober Backlash in bestimmten Medien, ein erneutes Rabiatwerden traditionell homophober Kreise und die alltägliche Gewalt gegen Schwule und Lesben."

Dieses "Auf der einen Seite, auf der anderen Seite" beschreibt etwas, das nicht einmal "Zwei Seiten einer Medaille" genannt zu werden verdient. Die Befunde, die Schobert liefert, sind alles, nur nicht ganz oder "teilweise" widersprüchlich. Der Vorwurf, materialistische Kritik würde die Wirklichkeit in ihre Begriffe einsperren (und die "Kultur" verschwinden lassen), erweist sich hier einmal mehr als Projektion: Wenn etwas hermetisch ist, dann die Konstruktion des Wechselspiels von "flexiblem" und "Protonormalismus", aus dem es kein Entrinnen gibt, höchstens einen "kräftigen Schub" in die eine oder andere Richtung.

Diese Aussichtslosigkeit ist kennzeichnend für alles, was die geistige Produktion der Postmoderne hervorbringt. So vielfältig, bunt und diskursiv die Welt auch sein mag: Irgendwo schlägt sich doch nieder, daß die Auflösung der angeblich von der wertkritischen Linken konstruierten Totalität der Auflösung in eben diese gleichkommt, die man nicht begreifen, geschweige denn abschaffen will, sondern vor deren "Macht" man in vorauseilendem Gehorsam kapituliert. "Dies bedeutet politisch, daß es keine Opposition zu Macht gibt, die nicht selbst bereits Teil des Machtapparats wäre ...", zieht Judith Butler in ihrem Aufsatz "Für ein sorgfältiges Lesen" die realpolitische Konsequenz.

Die triste Wirklichkeit wird von Schobert diskursiv aufgeladen, damit wenigstens noch ein "kulturrevolutionärer Impuls (...), der sich mit den Einschränkungen des flexiblen Normalismus nicht zufrieden gibt", übrig bleibt. Hier outet sich der Postmoderne als ein ganz Moderner, der immer noch auf die Kraft einer normenbrechenden Praxis setzt. Doch einen "kulturrevolutionären Impuls" wird es in dieser Epoche genausowenig geben wie eine neue Avantgarde oder einen Theaterskandal. Schobert geht es darum, die empirische Besonderheit der Homosexualität aufrechtzuerhalten; dabei merkt er nicht, wie ausgelutscht das im Westen ist, wo der Mainstream andere als die heterosexuellen Kleinfamiliennormen schon längst integriert hat.

Da kommen die "Kampfbegriffe linker Kulturkonservativer" gerade richtig, die von Homoxexualität als "bürgerliche Entartung" sprechen; aufgrund seiner ökonomietheoretischen Defizite jedoch kann Schobert diese "Kampfbegriffe" nicht kritisieren, sondern nur umdrehen. Das Resultat ist also ein kulturalistischer Versuch, der Umarmung durch die "Dominanzkultur" zu entgehen - oder, wie ich formulieren würde: der totalen Vergesellschaftung Grenzen zu setzen - und damit die falsche Alternative Minderheitenschutz statt Gesellschaftskritik.

Entsprechend sind die Diskurse, die abwechselnd flexibel und repressiv sind, auch ahistorisch: Mal gings uns besser, mal gings uns schlechter. Die aktuelle Homophobie kann Schobert nur als "backlash" erscheinen, als die Kehrseite der erfolgreichen Integration, der durch den "Protonormalismus" eines Jörg Schönbohm ohnehin enge Grenzen gesetzt seien. So erfülle der CSD "gerade massenmedial" seinen "Zweck beim Halten der Stellung gegen den Umschlag zum Protonormalismus". Diese Stellungskriegmetapher, mit der zum Beispiel 1968 der "Marsch durch die Institutionen" gerechtfertigt wurde, hat die Funktion, Gemeinsamkeit zu stiften und Kritik zu unterdrücken. Diese Gemeinsamkeit dürfte es auch gewesen sein, die das Asta-Schwulenreferat der Berliner FU dazu bewogen hat, wegen des Marsches durchs Brandenburger Tor keinen großen Streit anzufangen, sondern ihn mit den Worten "Was solls" ganz flexibel zu normalisieren.

Wen interessiert denn heute noch der "Rechtsruck der Gesellschaft", wenn man doch für die staatliche Kontrolle über alle möglichen Lebensgemeinschaften (ohne steuerliche Nachteile selbstverständlich) demonstrieren darf? Spätestens hier müßte selbst ein Foucault-Fan mißtrauisch werden.

Daß diese Forderungen sich nicht nur an der gesellschaftlichen Entwicklung orientieren, sondern selbst ihr Ausdruck sind, der sich im Marsch durchs Brandenburger Tor noch zwanghaft selbst die nationale Ikonographie liefert, soll nicht mehr bedacht werden. Der Konsens von Schobert bis zum Schwulenreferat, daß Schwule eben schwul und nicht links seien, schlägt auf die linken Schwulen in dem Sinne durch, daß auch sie nun in erster Linie schwul zu sein haben.

Die Kritik am Immergleichen wird "rituell" geschimpft, als wäre das Unerträgliche dadurch gerechtfertigt, daß es sich wiederholt. Dieses Argument wird von anderen übrigens gern anläßlich von Jahrestagen wiederholt, an die die Deutschen nicht so gern erinnert werden. Daß die Kritik am nationalen Konsens langweilig sei, kann nur finden, wem dieser Konsens kein Problem mehr ist.

Schobert fragt statt dessen nach dem "Maßstab", an dem Schwule und Lesben von mir gemessen werden. Diese rhetorische Frage verrät den Anspruch des Autors, der gegen jede radikale Gesellschaftskritik den Verdacht hegt, überhaupt Maßstäbe zu haben: Emanzipation heißt für ihn nicht Befreiung, sondern das "Recht darauf (...), genauso anpaßlerisch, kompromißbereit, korrumpierbar" usw. zu sein wie alle anderen auch. Daß Schwule und Lesben empirisch das sind, was Schobert ihnen als "Recht" zubilligen will, ist nur ein Merkmal seiner merkwürdigen Empirie, die nichts kann als wahrgenommene Erscheinungen zu affirmieren.

Schoberts Anspruch, ausgerechnet im kulturellen Einheitsbrei Widersprüchliches erkennen zu wollen, führt hingegen vor, daß die Anbiederung, anders als von ihm behauptet, keine Grenzen hat. Weil Schwule als Schwule und Lesben als Lesben nicht links sind, so Schoberts Tautologie, brauchen sie es auch nicht zu sein.

Aber einmal angenommen, die Welt des Warentauschs wäre nicht so bunt und widersprüchlich; die aktuelle Homophobie stünde nicht im Widerspruch zu der kulturindustriellen Verwertung der familiär ungebundenen Yuppies, als die die Medien Schwule und Lesben präsentieren, sondern das eine wäre Ausdruck des anderen und umgekehrt; ausgerechnet jener marktgerechte Zuschnitt in den Medien wäre Ausdruck des latenten und bediente das handgreifliche Ressentiment; die Praxis der Taliban in Afghanistan, Schwule lebendig zu begraben, wäre nicht Symptom eines "backlash", eines Zurückschlagens reaktionärer Tradition, sondern eine Konsequenz des weltweiten Sieges der freien Marktwirtschaft - kurz: Einmal angenommen, Homophobie (und Rassismus, Antisemitismus, Sexismus) hätte mit der Konstitution des Subjekts im Kapitalismus zu tun, man könnte auf die Idee kommen, Schobert betriebe Augenwischerei.

Der Schwulenhaß der für den Markt Befreiten wäre dann nämlich nicht mehr hinlänglich rationalisierbar, weder als "backlash" noch als Mittel zum Zweck der sexuellen Disziplinierung wie in der Frühphase des Kapitalismus, im Gegenteil: "Er ist hier wie dort Ausdruck vollendeter Sinnlosigkeit; die Subjekte versichern sich ihrer Einmaligkeit über die Zugehörigkeit zum völkischen Kollektiv. Die frei flottierende Homophobie sichert ihren Vollstreckern jene Gleichheit, die ihnen der Weltmarkt nicht bietet, weil er sie abgeschrieben hat." (Uli Krug/Tjark Kunstreich: "Dekonstruktion heißt Domestizierung. Judith Butlers Staatsbürgerkunde für die queer nation", in: Bahamas, Nr. 26)

Die "Subjektivierung (im doppelten Sinne von Subjektwerdung und Unterwerfung)" funktionierte nicht, wie Schobert nahelegt, diskursiv, sondern bewegte sich im Teufelskreis der Warensubjektivität zwischen der Anforderung, die Norm zu erfüllen, und der Unmöglichkeit dieses Unterfangens.

Indem Schobert die materialistische Kritik verwirft, verwirft er ebenso wie die historische Linke ein brauchbares Sensorium für gesellschaftliche Entwicklungen. Daß das Scheitern aller bisherigen Emanzipationsbestrebungen tatsächlich etwas mit dem "Bahamas-Dreieck von Wert, Geld und Fetisch" zu tun hat, mag keine beruhigende Erkenntnis sein, einigen gar eine narzißtische Kränkung. Die Weigerung, dieses Dreieck überhaupt wahrzunehmen, bedeutet jedoch, die eigene Wehrlosigkeit vorauseilend zu akzeptieren, statt kalten Blutes das Dilemma zu analysieren.

Anstatt auf "transnormalistische Explorationen" zu vertrauen, täten Schwule als Schwule und Lesben als Lesben schon um ihrer Sicherheit willen gut daran, links auch im Sinne von antikapitalistisch zu sein. Das heißt, ein Bewußtsein darüber zu entwickeln, daß die Homophobie - und der Selbsthaß, der sich im Marsch durchs Brandenburger Tor eben auch ausdrückt - zwar nicht mit dem Kapitalismus entstanden ist, aber zu ihm gehört wie die Volksgemeinschaft zur deutschen Nation. Allein schon, um im Falle eines Falles die Koffer packen zu können.