Servus, Revolte!

Wie Österreich das Jahr 1968 und die Folgen erlebte: Alles a bisserl kleiner und ohne Gral

So etwa mit zwölf Jahren habe ich zum ersten Mal etwas von Menschen gehört, die sich selbst "68er" genannt haben. Mit dreizehn habe ich sie bewundert. Spätestens mit sechzehn habe ich sie gehaßt. 68er, das waren jene Leute, die man auf bildungsbürgerlichen Gartenpartys traf.

68er, das waren Menschen, die, wenn man einen vernünftigen Gedanken über Militanz als politisches Mittel äußerte, Geschichten von Freunden erzählten, die "auch mal was abbekommen haben", um dann über die "Chaoten" zu schimpfen, die heute jede Reformbemühung zunichte machen würden; Menschen, die jeder Kritik an der Gesellschaft mit einem halb müden, halb verzückten Lächeln und dem Satz "Ich bin ja eigentlich auch ein 68er" begegneten, die aber pampig wurden, wenn sie merkten, daß ihr Gegenüber seine oder ihre Kritik ernst meint.

So war das zumindest in der alten BRD. In Österreich stellt sich das alles etwas anders dar. Als ich Anfang der neunziger Jahre, die wiedervereinigte deutsche Reichshauptstadt hinter mir lassend und der Liebe folgend, nach Wien kam, fiel mir gleich auf, daß es dort viel weniger 68er gibt. Da bleibe ich, dachte ich mir. Nicht zuletzt deswegen, da zu dieser Zeit die Hauptexponenten der Spezies "Berufs-68er" in der BRD Joseph Fischer und vor allem Antje Vollmer waren, die meinten, man könne ruhig wieder deutsch denken, fühlen und handeln, die Bundeswehr weltweit in die Fußstapfen der Wehrmacht treten lassen und im Innern mehr Gemeinsinn einfordern, da ihre Generation, eben jene legendären 68er, die deutsche Gesellschaft "gründlich zivilisiert" habe.

Tatsächlich Adäquates zu derartigen zivilgesellschaftlichen Kriegstreibern und -treiberinnen mit nationalistischem Einschlag fand ich in Österreich nicht. Leute wie den Ex-Trotzkisten Georg Hofmann-Ostenhof, Auslandsredakteur und Kommentator des Nachrichtenmagazins profil, der heute eine seiner Hauptaufgaben darin sieht, jegliche Re-Nationalisierungsbestrebung des neuen Großdeutschland zu leugnen, kannte ich damals noch nicht. An die deutsche Pastorin und stellvertretende Bundestagspräsidentin kommt aber auch der nicht ran.

Daß es heute in Österreich weniger 68er gibt als in der BRD liegt vor allem daran, daß es dort auch 1968 weniger 68er gab. An den damaligen Aktionen haben niemals so viele Menschen teilgenommen wie im nördlichen Nachbarland. Dementsprechend schwierig ist es auch, jemanden zu finden, der einem etwas darüber erzählen kann.

Auch deshalb waren in Österreich Darstellungen zur Geschichte der Linken jenseits von SPÖ und KPÖ bisher Mangelware. Die wenigen bisher existierenden Bücher über 1968 in Österreich sind in der Regel vergriffen. Etwas über die Linke der siebziger und achtziger Jahre zu erfahren war durch Buchlektüre bisher nahezu unmöglich. Schmerzlich vermißt man in Österreich auch etwas Vergleichbares zu den jährlich publizierten deutschen "Verfassungsschutzberichten", die einen - wenn auch oft mehr amüsanten als informativen - Überblick über die linke Szene geben.

Die meisten jüngeren Linken in Österreich wußten bisher über die Geschichte des Linksradikalismus in der BRD oder zuweilen auch in Italien besser Bescheid als über die Ereignisse in Österreich selbst. Ein wenig könnte sich das nun ändern, da anläßlich des 30jährigen Jubiläums von 1968 einige Publikationen erschienen sind, die sich speziell mit der österreichischen Situation auseinandersetzen.

Wer wirklich noch nichts über 1968 in Österreich gehört hat, ist mit dem Buch von Paulus Ebner und Karl Vocelka sicherlich gut bedient. Die beiden Autoren bieten wenig Neues, liefern aber einen guten Überblick. Sie haben nicht nur die studentische Linke im Blick, sondern beschäftigen sich mit der gesamten österreichischen Gesellschaft Ende der sechziger Jahre. Geschrieben ist das Ganze ein bißchen wie ein Schullesebuch mit vierzeiligen Textbeispielen aus der wilden Zeit.

Ein von Bärbel Danneberg, Fritz Keller, Aly Machalicky und Julius Mende herausgegebener, aufwendig gestalteter Band versammelt Texte, von denen der Großteil bereits an anderer Stelle publiziert wurde. Einige der Beiträge haben auf Grund ihrer Kürze eher fragmentarischen Charakter. Statt systematischen Wissens vermitteln sie jedoch Eindrücke. Besondere Berücksichtigung erfahren die Bereiche Kultur, alternative Lebensformen und die feministische Bewegung. Gerade diese ist besonders hervorzuheben, da die Anfänge der österreichischen Neuen Frauenbewegung in dem Buch von Ebner und Vocelka weitgehend unterbelichtet bleiben.

Daß nicht besonders viele Aufsätze zur linken Geschichte in Österreich existieren, zeigt sich in der vorliegenden Textsammlung daran, daß man sich offensichtlich genötigt sah, auch auf ziemlich miese Elaborate zurückzugreifen. Beispielsweise auf den Text von Martin Staudinger und Klaus Zellhofer über die Entführung des Textilindustriellen Palmers, der zuerst in der Wiener Programmzeitschrift Falter erschienen ist - jenem Blatt, das in Österreich am prägnantesten die Reduzierung von linksradikalen Ansprüchen auf linksliberales Zivilgesellschaftsgeseier und die Verwandlung von Gesellschaftskritik in hippes Lebensgefühl verkörpert und daher am ehesten das Prädikat eines späten 68er-Produktes im Vollmerschen Sinne verdient.

Anstatt einer ernsthaften Auseinandersetzung liefern Staudinger und Zellhofer jene Form von Journalismus, die den Liberalinskis von heute durch die Vermittlung von Atmosphäre ein bißchen Nervenkitzel verschaffen soll. So erfährt man über die Gründe der Palmers-Entführer, sich am bewaffneten Kampf zu beteiligen, und über die Rezeption der Stadtguerillakonzepte in Österreich so gut wie nichts. Dafür weiß man nach der Lektüre, daß die Entführer ihrem Opfer "Naturschnitzel mit Salzkartoffeln, grüne Fisolen und Birnenkompott" serviert haben.

Ganz so wie es Stefan Aust, der Leuten wie Staudinger und Zellhofer wahrscheinlich als großes Vorbild an journalistischer Kompetenz gilt, mit der RAF in seinem Buch "Der Baader-Meinhof-Komplex" vorexerziert hat, modeln die zwei Falter-Autoren die Palmers-Entführer zu zwei armen Hascherln um, die für ihr Handeln keinerlei politische Argumente hatten. Nach Staudinger und Zellhofer werden Menschen zu "Terroristen", weil sie Probleme beim Erwachsenwerden haben und sich in der "Großstadt isoliert" fühlen.

Einer der besten Aufsätze des Bandes stammt nicht von einem 68er, sondern von einem 78er. Lesern und Leserinnen der Jungle World dürfte bekannt sein, daß Franz Schandl bei seiner Kritik an der Nation und am Nationalismus oder auch am linken Antifaschismus - gelinde gesagt - nicht immer ganz treffsicher ist. Das heißt aber nicht, daß er nur Schwachsinn verzapfen kann. Schandl gehört zu jenen, die es schaffen, über die eigenen leninistischen Irrungen aus der Jugend zu reflektieren, ohne gleich allen radikalen Emanzipationsbestrebungen eine pauschale Absage zu erteilen.

Er kritisiert die österreichischen 68er nicht mit dem Ziel, deren revolutionäre Ansprüche zu diskreditieren, sondern mit der Absicht, diese fortzuführen. Wobei diese Fortführung aber nicht in einer einfachen Übernahme besteht, sondern die Auseinandersetzung mit den Defiziten der österreichischen Linken beinhaltet. Eines der größten Probleme der österreichischen Linken sieht Schandl völlig zu Recht in der mangelnden Theoriereflexion und -produktion: "So oft ich auch nachdenke, fällt mir keine einzige wirklich bedeutende theoretische Schrift eines österreichischen 68ers ein."

Eine gewisse Ignoranz gegenüber Theorie scheint auch im Lektorat des Verlags zu herrschen. Wo Schandl auf das Fehlen einer mit dem Theoretiker der bundesdeutschen Studentinnen- und Studentenbewegung, dem Adorno-Schüler Hans-Jürgen Krahl, vergleichbaren Person in Österreich hinweisen wollte, macht der Verlag daraus: "Einen österreichischen Gral hat es nicht gegeben." Eigentlich aber auch ganz hübsch.

Der im österreichischen Feuilleton allgegenwärtige Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann weist in dem Beitrag "Soviel Theorie war nie" darauf hin, daß Erkenntnis in der Linken gerne einer zum alleinigen Gut erhobenen "Praxisrelevanz" geopfert wurde. Während es Schandl jedoch um eine Reformulierung der revolutionären Kritik geht, spürt man bei Liessmann ein Bedürfnis nach jenem "anything goes", jener postmodernen Marotte, nach der alles gleich wichtig ist und im Zweifelsfall auch gleich richtig sein kann.

So kann man vermuten, daß sein Hinweis auf einen Index librorum prohibitorum der Linken nicht nur als nüchterne Feststellung zu verstehen ist, sondern als Bedauern, daß die Linke sich - dem heute angesagten Theorien- und Ansatzpluralismus gemäß - nicht auch ein bißchen bei Heidegger, Jünger oder Spengler, die laut Liessmann auf jener Liste verbotener Bücher gestanden haben und weiterhin stehen, bedient hat.

Daß man solche Autoren nicht unbedingt braucht, um auf den Holzweg zu gelangen und reichlich autoritäre Vereine zu gründen, haben in den siebziger Jahren dann die Maoisten bewiesen. Wie die ursprünglich antiautoritäre Revolte auch in Österreich zum Teil in Parteigründungen mit äußerst rigider Disziplin mündete, hat Wilhelm Svoboda in seinem Buch "Sandkastenspiele" beschrieben. Er liefert eine umfangreiche Darstellung der Organisation und der Tätigkeit des Kommunistischen Bundes Österreichs und dessen "Massenorganisationen". Im Vordergrund steht bei ihm die Bloßstellung der Absurditäten und Kuriositäten, der Schwachsinnigkeiten und der Widerlichkeiten aus dem K-Gruppen-Leben.

Dem großen Gegenspieler des KB, der trotzkistischen Gruppe Revolutionärer Marxisten, widmet Svoboda ungleich weniger Raum in seinem Buch, so daß man trotz der mitunter nervtötenden Diktion weiterhin mit der Broschüre "Trotzkismus in Österreich von den 20er Jahren bis heute", die von der Arbeitsgruppe Marxismus (AGM) herausgegeben wurde, besser bedient ist. Svoboda attestiert der GRM, in der es das Recht auf Tendenz- und Fraktionsbildung gab, einen weitaus weniger autoritären Charakter als dem KB. Dennoch kann er auch der GRM, die bis heute in Form der Sozialistischen Alternative (SOAL) fortexistiert, einen Hang zur Ideologisierung organisationspolitischer Notwendigkeiten nachweisen.

Bei aller verständlichen Süffisanz angesichts des Themas, neigt Svoboda mitunter zu einer unnötigen Gehässigkeit. Besonders zu kritisieren sind seine Ausführungen zur RAF. Die durchaus vernünftige damalige Einschätzung der GRM, daß die Strategie des bewaffneten Kampfes, wie ihn die RAF in der BRD der siebziger Jahre propagierte und praktizierte, zwar abzulehnen sei, alle Linken aber die Gefangenen aus der RAF zu unterstützen haben, hält er für eine romantische Verklärung der Guerilla.

Die Geldbeschaffungsaktion von Waltraud Bock im Jahre 1977 erklärt er zu einem "politisch verbrämte(n) Bankraub". Von Isolationshaft mag er nur mehr in Anführungszeichen schreiben, und der Tod der RAF-Gefangenen in Stammheim firmiert bei ihm unhinterfragt als Selbstmord. Das scheint sich in Österreich inzwischen allgemein durchgesetzt zu haben. Nachdem schon der Falter seine 68er-Serie mit dem Hinweis auf die "Selbstmorde" begonnen hatte, haben auch Paulus Ebner und Karl Vocelka in ihrem Buch keinen Zweifel mehr an den Darstellungen des deutschen Staatsschutzes.

Ein Mangel von allen Neuerscheinungen zum 68er-Jubiläum in Österreich besteht darin, daß kaum auf jene Fragen eingegangen wird, die heute in der Linken heftig diskutiert werden. Einschätzungen zum Verhältnis der Linken zu Nation und Nationalismus oder zum linken Antisemitismus und Antizionismus finden sich ebensowenig wie Hinweise auf die in der Linken kontrovers diskutierten Theorien zur Staats-, Faschismus-, Imperialismus- und Patriarchatskritik oder auch auf die unterschiedlichen Interpretationen der Kritik der politischen Ökonomie. Gerade solch eine Auseinandersetzung mit bisheriger linker Theorie wäre für eine heutige Linke jedoch unerläßlich.

Paulus Ebner/ Karl Vocelka: Die zahme Revolution. '68 und was davon blieb. Ueberreuter, Wien 1998, 224 Seiten, ÖS 291

Bärbel Danneberg/ Fritz Keller/ Aly Machalicky/ Julius Mende (Hg.): Die 68er. Eine Generation und ihr Erbe. Döcker Verlag, Wien 1998, 392 Seiten, ÖS 394

Wilhelm Svoboda: Sandkastenspiele. Eine Geschichte linker Radikalität in den 70er Jahren. Promedia, Wien 1998, 224 Seiten, ÖS 248