Vom Nebenzimmer ins Haupthaus

Der Lebensweg seines Schatteninnenministers Otto Schily ist ganz nach dem Geschmack von Gerhard Schröder

Seine Nominierung als "Innenminister" im Schattenkabinett Gerhard Schröders hat viele überrascht. Eigentlich hatte sich Otto Schily mit seinem unermüdlichen Einsatz für den Großen Lauschangriff die Rente bereits ehrlich verdient. Der 66jährige mußte um seinen sicheren Platz auf der bayerischen SPD-Landesliste bangen. Doch einen wie ihn kann Schröder brauchen: Einen "Querdenker", der als Linksliberaler von den Grünen zur SPD konvertierte, der von sich behauptet, "daß ich immer noch ein Linker bin", und gleichzeitig mutig in die Konkurrenz mit Kanther, Schönbohm und Gauweiler um die konsequentere Verteidigung der Deutschen vor Ausländern tritt. Vom Verteidiger der Grundrechte zum Law-and-Order-Sheriff - sowas gefällt dem Kanzlerkandidaten der Sozialdemokraten.

"Wenn der Himmel blau ist, und Kanther erklärt, der Himmel sei blau, dann hat er recht", sagt Otto Schily. Wenn der Himmel aber nicht blau ist? Dann stellt ihn sich der potentielle Nachfolger eben so vor, wie der amtierende Innenminister den Himmel beschrieben hat: zuviel Kriminalität, zu viele Ausländer, zu wenig starker Staat: "Es geht heute nicht mehr darum, den einzelnen vor dem Staat zu schützen, sondern den einzelnen vor der Organisierten Kriminalität."

Bei den Linken sei der Staat eigenartigerweise immer dann gefragt, wenn es darum gehe, in Unternehmensführungen einzugreifen oder Studiengänge zu regulieren, und nicht bei der Verbrechensbekämpfung. Die organisierte Kriminalität bedrohe die Grundrechte, meint Schily: "Das wird völlig übersehen, das kommt überhaupt nicht vor." Um dem entgegenzuwirken, müssen auch schon mal Grundrechte staatlicherseits abgebaut werden.

Kein Pardon kennt der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, wenn es um kriminelle Ausländer geht. Anfang Juli erklärte er der Welt: "Wer sich strafbar macht, muß unser Land verlassen, wenn dafür die rechtlichen Voraussetzungen vorliegen. Wir werden es beispielsweise nicht hinnehmen, daß Ausländer, die sich vorübergehend bei uns aufhalten, Polizisten blutig schlagen. Der Staat muß dann mit aller Härte vorgehen."

Überhaupt ist das so ein Problem mit den Ausländern, wie er vergangene Woche der Berliner Zeitung mitteilte: "Auf absehbare Zeit sehe ich gar keinen Spielraum für zusätzliche Zuwanderung." Schließlich kenne er "einige Leute, die wunderbare humanitäre Bekenntnisse zu leisten wissen, aber in dem Moment, wo eigene Kinder in eine Klasse mit 90 Prozent Zuwanderern kamen, sagten: Das geht aber nicht". Deswegen dürfe auch der sogenannte "Asylkompromiß" von 1993 nicht aufgekündigt werden: "Der Artikel 16 hat in seiner alten Fassung letztlich zu unbeschränkter Einwanderung geführt. Das war so nicht haltbar."

Otto Schily hat eine erstaunliche Karriere hingelegt. Bundesweit machte der am 20. Juli 1932 in Bochum Geborene zum ersten Mal in den siebziger Jahren als einer der Verteidiger der RAF-Gründergeneration auf sich aufmerksam. Er war der Vertrauensanwalt von Gudrun Ensslin. Bei der Beerdigung Ulrike Meinhofs am 15. Mai 1976 zählte Schily zu den Grabrednern. Nachdem herausgekommen war, daß in Stuttgart-Stammheim Gespräche zwischen Verteidigern und Mandanten abgehört worden waren, urteilte Schily über die sich in den RAF-Prozessen austobende deutsche "Rechtsstaatlichkeit": "Das ist permanenter Notstand, Ausnahmezustand, der hier praktiziert wird." Das Verhalten des Staates bezeichnete er als "verdeckten Krieg". Solche Formulierungen hält er heute selbstverständlich für "sehr überspitzt". Daß er immer noch von manchen als RAF-Anwalt tituliert wird, mag Schily gar nicht gerne. Schließlich war der von ihm sehr geschätzte Richard von Weizsäcker als Verteidiger im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß tätig: "Es wäre doch wohl nicht gerecht, ihn deshalb einen 'Kriegsverbrecheranwalt' zu nennen, so wie ich manchmal als 'Terroristenanwalt' bezeichnet werde."

1980 gehörte der aus einer anthroposophischen Unternehmerfamilie stammende Schily zu den Mitbegründern der Grünen. Als die Öko-Partei im März 1983 den Sprung in den Bundestag schaffte, war der damals einzige Krawattenträger der Parlamentsnewcomer mit dabei und bildete zusammen mit Petra Kelly und Marieluise Beck-Oberdorf den ersten grünen Fraktionsvorstand. Im Parlament profilierte er sich als scharfzüngiger Redner gegen die Regierungskoalition und vor allem durch seine Arbeit im Flick-Untersuchungsausschuß. Schily repräsentierte eine liberale Bürgerrechtsposition in der Partei und galt als der erste grüne Realpolitiker. Von Beginn an hatte er auf ein rot-grünes Bündnis gesetzt.

Im März 1986 rotierte er aus dem Bundestag. Im Januar 1987 war er über die Landesliste der nordrhein-westfälischen Grünen wieder drin. Allerdings hatte sich seine Stellung in Fraktion und Partei gewandelt. Schily war in eine Außenseiterrolle geraten. Er war ein grüner Medienstar ohne Parteiverankerung geworden. Seine Positionen gab er vor allem via Presse, Funk und Fernsehen kund - und diese Ansichten standen grundsätzlich quer zu grünen Beschlüssen. So lehnte er beispielsweise den Aufruf der Bundestagsfraktion zum Boykott der Volkszählung 1987 ab, da Parlamentarier "zunächst einmal an die Frage der Mehrheit und Minderheit angebunden" seien.

Sogar die Politik des Staates im "deutschen Herbst" rechtfertigte er nun: "Wir müssen uns vor Augen führen, wie schwierig die Entscheidung in einem Krisenstab ist. Dazu gehört auch die Frage, ob die milde Lösung immer die Beste ist. Wenn man einer Erpressung nachgibt, kann man neue erzeugen."

Schily hatte sich zum staatstragenden Parlamentarier transformiert und genoß zudem die Rolle des Politprominenten: Für den Autokonzern Porsche posierte er als einer der "Menschen, die ihre Welt bewegen" (Porsche über Schily). Die Abstrafung folgte prompt: Sein erstes Waterloo in der grünen Bundestagsfraktion erlebte Schily, als er im Februar 1987 dem ökosozialistischen Kandidaten Thomas Ebermann bei der Wahl zum Fraktionsvorstand überraschend unterlag, obwohl die "Realos" über eine satte Mehrheit in der Fraktion verfügten. Schily reagierte mit wütenden Attacken gegen den Parteifreund. Ebermann vertrete "exzentrische" und "teilweise abenteuerliche" Positionen. Im Fraktionsvorstand dürfe keine Person sitzen, die das Gewaltmonopol des Staates infrage stelle. Mit der "alten, links-sektiererischen Position", die Ebermann vertrete, müsse endlich aufgeräumt werden.

Als alternative Entwicklungsrichtung für die Partei gab Schily damals an: "Unser Ziel muß eine Politik der neuen Mitte sein. Und neue Mitte heißt nicht Misch-Masch, sondern ein neuer, radikaler Ansatz für ein Gesellschaftsverständnis aus dem Menschen heraus." Er war seiner Zeit voraus. Zwei Jahre später, im Januar 1989, versuchte Schily erneut, Fraktionssprecher zu werden. Doch wieder unterlag er, diesmal Helmut Lippelt.

Es war einer der letzten Auftritte Schilys in der grünen Fraktion. Als die NRW-Grünen im Herbst 1989 beschlossen, keinen Kandidaten aufstellen zu wollen, der schon zweimal im Bundestag gesessen hatte, ist der Abgang des "eigenwilligsten Dribbelkünstlers der grünen Mannschaft" (taz) programmiert. Schily wechselt zur SPD. Mit ihr kann er der Parlamentszwangspause entgehen. Er wird Mitglied im Ortsverein Unterhaching bei München. Die bayrischen Sozialdemokraten geben ihm einen sicheren Platz auf ihrer Landesliste. Im Gegensatz zu den Grünen kehrt Schily bei der ersten gesamtdeutschen Wahl am 2. Dezember 1990 ins Parlament zurück.

In der SPD-Bundestagsfraktion fristete der "Star auf der Reservebank" (Süddeutsche Zeitung) in den ersten Jahren ein Dasein als Hinterbänkler. Ein frustrierendes Dasein, das ihn sogar zu seiner alten Untugend der öffentlichen Parteischelte verführte - diesmal von links, statt bei den Grünen von rechts. In der SPD war's nicht gerne gesehen. "Besonders zu Zeiten wirklicher oder eingebildeter Notlagen" überkomme den Deutschen "leicht das wilhelminische Grundgefühl, und sie wollen nur noch Deutsche und keine Parteien mehr kennen. So geschieht es auch heute. Wenn schon keine große Koalition, dann wenigstens ein 'großer Konsens'", stellte der SPD-Abgeordnete Otto Schily 1991 fest und schrieb seiner Partei ins Stammbuch: "Die SPD, in der ewigen Sorge vor dem Vorwurf der 'vaterlandslosen Gesellen', sollte sich in Zukunft auf solche Techtelmechtel mit der Bundesregierung nicht einlassen. Eine konstruktive Opposition verleiht ein deutlicheres Profil als die Einquartierung in irgendwelchen Nebenzimmern der Regierung!"

Ansonsten konnte sich wieder mehr seinem erlernten Beruf widmen, verteidigte beispielsweise "Liebling Kreuzberg": Manfred Krug, der angeklagt war, einen Autofahrer geschlagen zu haben. Parteiinternen Ärger und große öffentliche Aufmerksamkeit brachte ihm die Verteidigung des Dresdener Ex-Oberbürgermeisters und DDR-Wahlfälschers Wolfgang Berghofer ein.

Am 9. November 1994 durfte Schily auch im Bundestag wieder nach vorne rücken: Er wird in die erweiterte SPD-Fraktionsführung gewählt. Seitdem darf er wieder von sich behaupten, er sei wichtig. Schily zeigt sich dankbar: Immer wenn es darum geht, sich zwischen CDU/CSU/FDP-Bundesregierung und der SPD-Opposition auf den Abbau von Grund- und Freiheitsrechten zu verständigen, ist Schily an vorderster Front: "Asylkompromiß", "Großer Lauschangriff", Erweiterung der BGS-Kompetenzen etc. Nach dem 27. September könnte die Krönung seines Lebenswerks erfolgen: die Ernennung zum deutschen Bundesinnenminister. Dann kann Schily endlich sein Quartier in irgendwelchen Nebenzimmern der Regierung aufgeben und ins Haupthaus ziehen.