Mach’s wie deine Brüder

Ein Jahr rot-grünes Management: Die Uhr tickt, aber die SPD kriegt wenigstens guten Rat.

Deutsche Sozialdemokraten sind bisher zweimal auf die Kommandobrücken des Staates berufen worden. In den beiden ersten Fällen erledigten sie ihre Aufgaben im großen und ganzen zur Zufriedenheit der Reederei. Im Ausgang der revolutionären Wirren zum Ende des Ersten Weltkrieges machte Friedrich Ebert - mit Hilfe der sozialdemokratischen Todesschwadrone um Gustav Noske - den Weg in eine Republik frei, deren Bestand u.a. gegen die Staatsstreich-Drohungen von rechts nur dadurch eine Zeitlang zu sichern war, daß die SPD die (sozial-)politischen Erwartungen ihrer Klientel permanent vertröstete.

Im zweiten Fall einer sozialdemokratischen Bewährungsprobe ging es ebenfalls um eine Modernisierung im Rahmen der gegebenen Verhältnisse: Ende der sechziger Jahre, nach zwei Jahrzehnten einer von der Volksgemeinschaft energisch betriebenen kapitalistischen Rekonstruktion, herrschte überall Stillstand. Willy Brandt wollte den Laden renovieren, und man ließ ihn machen: Universitäten wurden gebaut, die neue Ostpolitik mit ihrem "Wandel durch Annäherung" (Egon Bahr) brachte nachhaltig Bewegung in die Systemkonfrontation, politische Unzufriedenheit wurde durch Einbindung in die staatlichen oder staatsnahen Apparate nicht nur neutralisiert, sondern der Modernisierung nutzbar gemacht.

Eine grobe Skizze zeigt also: In beiden Fällen stellten sich Sozialdemokraten die Aufgabe, den Erhalt des "sozialen Friedens" mit den aktuellen Notwendigkeiten der Kapitalverwertung in Einklang und das Ganze voran zu bringen, wobei mitentscheidend für das Gelingen war, daß potentielle Opponenten von unten die Erkenntnis teilten, ohne die Sozialdemokraten werde alles noch schlimmer kommen.

Vor einer ähnlichen Herausforderung stand von Beginn an die Schröder-Regierung. Aber diesmal scheint alles schief zu gehen. Als Ende Juni das Sparpaket der rot-grünen Koalition vorgestellt wurde, freute sich der Chefredakteur des sozialdemokratischen Vorwärts wie ein Schneekönig: "Beifall von der Wirtschaft, die Fachwelt ist immerhin verblüfft. Zwei Wochen nach der verkorksten Europawahl ist Rot-Grün wieder im Aufwind. Wer hätte das gedacht?" Oder das: Im Aufwind kassierte die SPD vier ziemlich brutale Wahlniederlagen, danach stellten sich die Spitzenleute der Partei selbstkritisch vor die Mikrofone und erklärten, es gebe offensichtlich ein "Vermittlungsproblem": Man habe versäumt, die Öffentlichkeit über die Segnungen der aktuellen Haushaltspolitik aufzuklären. In der parteioffiziellen Sprachregelung heißen die Sparmaßnahmen jetzt durchgängig "Zukunftsprogramm", die Rückkehr in den Aufwind ist für die Zeit nach dem kommenden Parteitag im November vorgesehen. Zuvor will man noch in Ruhe die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus verlieren.

Angesichts der beinah schon stumpfsinnigen Lethargie, mit der SPD-Funktionäre auf den Streik ihrer Wähler reagierten, werden Schröder und seine Leute nun zu einer Änderung der Taktik ermuntert. Der Chor der Anfeuerungsrufe klingt allerdings dissonant: "Die andere Republik wird kenntlich in dem Mangel an Respekt des Bundeskanzlers und seiner Gefolgschaft vor dem Bewußtsein der Nicht-Bessergestellten von dem, was zumutbar ist, weil halbwegs gerecht. Sie erweist sich in dem Zurückstufen der Abhängigen in ein verfügbares Objekt - ohne Ausgleich auf der anderen Seite der Nation", schrieb Günter Gaus, ansonsten einer der klügeren Sozialdemokraten, im Freitag.

Ähnlich erschütternde Enthüllungen präsentiert ein gestandener SPD-Fan aus den führenden Kreisen der Unterstadt. Daß die Politik Schröders "die angehäuften und sich weiter verschärfenden Konflikte der modernen Klassengesellschaft beseitigen kann, darf bezweifelt werden", kommentierte Joachim Bischoff in Jungle World, die Sozialdemokraten typischerweise an einem Ziel messend, das sie nie verfolgt haben.

Eher verstanden hingegen hat man in der Oberstadt: Daß die SPD zur besseren Verwaltung der Konflikte der modernen Klassengesellschaft angetreten ist und daß die Unterschichten für ihre zunehmenden Entbehrungen eine Gegenleistung erwarten. Deshalb blickt man über den Tellerrand und ermuntert Schröder recht einstimmig zu einem kleinen Betrug. Zeit-Chefredakteur Roger de Weck sagt es so: "Doch fällt auf, daß in Westeuropa diejenigen Sozialdemokraten erfolgreich und beliebt sind, die eine Vorstellung vom Gemeinwesen der Zukunft haben. Die Politik von Tony Blair in Großbritannien und Lionel Jospin in Frankreich ist nicht frei von Härten. Aber die beiden Premierminister haben die Härte nicht zum Leitmotiv ihrer Politik erhoben - ein jeder eröffnet auf seine Weise Perspektiven. Blair und Jospin stehen für Werte statt Härte." Blair beispielsweise, so präzisiert ein anderer Artikel in der Zeit, komme gut an, weil er "Religiosität", "Patriotismus" sowie "Moral und Pflicht" hochhält. In der FAZ resümiert Konrad Adam die Politik der Bundesregierung und stößt ebenfalls auf "das ungestillte Orientierungsbedürfnis" der Untertanen: "Das unbehagliche Gefühl, einer düsteren Zukunft entgegenzugehen", werde "verschärft durch die Empörung darüber, ratlos und ohne Plan zu sein."

Das Bewußtsein einer ständigen Bedrohung durch geheimnisvolle Mächte ist allerdings hierzulande eine alles andere als neuartige Erscheinung. Schröders Vorgänger wußten das und verkoppelten ihre Regentschaft durchweg mit Losungen, die völlig unabhängig von ihrer Substanz genau jenen sozialpsychologischen Halt vermittelten, dessen Fehlen jetzt von Experten demokratischer Herrschaftstechnik moniert wird. Adenauers "keine Experimente", Schmidts "Modell Deutschland" und sogar Kohls "geistig-moralische Erneuerung" gewannen Strahlkraft aus ihrer stupid-blöden Eindeutigkeit, während Schröders "Innovation und Gerechtigkeit" so klingt, als hätte Willy Brandt gesagt: "Mehr Demokratie und mehr Diktatur wagen."

Die Uneindeutigkeit der Parole Schröders geht aber auf ein tatsächliches Dilemma zurück. Wegen der "Gerechtigkeit" wählten ihn die Verlierer der Kohl-Ära, wegen der "Innovation" bekam er die Stimmen der Neuen Mitte. Jetzt buhlen zwei Verlobte um die Einlösung des Heiratsversprechens, doch an ihre historischen Verdienste kann die SPD nur anknüpfen, wenn sie die Dreiecksbeziehung irgendwie durchhält. Entsprechend appellierte Schröder vor einigen Wochen im Vorwärts: "Und ich bin sicher: Unsere Bevölkerung, die in der hinter uns liegenden schwierigen außenpolitischen Situation in Einmütigkeit und mit großem Gemeinsinn die nötigen Entscheidungen getragen hat - diese Bevölkerung wird auch die vor uns liegenden innenpolitischen Herausforderungen gemeinschaftlich meistern."

So sprechen Dorfbürgermeister bei der Einweihung des neuen Feuerwehrhauses. Der Ton der Rede an das nationale Kollektiv verrät die Schwierigkeiten der SPD, mit einer Situation umzugehen, in der sich die verschiedenen Wählergruppen wie Erpressergangs verhalten: Stimmen gibt es nur für sofortige und spürbare Gegenleistung. Die SPD aber hatte - im falschen Vertrauen auf die alten roten Akklamationsmilieus - die Zeithorizonte etwas großzügiger abgesteckt, zumal nach Regierungsantritt zunächst die Seilschaft der Neo-Keynesianer um Lafontaine abgestoßen werden mußte.

Trotzdem ist vielleicht noch nicht alles für diese Partei verloren. Sieht man sich die bisher von Rot-Grün auf den Weg gebrachten oder geplanten Maßnahmen im Detail an, wird deutlich, daß der Mix aus Steuererleichterungen, Zuwendungen für Familien und Strafaktionen gegen "Sozialschmarotzer" durchaus dafür sorgen könnte, die werktätigen Stützen der Gesellschaft im Bündnis zu halten. Vorausgesetzt, das Bedürfnis nach Orientierung findet bald und wenigstens beim Blick auf den Gehaltsstreifen einen Anker. Zeit ist noch bis Mai: Dann wird in Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt. Sollte die SPD dort verlieren, dürfte Schröders Amtszeit in einer Revolte der parteieigenen Funktionsträger enden. Sozialdemokraten lassen sich nämlich nicht alles bieten.