Alternative Lebensformen

Berlin, wo Winter zu Hause ist

Die Frage ist doch: Ist der Sommer die Belohnung für das Überstehen des Winters, oder ist der Winter die Rechnung für den Sommer? Ich weiß es nicht, aber die Frage fällt mir immer wieder ein. Gut, man kann sich erst einmal damit zufriedengeben, daß man sagt: Berlin ist rein klimatechnisch ein Nullsummenspiel. Deswegen kommt der Sommer aber nicht gleich wieder, und das macht den Winter nicht besser. Überall ist der Winter okay, in München, im Märchen, im Süden, im Skiurlaub, wenn er ausfällt, sobald er vorbei ist, wenn er einen in Ruhe läßt, wenn er bleibt, wo er den ganzen Sommer über war.

Nur in Berlin ist Winter garantiert und furchtbar und schrecklich und überhaupt völlig sinnlos. Man braucht ihn nicht, keiner hat ihn bestellt, alles wird unternommen, damit er sich schleicht. Er kommt immer wieder: voll brutal, weiß und grau. Die Leute werden gritzig, ganz anders als im Sommer, immer dieses Gefälle zwischen drinnen warm und draußen kalt. Jens meint, die Depressionen diesen Winter bringen ihn um, und: So macht das Leben keinen Spaß, und das noch bis Mai und dann nächstes Jahr schon wieder. Meine Güte. Aber was soll man machen?

Wegfahren. Ja, das ist das beste. Oder vielleicht das beste draus machen? Bloß wie? Schneeräumdienst, jeden morgen ab halb vier? Autos beim Unfall beobachten? Einfach wie bisher weitermachen? Unmöglich. Der Winter zwingt in Berlin alles in die Knie, was im Sommer noch stand. Was bisher übel auffiel, wird noch übler: die Politik, die Häuser, der Matsch, die Schule, das Busfahren, das Aufstehen, die Nachrichten, das Anstehen, das Grübeln. Selbst rauchen auf der Straße kann man vergessen. Tja, so ist das.

Dazu kommt: Man vergißt dauernd Sachen, die man noch dazu ungern trägt und nur widerwillig geschenkt bekommen hat. Schals und so. Das liegt auch daran, daß es immer dunkel ist. Man kommt im Dunkeln, man geht im Dunkeln. Deswegen gehen einem auch irgendwelche körpereigenen Muntermacher flöten. Das steht jedenfalls in den Magazinen, die man beim Arzt liest, der einem auch nicht helfen kann und genauso schlecht gelaunt ist, weil ihm auch keiner hilft. So ist das, leider Gottes.

Das Auto springt nicht an, und wenn ja, müßte man schon die Stadt verlassen, bis die Heizung soweit ist, man bleibt auch sowieso lieber zu Hause bei dem Wetter, guckt sich im Spiegel an und sieht, wie man immer blasser wird. Auf der Straße erfriert der eine oder andere, man selber sicher nicht, aber was ist das für ein Trost, angesichts der Tatsache, daß, egal ob der Sommer vor oder nach dem Winter kommt, das Jahr in Berlin nur sechs Monate hat.