Blubbern für die Kernkraft

Was die Grünen als Fortschritt verkaufen, ist den Atomkonzernen gerade mal einen Brief an die Regierung wert: Unter 30 Jahren Restlaufzeit, schreiben sie, läuft gar nichts

Interviews entwickeln manchmal eine seltsame Dynamik. Wenn sich der fragende Journalist und der Befragte zu gut verstehen, dann schimmert gelegentlich Strategisches durch, was auch für den politischen Gegner von Interesse sein kann. So letzte Woche in einem Gespräch, das der glühende Atomenergie-Verfechter und Zeit-Redakteur Fritz Vorholz mit dem Vorstandsvorsitzenden der Energieversorgung Baden-Württemberg und Yello-Eigentümer Gerhard Goll führte. Da verriet der Konzernchef, wie die Strategie des Bundeskanzlers in Sachen Atomkraft aussieht: "Ich schätze die Position von Kanzler Schröder, der ja sagt: Wenn ich den Kernenergiegegnern deutlich mache, daß der Ausstieg kommt, dann rückt die Frage nach dem definitiven Ende in den Hintergrund."

Ähnlich denken neuerdings auch manche Grüne. Beim ihrem vertraulichen Gespräch mit den Chefs der großen Stromkonzerne vor zwei Wochen warteten Umweltminister Jürgen Trittin und Außenminister Joseph Fischer überraschend mit einem neuen Vorschlag auf, genannt "Bubble-Konzept" - eine Art flexibler Ausstieg. Alle Reaktoren bekommen demnach durchschnittliche "Basislaufzeiten" verordnet, die aber nicht verbindlich sind. Wenn ein Reaktor doch einmal vor dem Ende dieser Laufzeit vom Netz gehen sollte, dürften die restlichen Betriebsjahre der Gesamtbetriebsdauer eines anderen Atomkraftwerks zugeschlagen werden. Die Konzerne, das versicherte der noch vor kurzem der Unternehmerfeindschaft gescholtene Trittin zu Wochenbeginn dem Focus, "können mit den Laufzeiten handeln". Und die Grünen sich schon jetzt verabschieden von ihrer bisherigen Forderung, allen Reaktoren gleiche Laufzeiten zu verordnen. Trittin in der Welt am Sonntag: "Wenn ein AKW kürzer läuft, kann ein anderes dafür länger laufen. Da will ich mich nicht einmischen."

Der Vorteil des neuen Konzepts: Selbst wenn man sich - was anzunehmen ist - auf eine Basislaufzeit von 30 bis 35 Jahren einigt, wäre es wahrscheinlich, daß mindestens ein Alt-AKW vor den nächsten Wahlen vom Netz ginge, ohne daß es die Betreiber etwas kostet. Und die Grünen profitierten dennoch: Das neue Modell könnten sie ihrer mittelständischen Wählerklientel als wirtschaftsfreundlich verkaufen, ohne daß in dieser Legislaturperiode auch nur ein neuerer Reaktor abgeschaltet würde. Man müßte einfach ein paar Jahre Restlaufzeit bei dem einen Reaktor abziehen, um diese bei einem anderen wieder draufzuschlagen - ohne daß sich dadurch in der Summe etwas an den Risiken und Folgen der Kernkraft änderte. Und schon wäre er da - der von den Grünen so ersehnte "Einstieg in den Ausstieg". Am Ende war doch alles nur ein Vermittlungsproblem. Nicht zuletzt des grünen Umweltministers. Doch der scheint geläutert.

Wirtschaftsfreundlich wie nie zuvor garantierte er den Betreibern im Focus "Betriebssicherheit bis zum Ausstieg". Was man nicht alles tut, wenn die Partei in der Klemme steckt. Und die Basis Druck macht. So erklärten 50 grüne Energiepolitiker und -politikerinnen aus den Bundesländern Ende September in einem Kritikpapier an der Atompolitik der Regierung: "Wir mobilisieren gegen jeden Castor-Transport, wenn der Ausstieg noch nicht geregelt ist." Die großen Umweltverbände haben bereits gemeinsam zur Blockade des nächsten Atommülltransports aufgerufen.

Das alte Dilemma des Konsenses mit dem Kapital halt: So mußten Trittin und Fischer einerseits auf eine Einigung mit den Betreibern drängen und andererseits mit aller Macht Transporte verhindern. Nicht umsonst war das zweite Thema des Gesprächs neben dem "Bubble-Konzept", wie es technisch und juristisch möglich sein soll, auf Transporte zu verzichten, ohne daß Reaktoren wegen fehlendem Lagerplatz vom Netz genommen werden müssen. Im Umweltministerium erwägt man deshalb bereits eine Änderung des Atomgesetzes, um die sogenannte "Transportbereitstellungslagerung" zu legalisieren. Dabei sollen Brennelemente aus den Abklingbecken in Castor-Behälter gepackt - und danach auf dem Kraftwerksgelände abgestellt werden.

Allerdings weiß auch Trittin, daß er mit diesem Konzept noch nicht aus der Bredouille ist. Denn ohne vollzogenen Ausstieg wird er kaum vermitteln können, warum bei weiterhin fehlendem Entsorgungskonzept dennoch Atommüll produziert werden darf. Nicht zuletzt deshalb hält sich Trittin alle Wege offen. So auch eine ganze Reihe von Castor-Transporten ins nordrhein-westfälische Ahaus. Kontaminationstechnisch, das konstatiert ein Statusbericht des Umweltministeriums, stelle dies kein Problem mehr dar. Mit einer Aufhebung des von der CDU-Umweltministerin Angela Merkel vor über einem Jahr verhängte Transportstopps wird derzeit für den Jahreswechsel gerechnet - Anträge auf Atommüllabfuhren Richtung Ahaus liegen bisher aus Neckarwestheim und Biblis vor, ein weiterer aus Philippsburg dürfte folgen.

Während also für die Grünen die Zeit drängt, haben die anderen Beteiligten die Ruhe weg. So bedankten sich die Vorstandschefs am Wochenende in einem Brief an Trittin und Fischer für das Gespräch, erklärten aber zugleich, daß sie "das Modell eines öffentlich-rechtlichen Vertrags sowie die diesbezüglichen Vorschläge von Bundesminister Müller" für den geeigneteren Vorschlag hielten. Eine Kopie des Briefes schickten sie direkt ins Kanzleramt. Und mit Fischer und Trittin wollen sie sich erst dann wieder treffen, wenn die beteiligten Staatssekretäre ein Konzept zum entschädigungsfreien Atomausstieg per Gesetz erarbeitet haben. Deren Beratungen sollten eigentlich am 30. September abgeschlossen sein. Doch daraus wird vermutlich nichts. Denn enge Vertraute Schröders sitzen als Vertreter des Wirtschaftsministeriums in diesem Gremium und haben bislang noch jeden grünen Vorstoß in Richtung Ausstiegsgesetz blockiert. Jetzt haben sich die Staatssekretäre vier Wochen Aufschub erbeten. Schon Ende August kommentierte die Berliner Zeitung: "Es zeichnet sich ab, daß die Expertengruppe die Aufgabe erfüllt, die ihr der Kanzler eigentlich gestellt hat: den Ausstieg im Dissens mit den Konzernen, den manche Grüne für möglich halten, totzuprüfen."

Dabei lag in dieser Staatssekretärsrunde der Schlüssel zur Lösung der atompolitischen Probleme vielleicht schon auf dem Tisch. In einem ersten Papier aus dem Hause Trittin hatten sie die wichtigsten Argumente gegen die Nutzung der Atomenergie akribisch genau zusammengetragen und belegt. Zweck des Papiers: die Befristung von AKW- Betriebsgenehmigungen vor den Gerichten abzusichern. Doch die Beamtinnen und Beamten hatten zu gründlich gearbeitet. Denn wenn die Atomkraftwerke wirklich so gefährlich sein sollten, wie es die Vorlage versucht nachzuweisen, dann wäre sie schlecht geeignet, die AKW-Laufzeiten auf 25 Jahre zu begrenzen. Gäbe es die beschriebenen Risiken nämlich wirklich, so die Juristen, dann müßte der Staat im Rahmen seiner "Schutzpflicht" die Atommeiler sofort vom Netz nehmen, um Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Da aber der Sofortausstieg nur juristisch angemessen, politisch aber weder von SPD noch Grünen gewollt ist, müssen die armen Fachbeamtinnen ihr Papier jetzt wieder entschärfen.