Sekt statt Cash

Bis zu drei Viertel des Handels wird in Rußland in Naturalien abgewickelt

Für russische Verhältnisse war die Situation so normal, daß sie niemandem aufgefallen wäre, hätte der Fischhändler in Nischnij Nowgorod nicht einen Kredit bei der Europäischen Bank für Entwicklung und Wiederaufbau (EBEW) beantragt.

Als der zuständige Kreditberater der Bank die Bücher des Unternehmers prüfte, stieß er auf ein kleines Wunder an Kreativität: Der Fischhändler muß seinen Fisch in bar bezahlen. Unglücklicherweise ist sein größter Kunde das Gefängnis von Nischnij Nowgorod und wie fast alle öffentlichen Einrichtungen in Rußland ständig knapp bei Kasse.

Allerdings gibt es im Gefängnis eine Näherei, die Zeltplanen herstellt, um sie an die Firma Gas, Hersteller der berühmten ehemaligen Staatslimousine Wolga, zu liefern. Diese stellt als Gegenleistung dem Gefängnis ab und an einen ihrer Kleinlaster vor die Tür. Und der geht dann schnurstracks an den Fischhändler, der ihn für Bargeld verkaufen und damit seine Lieferanten bezahlen kann. Derartiger Einfallsreichtum ist bei Geschäftsbeziehungen eher die Regel als die Ausnahme. Denn Bargeld ist äußerst knapp in Rußland und meist nur auf Umwegen zu bekommen.

Die Politik der Bank ist daher äußerst pragmatisch. "Wie die Unternehmen an das Geld kommen, um ihre Raten zu bezahlen, ist uns ziemlich egal", sagt Christoph Fraytag, Kreditberater der EBEW, "solange wir feststellen, daß die Geschäfte auf einer festen Basis stehen und das Geld regelmäßig fließt." Das Geschäftsgebaren der EBEW ist dem russischen Staat jedoch ein Dorn im Auge. Denn was nicht in den Büchern steht, kann auch nicht durch eine der zahlreichen Steuern abgeschöpft werden, die den Steuersatz auf bis zu 60 Prozent treiben. Die russische Steuerbehörde schätzt, daß der Staat deshalb lediglich zehn bis 20 Prozent der Steuern eintreibt, die ihm zustehen.

Das Anti-Krisenprogramm, das Premierminister Kirijenko vor kurzem unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) vorgestellt hat und von Präsident Jelzin inzwischen in "Stabilisierungsprogramm" umbenannt wurde, sieht daher eine Steuer auf Tauschhandel, sogenannte Barter-Geschäfte, vor. Wie diese Steuer erhoben werden soll, steht allerdings nicht im Programm.

Für Julia Shvets, Wirtschaftswissenschaftlerin am Russisch-Europäischen Zentrum für Wirtschaftspolitik, ist der Gesetzesvorschlag lediglich eine Drohung: "Es ist ein Signal an die Unternehmen, daß es der Staat ernst meint mit der Absicht, mehr Steuern einzutreiben, aber solche Absichtserklärungen haben wir schon oft gehört." Das von der Europäischen Kommission in Brüssel bezahlte Forschungsinstitut hat in seinen Untersuchungen zwar festgestellt, daß die staatlichen Stellen durchaus versuchen, das Ausmaß der Barter-Geschäfte zu erfassen, allerdings ohne Konsequenzen daraus zu ziehen.

So gibt es seit einiger Zeit eine übergreifende Untersuchungskommission, die im Auftrag der staatlichen Konkursbehörde die 210 größten russischen Steuerschuldner unter die Lupe nimmt. Die Kommission kann Einblick in alle Geschäftsunterlagen der untersuchten Firmen nehmen und so auch feststellen, welcher Anteil des Umsatzes tatsächlich als Barter abgewickelt wurde.

Die Anteile, die die Kommission in einem internen Untersuchungsbericht gerade den größten Unternehmen zuschreiben, liegen zum Teil bei mehr als drei Vierteln des jeweiligen Umsatzes: So werden bei Gasprom, der größten Öl- und Gasfirma des Landes, nur zwölf Prozent der verkauften Ressourcen in bar bezahlt - der Rest in Naturalien.

Beim Energiemonopolisten Vereinigte Energiesysteme liegt der Anteil bei ebenfalls mageren 13 Prozent; die restlichen Gläubiger werden dafür zum Beispiel durch den Bau eines Verwaltungshochhauses entschädigt, wie kürzlich bei Komienergo in Syktywkar im Norden Rußlands geschehen. Ob dieses Haus auch tatsächlich gebraucht wird, ist dabei zweifelhaft.

Insgesamt begleichen 57 Prozent der untersuchten Unternehmen ihren Umsatz nur zu einem Fünftel oder weniger mit Bargeld; nur vier von 210 Firmen erhalten 90 bis 100 Prozent in Cash. Die Motive für diese Art von Geschäften sind vielfältig. Die Kassen öffentlicher Einrichtungen, wie Krankenhäuser oder Schulen, sind leer; ihnen bleibt nichts anderes übrig, als auf bargeldlose Zahlungen auszuweichen - was wie beim Fischhändler aus Nischnij Nowgorod meist in einer Kette von nahezu unüberschaubaren Tauschstationen endet.

So ist auch zu erklären, daß die Bergarbeiter, die zum Teil seit acht Monaten keine Gehälter bekommen haben, überhaupt überleben können: Die Lebensmittel, die sie in den Kantinen der Bergwerke erhalten und mit denen sie häufig auch ihre Familien ernähren, kommen von Firmen, die von den Minen mit Kohle versorgt werden. Der Wert der Lebensmittel wird dann mit dem Einkommen der Kumpel verrechnet.

Auch bei diesen Großunternehmen muß der Mangel an Bargeld häufig als Begründung für die Barter-Geschäfte herhalten. Doch Wirtschaftsexpertin Shvets hält dieses Argument für vorgeschoben. Die meisten großen Unternehmen hätten genug Bargeld, um ihre Steuern zu bezahlen, wenn sie dazu nur endlich gezwungen würden: "Manchmal sind Firmen wirklich pleite, aber häufig geht es nur darum, Gewinne zu verstecken, Steuern zu hinterziehen, oder marode Firmen, die eigentlich längst hätten Konkurs anmelden müssen, weiterarbeiten zu lassen."

Für Shvets eine typische Konsequenz daraus, daß viele ehemalige Staatsbetriebe zwar privatisiert, aber von ihren früheren Managern übernommen und weitergeführt wurden: "Diese Leute sind in einer Planwirtschaft groß geworden, in der die Schattenwirtschaft unabdingbar war, um die Unternehmen am Leben zu erhalten. Viele von ihnen verwenden einfach heute die gleichen Methoden wie damals, um zu verdecken, daß ihre Firmen eigentlich pleite sind und können so auf ihren Posten bleiben."

Ein Anliegen, das von den örtlichen Verwaltungen häufig unterstützt wird, weil diese sonst mit noch höheren Arbeitslosenzahlen zu kämpfen hätten. So ist das Bruttosozialprodukt seit Beginn der neunziger Jahre um etwa 40 Prozent gesunken, die Zahl der Arbeitsplätze allerdings "nur" um 25 Prozent.

Diese gegenseitige Deckung wird dadurch erleichtert, daß Unternehmen bei regionalen Verwaltungen in der Kreide stehen, während deren Schulen oder Krankenhäuser wiederum Außenstände beim betroffenen Unternehmen haben. Und auch der Untersuchungsbericht der Konkursbehörde zeigt nach Ansicht von Julia Shvets das Problem zwar deutlich auf. Der Bericht entschuldigt aber dieses Vorgehen damit, daß die Verhältnisse ein anderes Wirtschaften im Moment nicht zuließen.

Diesen Kreislauf zu durchbrechen und damit auch den Barter-Geschäften den Hahn abzudrehen, ist nun Premierminister Kirijenko angetreten, indem er dem größten russischen Steuerschuldner den Gerichtsvollzieher ins Haus geschickt hat. In einem spektakulären Schritt verpflichtete er Gasprom, das bei der Steuerbehörde mit rund zwölf Milliarden Rubeln - etwa 3,5 Milliarden Mark - in der Kreide steht, alle Steuerschulden in den nächsten Monaten zurückzuzahlen.

Doch um auch nur teilweise bezahlen zu können, wird Gasprom den Kreislauf von unbezahlten Rechnungen durchbrechen müssen. Zwar schuldet der Staat dem Unternehmen insgesamt mehr Geld als umgekehrt, aber Kirijenko bleibt nichts anderes übrig, als schnell das Steuereinkommen zu erhöhen. Denn das ist eine der Hauptforderungen des IWF, ohne dessen Kredite der Rubel zur Abwertung verdammt wäre. Und eine Abwertung würde nicht nur die meisten russischen Banken in den finanziellen Abgrund reißen, sondern den Tauschhandel für lange Zeit zementieren.

Was allerdings für einige der Betroffenen auch positive Auswirkungen haben könnte. Wie etwa für die städtischen Angestellten in Nischnij Nowgorod. Wirtschaftsberater Fraytag erinnert sich noch gut an die Jahre 1995/96, als die Beamten ihre Gehälter von der örtlichen Sektkellerei in Naturalien bezogen, weil diese ihre Rechnungen bei der Stadt nicht bar bezahlen konnte: "Da bekam das Wort Liquidität auf einmal eine völlig andere Bedeutung."