Kubricks Bild-Viren

Paint It Black. Zum siebzigsten Geburtstag eines Mannes, der cool bleibt, wo andere Bedeutung fixieren.

Vor gut vierzig Jahren kommandierte die Landeshauptstadt München für die US-Produktion "Wege zum Ruhm" 600 bayerische Polizisten ab. Der Regisseur war erst 29 Jahre alt: Stanley Kubrick. Seitdem teilen sich die Deutschen mit dem Amerikaner den Ruhm, schon 1957 einen Antikriegsfilm gemacht zu haben. "Der in Deutschland gedrehte Film gilt als einer der besten Antikriegsfilme überhaupt", behauptet das gern zitierte "Lexikon des Internationalen Films". Eine Unverschämtheit, mit der zum 70. Geburtstag Kubricks endlich Schluß sein sollte.

In München oder wo auch immer versprach man sich von Kubricks Film Entlastung für die Nazikriegsverbrecher, war doch mit Hilfe der bayerischen Beamten mitten in der Adenauerzeit ein Kriegsverbrecher der Besatzungsmacht Frankreich auf die Leinwand gebracht. Ja, der Erbfeind Frankreich ließ im Ersten Weltkrieg drei unschuldige französische Soldaten erschießen, um dadurch die Kampfmoral der Truppe zu stärken. Das war die Botschaft, die in Westdeutschland hochwillkommen war. Danke, Stanley. Doch dieser hatte weder eine solche Botschaft noch überhaupt eine andere im Sinn: "Der Film vermittelt keine Botschaft - weder für noch gegen die Armee, höchstens gegen einen Krieg, der Menschen in Gewissenskonflikte bringt."

Zwei Jahre später fand er es aus eben diesem Grunde nicht o.k., daß die Arbeitskollegen aus Hollywood in der McCarthy-Ära Fragen nach ihren unamerican activities zu beantworten hatten. Als einer der Hollywood Ten stand Dalton Trumbo noch 1959 auf der Schwarzen Liste. Kubrick verschaffte ihm wieder einen Platz in den Credits: als Drehbuchautor für den legendären "Spartacus"-Film. Dreißig Jahre lang wurde an diesem großen Werk herumgeschnippelt, gekürzt, zensiert - es war nicht totzukriegen. Die Universal gab sich zum 75. Firmenjubiläum einen Ruck. 1992 konnte wieder in voller Länge (197 Minuten) besichtigt werden, was das eigentlich war, was den Film nicht veralten, sondern auf sehr erstaunliche Weise für immer jung aussehen ließ.

Das Geheimnis: ein kühler, nüchterner Grundton. Es wird keine Botschaft oktroyiert. Der Blick des Rezipienten ist legitim, er wird Bestandteil des Films. Und trifft sich dort, im Werk, mit dem des Autors. Wenn das erste Gladiatorenpaar fightet, sehen wir den Kampf lediglich aus der Perspektive des wartenden Spartacus (Kirk Douglas), und wenn wir - in der komplettierten Fassung - dem Patrizierführer Crassus (Laurence Olivier) zuhören, dann aus der Perspektive des Sklaven, der sich sexuell entscheiden muß (Gewissenskonflikt!): Der Römer verdeutlicht seine sexuellen Präferenzen mit der Geschichte von der Schlange und der Auster (was 1961 in den USA klarer Zensurfall war).

Aber ob nun der Patrizier- oder der Volksführer (Charles Laughton) die historische Gesetzmäßigkeit auf seiner Seite hat, genau das erfahren wir nicht. "Killer's Kiss" (1959), "Lolita" (1962), "Dr. Seltsam, oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben": Das, was wir hier später "Betroffenheit" nannten, es stellt sich nicht ein.

"Dr. Seltsam" ist zwar nicht in München gedreht, sondern wie die Kubrick-Filme nach "Spartacus" in England. Trotzdem interessiert bei uns wieder ärgerlich auffällig, daß der Filmheld Dr. Seltsam ein Deutscher mit Naziattributen ist, der nunmehr in voller Kontinuität seine Nazikarriere im innersten Zirkel der amerikanischen Führungselite fortsetzt: "Jawohl, mein Führer, sorry, Mister President". Die Kontinuität der Nazikarrieren war unverdächtig legitimiert: durch die USA. Wieder ein Rezeptionsdesaster: deutsch und hausgemacht. Seit "Dr. Seltsam" haben wir gelernt, in den Kubrick-Filmen zwischen Entsetzen und Gelächter zu pendeln.

Wir werden nur allzu leicht düpiert. Die wahren Sprüche der John-Birch-Society kommen als komische Nummer, und das liegt an uns, weil wir sie uns zu nah kommen lassen. Die Filmsequenzen, gerade, weil sie nicht explizit moralisch/politisch determiniert sind, machen es sich in unseren Schutzzonen der Alltagsroutine bequem. Wir nehmen sie allzu bereitwillig in unseren individuellen Kontext auf. Schnief, und keiner sagt uns, wann wir betroffen sein sollen. Und dann passiert's: Wird ein B 52-Bomber des Strategischen Luftkommandos im Flug aufgetankt, zum schönen langsamen Walzer, dann geht uns bei "Try a Little Tenderness" das Herz auf, Atombomben-Erotik im Innersten des Gemüts.

Das mit der Todeserotik habe ich gesagt. Niemals würde Kubrick explizit werden. Er bringt die Zuschauer zum Reden, heute noch. Denn seine Bilder schweigen. Jubilar Kubrick, der nach zehn Jahren Pause derzeit "Eyes Wide Shut", eine Schnitzler-Adaption dreht, ist Held der poststrukturalistischen Medienästhetik. "Stanley Kubrick - Das Schweigen der Bilder" nennt sich das Buch von Kay Kirchmann 1993. Kubrick wird darin zum Flaubert des Films erhoben, zum Vorsteher eines geschlossenen Werks, zum ästhetischen Revolutionär.

In Frankreich rühmt Sandro Bernardi ein Jahr später dagegen, daß Kubrick Blicke produziere, nämlich die des Rezipienten, der gar nicht anders könne, als sich einen Vers auf das zu machen, was ihm mit Walzerklängen oder sonstiger Erotik hautnah komme: "Der Ästhetische Blick oder die Sichtbarkeit nach Kubrick" oder, wie die Cineasten sagen, "Le Regard esthétique ou la visibilité selon Kubrick". Aber bitte nicht gleich nachlesen, sondern erstmal Bilder gucken. "2001: Odyssee im Weltraum" (1965-68): die Menschheitsgeschichte beginnt mit einem Walzer und endet mit einer (Wieder-?)Geburt.

Den Film kennen alle auswendig, weil das, was wir sehen, unsere eigene Angelegenheit war. Auch, weil Bilder dann Sinn machen, wenn die Worte nichts zu sagen vermögen. Auch nach heftigster Lektüre von Kirchmann und Bernardi wären wir, gerade dann nicht, im Film heimisch geworden. Obwohl, zugegeben, in einem Film wie "A Clockwork Orange" (1970/71) der Schutz durch eine moralische Instanz, die die Bedeutung der Bilder fixiert hätte, bequem gewesen wäre. Niemand sagt uns, was gut und was böse ist, der kriminelle 15jährige oder der total therapierende Staat. Die Bilder wollen nichts beweisen, sie wollen nichts transportieren, sie wollen, daß wir sie so in unsere Blick-, Lebens-, Walzer-, Erotik-Welt aufnehmen, wie sie sind.

Kubricks Bild-Viren gehören jetzt zu mir, es sind meine. Ich finde, zum 70. Geburtstag darf man pathetisch werden. Klar, daß man "Clockwork" auch in einen anderen Kontext aufnehmen kann. Dann haben wir ein Pop-Event, das "Clockwork Orange" heißt und von der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz inszeniert ist. Die Besucher, die etwa so alt wie der Held sind, laufen aus dem Saal raus und rein, weil das Bier immer alle ist, während der 15jährige, der jetzt 30 ist, stundenlang mit einem Arm unter dem Bühnenhimmel hängt, freier Fall 15 Meter, schätze ich, ob er runtergefallen ist, weiß ich nicht, ich habe nicht immer hingesehen. Letzter Stand muß sowieso sein: "Clockwork Orange" lebt.

Ich weiß nicht, ob Sie sich nicht auch einmal gewundert haben, wie perfekt wir das Umschalten geübt haben: das mehr oder weniger bewußte Rezeptions-Zapping von politischer Aussage hier, Pop-Mainstream dort, Biertrinken drüben, ins Bett hinterher, und Lifestyle ist Lifestyle.

1987 hat Stanley Kubrick im "Full Metal Jacket" diese Inszenierungsmodelle so nah zusammengebracht, daß eine Art Kurzschluß entsteht. "Ich glaube, Vietnam ist für uns der Ersatz für eine glückliche Kindheit", hatte Kubricks Coautor Michael Heer bekannt.

Und so sieht böser Vietnam-Pop aus: Zu "Goodbye My Sweetheart" wird den Marines die Glatze geschoren. Den ersten Vietnam-Tag verbringen sie in einem netten Café; Nancy Sinatra ist dabei, jedenfalls musikalisch: "These Boots Are Made For Walking" - sollen wir nun lachen, oder was? Kubrick bleibt total cool. Die Ausbilderschikanen sind menschenfeindlich. Sagt denn keiner was? Doch, die Rekruten selbst erheben ihre Stimme. Sie begehren jedoch nicht auf, sondern machen mit: 1987 schon gab es bei Kubrick Military-Rap. Die eine Hand am Sack, die andere am Gewehr, marschieren sie durch den Schlafsaal und rappen: "Ich will / keine / kleinen /Mädchen mehr / alles was / ich will / ist / mein Gewehr". Ja, das ist affirmativ und Mainstream, und manch einer ist schon in die Strömung hinein- und darin umgekommen. Ob er nun "Full Metal Jacket" gesehen hat oder nicht. Übersetzt hieße der Film "Stahlmantelgeschoß". Das ist ein sehr schöner Name für die Kraft, mit der die merkwürdige Trennung von Rezeptionsweisen und Lebensgewohnheiten durchschlagen wird.

Bei uns braucht es dafür einen Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, um im erweiterten Modell des ethnomethodologischen Krisenexperiments Soziologen, Polit-, Medien-, Film- und Theaterwissenschaftler zusammenzubringen.

Um zu kapieren, daß das friedliche Nebeneinander von Kriegsgreuel und Rolling Stones fromme Selbsttäuschung und übler Betrug ist, macht man am besten eine Bild- und Musik-Erfahrung: In der Schlußsequenz von "Full Metal Jacket" fleht eine gräßlich zugerichtete vietnamesische Soldatin um einen Gnadenschuß. Endlos lang sieht man ihr verstümmeltes Gesicht in Großaufnahme. Dann ist der Zuschauer soweit. Tu's doch, lieber Marine. Er tut es.

Daß danach der Soldatin noch der Kopf abgehackt wird, mit dem Fluch "Ruhe in Stücken, du Mistvieh", wird uns erspart. Statt dessen wird die Leinwand schwarz, und die Stones singen sehr passend "Paint It Black".