Oonaagagnééé!

Nach dem WM-Sieg feiert sich in Frankreich der gallische Multikulturalismus

Frankreich ist zum ersten Mal in seiner Geschichte Fußball-Weltmeister geworden. Während kurze Zeit nach dem 3 : 0 die Champs ƒlysées überquollen von jubelnden Massen, konnte man einen Staatspräsidenten beobachten, der sich vor laufenden Fernsehkameras freute wie ein Kind und, nachdem er seine blau-weiß-rot geschminkten Mitarbeiterinnen im Elysee-Palast der Reihe nach geküßt hatte, einen farbenfrohen Anblick bot.

Jacques Chiracs ("Ich bin der glücklichste Mann der Welt") Beliebtheit scheint die große Fete gut bekommen zu sein, jedenfalls hat seine Popularitätskurve derzeit mit 70 Prozent Beliebtheit ihren historischen Höchstwert erreicht, während im anderen politischen Lager Premierminister Lionel Jospin (mit ähnlich positiven Umfragewerten) gleichfalls auf allen Wolken schwebt. Die Franzosen scheinen mit sich und der Welt versöhnt.

Das Stimmungshoch aber ist nicht nur aus dem fußballerischen Erfolg zu erklären, die Konjunkturlage und der damit verbundene leichte Rückgang der Arbeitslosigkeit in den letzten Monaten hat zweifelsohne viel dazu beigetragen. Der France Soir vergleicht den französischen WM-Sieg mit dem der westdeutschen Mannschaft von 1954, der es der jungen BRD erlaubt habe, nach ihren ökonomischen Erfolgen auch psychologisch "den Stolz wiederzufinden". Ähnlich habe das französische WM-Erlebnis den so gerne räsonierenden Franzosen gezeigt, daß ihr Land, "durch die Globalisierung traumatisiert und von rassistischen Krämpfen geschüttelt", auch zu gewinnen in der Lage sei.

La France qui gagne, das gewinnende Frankreich, zählte überhaupt zu den meistbemühten Figuren in Kommentaren und Leitartikeln in diesen Tagen. Doch nicht alle haben Gefallen am patriotischen Freudenfest. Der Schriftsteller Bernard Clavel, den France Soir in einem längeren Interview zu Wort kommen läßt, sagt der Nation die Meinung: "Das ist Chauvinismus. Die Leute, die für die trikolorefarbenen Spieler schreien. Das sind die Leute, die für absolut jeden Quatsch schreien. Vielleicht weil ein Typ auf einem Fahrrad schneller fährt als ein anderer. Diese Bierbäuche in Turnhosen, man sieht sie überall. Sie rufen On a gagné! ('Wir haben gewonnen!'), während sie selbst noch nicht einmal eine halbe Stunde Sport in ihrem Leben gemacht haben. Und darum habe ich die Schnauze voll, sie vom Vaterland reden zu hören, heute, wo Europa er-baut wird. Ich bin Weltbürger."

Einen sympathischeren Zug des französischen WM-Fiebers hervorzuheben, hat kaum ein Kommentator zwischen Ärmelkanal und Pyrenäen unterlassen: die Zusammensetzung der Bleus, der französischen Elf, belege die vollständige Zugehörigkeit der Immigrantenkinder zur französischen Gesellschaft, die breite Begeisterung für die Mannschaft beweise die Akzeptanz ihrer gelungenen Integration. Und wirklich entstammen acht von 14 französischen Teilnehmern des WM-Finales (Feld- und Auswechselspieler) aus Immigrantenfamilien oder Kolonialvölkern, sechs von ihnen sind nichteuropäischer Herkunft.

Es fehlt auch nicht der Hinweis auf die Bescheidenheit der französischen Spieler, die sich so sehr abheben von deutschen Fußballspielern. Nicht vergessen sind in Frankreich Beckenbauers Sätze nach dem letzten WM-Sieg der Deutschen: "Wir sind die Besten. Auch für die nächsten Jahre. Tut mir leid für den Rest der Welt." Die schwache Leistung der deutschen Elf könnte auch damit zu tun haben, gab etwa das konservative Wochenmagazin L'Express zu verstehen, daß "das anachronistische Blutsrecht (...) die Auswahl von Spielern mit türkisch, griechisch oder jugoslawisch klingenden Namen verhindert", da für die WM-Teilnahme ja der Besitz der Staatsbürgerschaft der Spielernation erforderlich sei.

Une France métissée qui gagne, ein "metissiertes" Frankreich, das gewinnt (das Wörterbuch gibt für métissage die deutschen Entsprechungen mit "Rassenmischung" und "Bastardisierung" an, während der französische Begriff keine negative Bedeutung hat), dies sei "ein sehr, sehr starkes Symbol", schließt L'Express.

Wenn die Grenzen auch etwas anders verlaufen als in Deutschland, so hat natürlich auch Frankreich seine Verteidiger einer "ethnisch reinen" Nation, verkörpert durch Jean-Marie Le Pen. Der Front National-Vorsitzende, eher auf politische Polarisierung denn auf einen flauen patriotischen Konsens aus, hatte im Juni 1996 die französische National-Elf öffentlich attackiert.

Mitten in die Europameisterschaft platzte er damals mit seiner Bemerkung, es erscheine ihm doch "künstlich, daß man Spieler" - die in Wirklichkeit alle französische Staatsbürger sind - "aus dem Ausland kommen läßt und sie dann französische Nationalmannschaft tauft". Er bedauere, daß die Nationalspieler "zum Großteil nicht die Nationalhymne singen oder sie offenkundig nicht beherrschen".

Die Kommentatoren ließen es sich daher auch nicht entgehen, Frankreichs WM-Sieg zugleich als Niederlage für Le Pen darzustellen. So die KP-Tageszeitung L'Humanité, die mit dem blau-weiß-rot gedruckten Freudentitel "Unglaublich!" aufmacht und auf den hinteren Seiten Le Pen karikiert, dem Zinedine Zidane einen Elfmeter ins Netz donnert. Für den France Soir ist "der Triumph der französischen Mannschaft auch der einer multikulturellen Nation", für die sozialliberal-patriotische Wochenzeitschrift Marianne "ein verlorenes Spiel für die Rassisten".

Le Pen selbst, der während der Dauer der WM geschwiegen hatte, meldete sich erst kurz nach dem Endspiel wieder zu Wort. Der Sieg der französischen WM sei "keine Niederlage des Front National", sondern: "Der medienträchtige Zusammenstoß der Fußballmannschaften hat einen gewissen Geruch von Zusammenstoß zwischen Nationen, von nationaler Mobilisierung. Und wer könnte sich mehr als wir darüber freuen?" Und - auf seine Äußerung bei der EM 1996 anspielend - schließlich hätten die Spieler dieses Mal die Marseillaise gesungen, "weil ich es von ihnen verlangt habe". Der FN werde aber "seinen Kampf gegen die métissage fortsetzen".

Die bürgerliche, in den republikanischen Traditionen Frankreichs stehende Rechte versucht sich unterdessen daran, auf der Welle der WM-Begeisterung eine Form des französischen Patriotismus zu befördern, die nicht von der immer gefährlicher werdenden rechtsextremen Konkurrenz vereinnahmt werden kann.

Das Signal gab am Morgen nach dem WM-Finale der Figaro-Chronist und Altgaullist Alain Peyrefitte, der die Nationalmannschaft mit einer "Mission" beauftragt sah, jener, der Welt zu zeigen, "daß Frankreich unter den Nationen jene ist, die das Ideal der Integration am weitesten vorangetrieben hat, weil sie sich immer stark genug fühlte". Und, damit keine Mißverständnisse entstehen: "Frankreich ist multirassisch, und es wird es bleiben. Das ist offensichtlich. Die Lehre daraus ist: In der französischen Nation kann man von überall herkommen, wenn man gemeinsam irgendwo hingeht."

Die Frage drängte sich auf, was aus solchen Erkenntnissen denn nun im Alltag folgt. Groß ist die Befürchtung, die das Wochenmagazin Politis in einer Karikatur formuliert: Nach dem Abzug der jubelnden Massen steht ein Immigrant, allein und in ärmlicher Straßenkehrerkluft, inmitten des großen Stadions und kehrt die Überreste der großen Fete auf dem Boden zusammen, darunter Spruchbänder mit Aufschriften wie "Vive la France métissée".

Die Rede des selbsternannten Königs der Fußballbegeisterten, Präsident Chirac, zum Nationalfeiertag am 14. Juli ließ daher Schlimmes befürchten. Ohne Umschweife erteilte er der Regierung, der die Kämpfe der Sans-papiers derzeit schwer zu schaffen machen, die Lektion: "Die Ausländer, die in illegaler Situation sind, müssen abgeschoben werden." Punkt, Basta. Sozialistensprecher Fran ç ois Hollande hinderte dies nicht daran, in Chiracs Rede eine versöhnliche Geste zu begrüßen, die der sozialistischen Regierung die Hand reiche und die Nation eine.

Einen Tag später verblüffte der Ex-Gaullist und frühere Innenminister Charles Pasqua, nach dem die repressiven Ausländergesetze von 1993 benannt sind, Linke wie Rechte, als er in einem Le Monde-Interview forderte: "Man kann aus dem aktuellen Konflikt nur herauskommen, wenn man alle Sans-papiers legalisiert, die es verlangen", also rund 70 000 Personen. Und weiter: "Die Haltung sowohl der Regierung als auch der höchsten Staatsautoritäten", eine Anspielung auf Chirac, "ist paradox: Sie versichern einerseits, daß Frankreich groß und stark sei, daß es fähig sei zu integrieren, und gleichzeitig zeigen sie sich unfähig, dieses Problem zu lösen. Wenn Frankreich stark ist, dann kann es auch großzügig sein."

Pasquas Vorstoß läßt sich als Versuch verstehen, nach seiner Trennung vom gaullistischen RPR und im Vorgriff auf seine Kampagne gegen den Amsterdamer Vertrag, die er zu den Europawahlen 1999 führen will, ein nicht-ethnisches Nationenverständnis zu befördern, das sich von der Nation eines Le Pen unterscheidet, um neben diesem einen eigenen politischen Platz behaupten zu können. Die Verteidiger der Sans-papiers werden es sich natürlich nicht entgehen lassen, Pasquas Vorlage auszunützen und sie in ein but gegen Innenminister Chevènement zu verwandeln.