Ende der Eiszeit

Wozu ein Lagebericht sein kann: Den guten deutsch-türkischen Beziehungen schadet das neueste Papier des Auswärtigen Amtes zur "asyl- und abschieberechtlichen Lage" nicht

Bald werden sie wieder dort sein, wo sie herkamen - irgendwo im Südosten der Türkei. Aus der Traum vom dauerhaften Asyl im westeuropäischen Wunderland Deutschland: Für viele kurdische Flüchtlinge dürfte die Zeit des Hoffens auf eine kurdenfreundlichere Politik der rot-grünen Regierung nun endgültig vorüber sein. Schuld daran: die neue Türkei-Sympathie von Außenminister Joseph Fischer. Spätestens seit dem Treffen mit seinen Amtskollegen aus der Europäischen Union (EU) vor zwei Wochen steht auch in Brüssel fest: Die Türkei soll zum Jahresende als offizieller Beitrittskandidat der EU akzeptiert werden. Ein Durchbruch für die deutschen Diplomaten, die in den letzten Monaten am stärksten auf eine zügige Annäherung Brüssels an die wegen ihrer Verletzung der Menschenrechte gescholtene Regierung in Ankara gedrängt hatten.

Das Berliner Auswärtige Amt (AA) hatte den Kurswechsel in Sachen Menschenrechte schon im Juli eingeleitet. Fischers Staatsminister Ludger Volmer versprach damals, daß der erste von den rot-grünen Menschenrechtskriegern verfaßte AA-Bericht zur Lage in der Türkei "an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig" lassen würde. Er sollte recht behalten. Das von der Frankfurter Rundschau "als Pilotprojekt für eine neue Offenheit in der rot-grünen Außen- und Menschenrechtspolitik" gefeierte 34seitige Papier läßt kaum noch Fragen offen. Am mangelnden deutschen Glauben an einer "inländische Fluchtalternative" für Bürgerkriegsflüchtlinge in der Türkei jedenfalls sollen die guten Beziehungen zu Ankara nicht scheitern.

Und auch nicht an der Gruppenverfolgung. Die will Fischers Ministerium in seinem neuesten Lagebericht nicht mehr entdecken - ganz zur Freude seines türkischen Amtskollegen Ismail Cem, der gegenüber seinen skeptischen EU-Kollegen stets beteuert hat, daß in seinem Lande keine ethnischen Gruppen verfolgt würden. Zwar wisse er, versicherte Fischer jetzt, um "den Kurdenkonflikt, die Menschenrechte, das Verhältnis des Militärs zum Staat".

Die Schlußfolgerungen daraus zieht die Behörde in ihrem Bericht über "die asyl- und abschieberelevante Lage in der Türkei" jedoch nicht. "Staatlichen Sanktionen unterworfen", das stellten die beteiligten Beamten klar, werde in der Türkei "allein auf Grund ihrer Volkszugehörigkeit" keine Bevölkerungsgruppe. Selbst wenn bekannt sei, daß "im Südosten geborene Personen, gleich welcher Ethnizität, leichter als andere Staatsangehörige in den Verdacht geraten, 'Separatisten' zu sein oder mit 'Separatisten' zu sympathisieren, diese zu unterstützen oder Mitglied einer bewaffneten Bande zu sein". Und somit einer Verfolgung unterliegen. Sei's drum. Wer Separatist ist und für wen Menschenrechte zu gelten haben und für wen nicht, das legt das Außenministerium nicht erst seit dem Krieg gegen Jugoslawien eben nach eigenem Gusto aus.

Ein Gerichtsbeschluß in der westdeutschen Provinz ließ es knapp eine Woche zuvor bereits erahnen: Die Textbausteine für das jüngste Asylurteil des Oberverwaltungsgerichts Münster stammten direkt aus dem Berliner Auswärtigen Amt. "In keinem Landesteil der Türkei", zitierten die Richter fast wörtlich den von Fischer über Monate zurückgehaltenen AA-Bericht, würden Kurden "allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit" verfolgt. Eine diplomatische Steilvorlage für den auf eine rasche EU-Kursänderung bei den Beitrittsverhandlungen mit Ankara drängenden Minister: Am Tag nach dem Münsteraner Asylurteil zeigte er sich "sehr hoffnungsfroh, daß die Türkei beim EU-Gipfel den Status eines Kandidaten bekommt".

Der dürfte ihr auch fast nicht mehr zu nehmen sein. Fast nicht. Denn nachdem Griechenland Mitte September seine Widerstände gegen eine offizielle Kandidatur des verfeindeten Nachbarstaates aufgegeben hat, steht EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara halt immer noch der eine - entscheidende - Punkt entgegen: die mangelnde Umsetzung menschenrechtlicher Standards durch die Regierung von Ministerpräsident Bülent Ecevit. Doch Fischer, der wie kein anderer die Aufnahme Ankaras in das europäische Elitebündnis - der "prestigereichsten Wertegemeinschaft des Kontinents" (Berliner Zeitung) - will, setzte letzten Monat alles auf eine Karte. "Die Alternative zu unserer Politik ist", klopfte Fischer die deutsche Position gegenüber den EU-Partnern fest, "daß die Türkei von Europa wegdriftet." Deutschland habe "ein Interesse an der Europäisierung der Türkei im weitesten Sinne".

Da kann dann auch schon mal ein ausdrücklich "zur Rechts- und Amtshilfe gegenüber Behörden und Gerichten des Bundes und der Länder" verfaßter Bericht außenpolitische Dienste leisten. Zumindest wenn es um das Land geht, das der türkische Außenminister Ismail Cem "als europäisch und asisatisch zugleich" beschreibt. Nachdem Fischer die Herausgabe des als "streng vertraulich" eingestuften Berichts über Monate hinweg aus Rücksichtnahme auf Cem und Ministerpräsident Ecevit hinausgezögert hatte, plazierte der deutsche Minister die Veröffentlichung des Dossiers in die heißeste Phase der EU-internen Abstimmungen über die künftige Haltung gegenüber Ankara. Der Bericht traf ins Schwarze: Beim ersten Treffen zwischen den EU-Außenministern und Cem seit zwei Jahren setzte Fischer sich in Brüssel durch. Mit ihrer Entscheidung revidierten die EU-Regierungen auch ihre eigenen Beschlüsse vom Luxemburger Gipfel 1997. Damals hatten sie der Türkei zwar eine "europäische Berufung" zugestanden, das Land aber nicht als Beitrittskandidaten mit denselben Rechten wie die Länder Mittel- und Osteuropas anerkannt. Daraufhin brach die Türkei die Beziehungen mit der EU ab.

Doch damit soll jetzt Schluß sein, selbst wenn Fischer gegenüber den geprellten EU-Partnern hinterher immerhin eingestand, daß auch er wisse, daß die Türkei "weit von den Beitrittsbedingungen entfernt ist". Der erste Schritt ist getan: "Drei Jahre des Stillstandes" in den deutsch-türkischen Beziehungen seien endgültig überwunden, konstatierte der deutsche Außenminister zufrieden, ein "Ende der Eiszeit" hatte auch Cem zu verzeichnen. An der sogenannten Menschenrechtslage oder dem "Kurdenkonflikt" jedenfalls soll es nicht mehr gelegen haben, wenn Geschäfte mit Ankara zukünftig platzen.

Dafür sind sie auch viel zu lukrativ. Außerdem heißt der "Kurdenkonflikt" im neuesten Lagebericht eben immer noch "Kurdenkonflikt". Wie die Regierung von Helmut Kohl in ihren Türkei-Analysen bezeichnet auch Rot-Grün den Krieg der türkischen Militärs gegen die Zivilbevölkerung im Südosten des Landes nicht als das, was er ist. Warum auch? Panzerlieferungen in die Türkei werden auch von der rot-grünen Regierung offen gefördert. Nicht umsonst hat Bundeskanzler Gerhard Schröder den korruptionsgeschulten Ex-Schatzmeister der oppositionellen CDU, Walther Leisler-Kiep, zu seinem Türkei-Beauftragten ernannt. Der Kampf um die Anteile am türkischen Verteidigungshaushalt ist schließlich in vollem Gange. So warb die deutsche Regierung erst Mitte September bei der einheimischen Rüstungsindustrie um die Teilnahme an einem internationalen Wettbewerb. Zu vergeben: 1 000 neue Kampfpanzer für die türkische Armee.