Radio Days

Techno, Antifa und Fußballtips

Zahlreiche Freie Radios sind in den letzten Jahren entstanden - doch mit den alten Konzepten linker Propaganda haben sie nur noch wenig gemein

"Nichtkommerzieller Gesellschaftsrundfunk" - das klingt langweilig, nach Formularen, Anträgen, Lizenzen. Ungefähr so wie Lebensabschnittspartner oder Heizkostenpauschalabrechnung. Dann doch lieber Wüste Welle, Kanal Ratte, Radio Unerhört, Freies Sender Kombinat oder ColoRadio.

Früher, als die Welt noch in Ordnung und die Bewegung stark war, da nannte man sie ganz einfach Piratensender. Besetzten sie doch verbotenerweise Frequenzen. Aus den Wäldern des Hochschwarzwaldes und von den Dächern Kreuzbergs bliesen die Funker und Funkerinnen von Radio Dreyeckland und Radio Utopia - immer auf der Flucht vor den Peilwagen der Deutschen Bundespost - mit wenig Watt und viel Energie wirkliche Wahrheiten durch den Äther. Das Ziel: Gegenöffentlichkeit herstellen, unterdrückte Informationen publizieren, zu Aktionen mobilisieren. Menschen, die kein Sprachrohr hatten, sollten sprechen. Mit auf dem Programm: Neue Formen von medialer Ästhetik und Kommunikation. Die normierten Hörgewohnheiten brechen, war das Credo.

Die linken Theoretiker standen bereit, als hätten sie nur auf die richtige Bewegung gewartet: Schon 1932 entdeckte Bertolt Brecht den Rundfunk als "denkbar großartigsten Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens", wenn er es verstünde, "den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen". Walter Benjamin thematisierte die Notwendigkeit selbstorganisierter und selbstbestimmter künstlerischer Arbeit. Hans Magnus Enzensberger half dann Anfang der Siebziger mit seinem Baukasten zur Theorie der Medien aus. Sein an den Klassikern Brecht und Benjamin orientierter Ansatz: Jeder Empfänger ist ein potentieller Sender. Emanzipatorische Mediennutzung braucht kollektive Produktion anstatt der Herstellung durch Spezialisten. Und Oskar Negt gab 1983 gar eine Vorstellung beim Bundestreffen der "Assoziation der freien Radios" in Erlangen.

Es gelte, so Negt gemeinsam mit Alexander Kluge in ihrem Standardwerk "Öffentlichkeit und Erfahrung" (1972), mit freien Radios "neue lebendige Verständigungsmöglichkeiten" zu schaffen, den stummen Zwang der Verhältnisse" zu durchbrechen und damit die "begrifflichen wie sprachlichen Ausdrucksmittel des Protestes" zu erweitern.

Auch auf zahlreiche praktische Erfahrungen konnten die Piraten und Piratinnen zurückgreifen. Da waren die Militärfunker von 1919, die, aus dem Krieg heimgekehrt, den Arbeiter- und Soldatenräten ein postunabhängiges Sendenetz aufbauten. Und da waren die zahlreichen Arbeiter-Radio-Klubs, die in den zwanziger Jahren die Eigentumsfrage auf ganz eigenwillige Weise stellten: "Wem gehört die Luft zum Senden?" wollten sie wissen und protestierten gegen das Monopol des staatlich kontrollierten Rundfunks. Schließlich sollte das Proletariat agitiert werden. Doch vor allem die Radiostationen, die Mitte der siebziger Jahre in Italien aus dem Umfeld der Autonomia Operaia entstanden, haben ihren deutschen Pendants neue Nahrung gegeben: Radio Alice aus Bologna, Radio Popolare aus Mailand, Radio Radicale aus Rom.

Wie die italienische autonome Bewegung lösten sich auch deren Avantgardisten und Avantgardistinnen im Äther von traditionellen marxistischen Mustern. "Jenseits des Elends, gegen die Arbeit, spricht der Körper, das Begehren, die Aneignung der Zeit", schallte es aus den Sendestudios der Subversiven von Radio Alice. "Geben wir unserem Begehren eine Stimme. Jedem Kollektiv ein Mikrophon, besenden wir uns gegenseitig."

Im Mittelpunkt stand nicht mehr die Arbeiterklasse. Frauen, Schwule, Lesben, Schülerinnen, die Akteure der Straße sollten das Wort ergreifen. In ihrer Orientierung an französische Poststrukturalisten klang schon eine Frage an, über die heute nicht nur Radiofreaks zwischen Hamburg und Freiburg heftigste Dispute führen: "Begehren nach Macht im Diskurs der Ordnung oder Macht des Begehrens gegen die Ordnung des Diskurses."

Heute? Lebensabschnittspartner, Heizkostenpauschalabrechnung - nichtkommerzieller Gesellschaftsrundfunk. Mit der Ausdifferenzierung des medialen Angebots sollten auch die "Freien" auf ihre Kosten kommen. Als Mitte der achtziger Jahre im Zuge der Entdeckung des Kabels das duale Rundfunksystems - die Ergänzung des öffentlichen-rechtlichen Radio- und Fernsehprogramm um private Anbieter - eingeführt wurde, witterten sie ihre Chance auf einen legalen Sendebetrieb. Mit dem alternativen Radio 100 ging in Berlin der erste Privatsender on air. Vor allem aber setzten noch illegal agierende Sendefreaks auf Erweiterungen im Rundfunkwesen. Schließlich ließ die Umstrukturierung eine radikale Kommerzialisierung des Marktes erwarten, in der nur noch eines zählen sollte: Information als Ware. Um dennoch gesellschaftlichen Gruppen den Zugang zu den Medien zu gewährleisten, wurden denn auch tatsächlich nichtkommerzielle Sendestationen eingerichtet.

Diese "Offenen Kanäle" als sogenannte Dritte Säule im Rundfunksystem sollten jedoch lediglich die Verkabelungspolitik der Bundesregierung rechtfertigen, kritisierten die Ätherpiraten damals, schließlich unterlägen sie der staatlichen Kontrolle und verzichteten größtenteils bis heute auf ein eigenständiges Sendeprofil. Mit linken, emanzipativen Vorstellungen von Medienarbeit hatten sie nur wenig zu tun.

Erst nach langem Kampf gegen die institutionelle Macht konnten sich die Freie Radios nun in den letzten Jahren als Teil der "Dritten Säule" einen legalen Rahmen schaffen. Seither sind allein im Bundesverband Freier Radios (BFR) 27 nichtkommerzielle Sender organisiert. Tausende, die sich dazu berufen fühlen, verbreiten nun ihre Botschaften ungefiltert über Kabel und Antenne. Nur die allerwenigsten von ihnen kennen sie noch, die Geschichten von damals: schlechte Bauanleitungen, schwache Batterien, Peilwagen-Panik.

Ein Blick auf den Programmplan der meisten Freien Radios zeigt: Nicht nur jene, die den Äther bislang als Ort begriffen, um Unwissenden die Boshaftigkeit des Kapitalismus zu erklären und zur wahren Lehre zu bekehren, sind heute in den Sendestudios zu finden.

Im Gegenteil: Die Radiostationen sind zum sozialen Ort geworden, an dem von Karriere träumende Techno-DJs mit dem Marx-Engels-Lesekreis aufeinandertreffen, wo Migrantengruppen mit ihrer Community kommunizieren, Antifas gegen Nazi-Demonstrationen mobilisieren, unentdeckte Künstler die Hörer mit ihren neuesten Werken terrorisieren und Fußballfans ihre Wetten öffentlich abschließen.

Schon lange stimmen die alten Bilder im Lager linker Radiofreaks nicht mehr. Was Mitte der Siebziger mit Radio Alices Rückgriff auf Poststrukturalisten wie Félix Guattari und Gilles Deleuze begann, hat in den vergangenen Jahren zur wohl wichtigsten Diskussionen geführt, der sich linke Medienarbeitende stellen müssen: Ist das Konzept Gegenöffentlichkeit anachronistisch geworden? Liegt diesem doch eine Vorstellung zugrunde, nach der man den Menschen nur die vermeintlich wirkliche Wahrheit erläutern müsse, um sie dann zum Aufstand zu führen - ein Konzept, das sich in der Tat als wenig realitätstauglich erwiesen hat.

Gilt es also eher, den herrschenden Diskurs nicht durch eigene Teilnahme zu affirmieren, sondern durch Irritationen zu stören und neue Formen der Kommunikation jenseits dieses Diskurses zu entwickeln?

Doch wer hätte dann zum Beispiel noch erfahren, daß Safwan Eid unschuldig ist und die Lübecker Flüchtlingsunterkunft wahrscheinlich von Neonazis niedergebrannt wurde?