Schöner schreiben

Gefährliche Orte LXXIV: Die Bergmannstraße ist das neue Zuhause der Jungle World

Schöner Tag im September. Wir treffen uns im "Atlantic", Bergmann- / Ecke Nostitzstraße. "Furchtbares Essen, schlimm", sagt einer der Herausgeber zum Mozzarella-Gericht. Und auch die Gegend ist nicht sein Fall: "Mit der Ecke bin ich noch nie warm geworden." Was wir trinken, ist richtig temperiert. "Hier in der Nähe haben sie Peter Lorenz versteckt, in der Schenkendorfstraße." Kaum vorstellbar an diesem Tag in dieser Gegend. Vom Café aus gesehen, drumherum lauter schicke Wechselwähler, scheint die Lage eher spätsommerlich und maritim: Die leichte Brise und der Name des Cafés - man könnte auch denken, man sei am Meer. Eins zu null für die Bergmannstraße.

Lausitzer Straße? Die war doch okay. Ein feines Büro fast unterm Dach. Eine kleine Redaktion mitten im munteren Kreuzberg. Dabei doch abgelegen genug vom Alltag in SO 36. Unterteilt in Ein-Schreibtisch-Ressorts, der Kollege nur einen Handgriff entfernt, kein weiter Weg zum Kaffee. Fast immer gutes Wetter. Also eins zu eins.

Und gleich um die Ecke war die Wiener Straße, auf der abwechselnd Hochzeitskorsos, Feuerwehreinsätze und Demos für kostenlose Unterhaltung sorgten. Ebenso der Görlitzer Park, das Naherholungsgebiet für den ermatteten Feuilletonisten. Und die "Weiße Taube", die einen in die goldene Zeit zurückversetzte, in der man ohne Wissen der Eltern, aber mit Wissen der Freunde von seinem großen Bruder und dessen Rockerkumpels zum Kickern mitgenommen wurde. Und das ewig florierende, parisienne "Morena", wo moderne Spatzen den Keks zum Kaffee stiebitzten. Das Ganze für ein paar Quadratmeter mehr aufgeben? Nein: zwei zu eins für Lausitzer Straße.

Die Angestellten hätten in den Arbeitspausen auch schwimmen gehen können, im Spreewaldbad. Wenn es denn Pausen gegeben hätte. Und gefährlich war es in der Lausitzer Straße auch nie. Und jetzt ins ungewisse Bergmanngebiet? Wo sie Opium in Möbeln verkaufen und jeder Obstladen nur Tarnung ist? Drei-eins.

Die Bergmannstraße verläuft beinahe genau in Ost-West-Richtung. An einem Ende geht die Sonne auf, am anderen unter. Sie wirkt wie eine rechtwinklige Rinne. An beiden Seiten vier- bis fünfstöckige Häuserfronten, nur unterbrochen von einer Friedhofsmauer und einem Dutzend Nebenstraßen. Obwohl: Die Bergmannstraße ist eigentlich die Nebenstraße. Dafür aber ziemlich frequentiert. Das ändert am Spielstand aber erstmal nichts.

Ein Rundgang bestätigt die Vermutung: Ganz normale Straße, mit Parkreihen, ohne Kurven, mit Straßenlaternen, Bäumen, einem, der den ganzen Tag aus dem Fenster schaut, mit einem türkischen Teenagerkreis, der bilderbuchmäßig abhängt, mit diskutierenden Obdachlosen, mit nichts verkaufenden Händlern und eiliger Kundschaft. Weiter drei-eins.

Wäre die Bergmannstraße ein Mensch - lassen wir diesen Unsinn einmal zu -, man könnte von ihr sagen, sie habe zwei Gesichter. Die westliche Hälfte ist so etwas wie die Arbeitsmeile: Hier verbringt man den Tag. Die östliche, da ist zu Hause, weil sich hier nichts tut wie z.B. auf dem Friedhof. So ein Friedhof sorgt ja immer für eine merkwürdige Stimmung. So auch hier. Wenn das mal nicht abfärbt, und in der Home Story am Ende noch das welke Laub vom Baum fällt. Aber einen Friedhof in der Nähe zu haben, sollte man als Treffer werten, weil Friedhöfe etwas für sich haben. Nur noch drei-zwei.

Gegenüber vom Friedhof befinden sich die neuen Redaktionsräume der Jungle World, die wir uns jetzt mal angucken wollen. Meine Güte sind das viele Hinterhöfe. Aha, Aufgang drei. Wahrscheinlich ganz oben. Hundert Stufen später, tatsächlich: ganz oben. Mann, ist das riesig! Kein Vergleich zur Lausitzer Redaktion. Ausgleich.

"Hallo! Hier ist ja aber noch eine Menge zu tun. Aber ganz schön riesig. Da braucht Ihr wohl eine Telefonanlage, was? Kann leider nicht helfen. Komme nur zum Gucken. Mal eine Frage: Wer will denn wo einziehen? Soso, wollen alle im großen Raum und an den großen Fenstern sitzen. Die sollen doch arbeiten, nicht träumen, haha, und in die drei Zimmer? Korrektur und Layout, Geschäftsführung, und da weiß man noch nicht, habe verstanden. Und hier kommen Raumteiler hin? Ist ja super. Und eine Küche! Sehr gut. Der Ausblick hier ist ja nicht so schön, was meinen Sie? 'Treptowesk.' Genau. Seh' ich auch so. Aber sonst: toll, echt, wirklich toll, hat was. Schöner schreiben, wie? Hehe. Na ja, ich muß los." Ein Tor für die Küche, Halbzeit.

Auf der Treppe sagt jemand aus der Kultur: "Eigentlich ganz gut hier. Nebenan ist, glaube ich, eine Schauspielschule. Mal gucken, ob da ein paar korrekte chicks dabei sind. Beim Italiener gegenüber war ich schon essen. Dorthin kann man seine Eltern einladen, obwohl es da gar nicht so teuer ist." Anpfiff.

Zwischen Ost- und Westteil liegt der Marheinekeplatz. Auf ihm gibt es eine kleine Grünanlage mit Bänken, absolut geeignet für Interviews mit Cem Özdemir oder so. Am Marheinekeplatz findet sich die Alternative zum Italiener, ein Mexikaner, außerdem die Passionskirche, wo an manchen Tagen Popkonzerte stattfinden, so ausgeflippt ist Berlin, und die Post, so nah bei der Jungle World, daß sich ein Postfach lohnen würde, wenn es sich denn lohnen würde. Und da gibt es ja noch die gute alte Markthalle. Für die Fotoredaktion der Jungle World sicher nicht nur ein Einkaufsparadies: viele süße Sachen zum Abfotografieren und Texte-Illustrieren. Pfosten, Latte und Abseits.

Einparken im Westteil muß der Horror für jeden Fahrschüler sein. Zu rasant, zu eng und zu verboten verläuft der Verkehr auf der schmalen Fahrbahn. Dazu kommt, daß die tausend Läden ja auch beliefert werden wollen. Da gerät der Fahrradkurier leicht mal unter einen Laster und das der Jungle World angebotene Geheimdossier schnell in falsche Hände. Gefährlich.

Eine Kugel Eis kostet in der Bergmannstraße eine Mark. Auf einem Aufkleber im Schaufenster einer Wäscherei steht zu lesen: "Hose 3,95", eine Pizzeria wirbt für ihr Angebot mit "Mini-Pizza 2,-. Runde Pizza 3,-". Man scheint sich zu verstehen, hier im Kiez. Für den Spielverlauf unerheblich.

Die Kneipe "Turandot" wäre eine würdige Nachfolgerin der "Weißen Taube". Fernseher ist schon da, Fußball läuft auch. Der halbe Liter Bier kostet fünf Mark fünfzig, das ist in Ordnung, aber der Kicker, wo ist der Kicker? Kein Kicker? Kein Kicker. So, und nun mal gucken, wer der Nachfolger des "Morena" wird, das auch dafür gut war, all die Magazine zu haben, die das eigene Archiv nicht abonniert hat. "Atlantic" fällt weg, und ansonsten ist kein Ersatz in Sicht. Erneuter Ausgleich. Jubel im Lausitzer Lager.

Entscheidendes Assoziationsspiel mit dem Geschäftsführer. Welche Straße wäre die Lausitzer auf dem Monopolyfeld? "Ganz klar: die Badstraße." Und die Bergmannstraße? "Hmm, wahrscheinlich eine von den hellblauen, ich sag' mal Chausseestraße." Nur Chausseestraße! Elfmeter! Gehalten! Abpfiff. Unentschieden. Rückspiel in zwei Wochen.