Rot-grüne Volksherrschaft

Große Koalition

Ein Jahr ist Rot-Grün nun im Amt - und die Sprüche und Gesichter der Regierungsmannschaft wirken doch so vertraut, als hätten sie einen schon ein Jahrzehnt lang angeödet. Das überrascht nicht: Hoffnungsträger waren dieses Personal und sein Projekt zu keiner Zeit. Und sie mußten es auch nicht sein: Die Hoffnungen der Deutschen sind in den letzten Jahren so gut bedient worden, daß sie eigentlich erfüllt sind: "Wir" sind wieder wer, Deutschland gehört den Deutschen, und die Deutschen kommen zuerst.

Jetzt drängen alle - vor allem die zwar sehr deutsch fühlenden, sonst aber etwas deklassierten BürgerInnen aus der ehemaligen DDR - auf einen Platz in der ersten Reihe: In der Arbeitsgruppe, an der Sonne und am Kassenschalter. Damit das klappt, vertraut Rot-Grün auf alte Rezepte. Das hatten Schröder und seine Mannen schließlich oft und laut genug erklärt: Geht's der Wirtschaft gut, hat auch der Souverän ausreichend Taschengeld. Und wird die Autobahn gebaut, kommt die Bundeswehr ebenfalls besser voran. Nicht zuletzt haben auch Menschenrechte ihren Preis.

Nach dem Abschied Lafontaines hat Eichel übernommen, die Bilanz nach einem Jahr Rot-Grün kann sich also sehen lassen: Besser als jetzt Schröder die Deregulierung, hat weiland Helmut Schmidt die "Innere Sicherheit" auch nicht in den Griff bekommen. So war es abgemacht: Der Souverän ist nicht betrogen worden, sondern hat genau das bekommen, was er gewählt hat. Daß er seine Favoriten aus dem letzten Jahr jetzt dennoch anpöbelt und an der Wahlurne abstraft, hat dagegen wenig zu bedeuten: Da die Deutschen zwar noch Parteien, aber keine unterschiedlichen Programme mehr kennen, verliert sich auch das Interesse an Politik und wächst die Lust am Wechsel. Man zeigt, was man könnte, wenn man wollte, und riskiert trotzdem keine Experimente.

Statt dessen freut man sich an den langen Gesichtern und Durchhalteparolen. Die Wahlscheine sind keine Denkzettel - wer sollte hier auch woran denken? -, sondern Fernbedienung für das abendliche Wunschprogramm: Schröder ein bißchen grimmiger, Fischer fest entschlossen, Schäuble ganz entspannt und Bisky hoffnungsvoll - oder das ganze doch lieber umgekehrt? Das rot-grüne Regierungsprojekt, dessen einzige orginäre Leistung im Abschied vom rot-grünen Reformprojekt der achtziger Jahre besteht, betreibt die Politik der Großen Koalition, ohne große Koalition zu sein. Die Union bleibt die Regierungspartei im Wartestand, und selbst die PDS hat dort, wo sie konnte, gezeigt, daß auch sie bereit ist, "Verantwortung" zu übernehmen.

Anders als in den sechziger Jahren trägt selbst das Verschwinden der parlamentarischen Opposition nicht zum Aufleben einer außerparlamentarischen Opposition bei. Die aktive Naziszene sieht sich zu Recht nicht im grundlegenden Widerspruch zur Gesellschaft. Ihre handfesten rassistischen Aktivitäten treiben die Formierung voran und laufen ihr nicht zuwider. Große Organisationen, wie die Gewerkschaften, die angesichts der Deregulierungspolitik Träger sozialen Protestes sein könnten, sind so eng mit der SPD verwoben, daß von ihnen nie etwas erwartet werden konnte. Eine rebellische Bewegung für BürgerInnen-Rechte hat sich hierzulande nicht entwickelt. Die traditionellen linken Gruppierungen und Szenen, die seit den späten sechziger Jahren auf die Mobilisierung von Massenbewegungen an Ein-Punkt-Fragen gesetzt haben, konnten, nachdem sich die kleineren und größeren Massen den deutschen Fragen zugewandt haben, keine neuen Perspektiven entwickeln. Und die nach der Wiedervereinigung entstandenen linksradikalen Formationen haben es zu keiner Zeit geschafft, über das Zirkelwesen hinauszuwachsen, das die Durchführung leidlich besuchter ideologiekritischer Veranstaltungen ermöglicht, aber keine gesellschaftlichen Interventionen.

Mit Rot-Grün ist der Parlamentarismus deutscher Spielart nicht in eine Krise geraten, er richtet sich lediglich in einer neuen Etappe ein: Der Bundestag funktioniert ganz ohne jede Not auch im parlamentarischen Alltag wie einstmals nur im Deutschen Herbst - als eine große Gemeinschaft, ein getreues Spiegelbild der zusehends völkisch formierten Gesellschaft. So wird das westliche Konzept Demokratie ganz formvollendet demokratisch und allmählich in ein autoritäres Projekt überführt, die deutsche Volksherrschaft.