Nach Mitternacht

Kann das etwa immer so weitergehen? Die Pet Shop Boys haben eine neue Platte gemacht.

Neil Tennant hat sich eine Perücke aufgesetzt. Die Haare sind wüst toupiert zur Frisur des jungen Beethoven, die Spitzen sind blond gefärbt. Obwohl er eine tropfenförmige Sonnenbrille trägt und er sich wie Groucho Marx die Brauen breit und dunkel nachgezogen hat, erkennt man ihn ganz deutlich. Wie sollte man ihn auch nicht erkennen, seit Jahren begleitet er einen durchs Leben. Direkt neben ihm steht wie üblich Chris Lowe, mit ungerührter Miene trägt er den gleichen Aufzug. Die Pet Shop Boys haben sich feingemacht. Heute gehen sie aus, so machen sie es jeden Abend. Was ist das für eine Nacht.

Im Geflacker des Lichts überrumpelt mich die Musik und zieht mich immer tiefer in den Raum zur Tanzfläche hinüber. Der Weg scheint endlos, und ich erkenne, dass dies gar kein gewöhnlicher kleiner Club ist, wie ich zunächst annahm, sondern eine Disco, wie ich sie schon lange nicht mehr gesehen habe. Alles hier ist größer, bunter und weiter. Imposant fließt die Musik mit Streichern und Chören aus den Boxen und macht die Luft leicht. Ein nettes Mädchen lächelt mir im Vorübergehen zu, und ich lächle zurück, doch nur wenige Meter hinter ihr sehe ich einen hübschen Jungen stehen. Ich steuere auf ihn zu und bahne mir den Weg durch Menschen und Nebel. Es ist ganz leicht. Dann stehe ich vor ihm. Der Junge gibt mir einen Kuss, und ich vergesse vorerst die Zeit. Später sehe ich uns Arm in Arm an einer Säule lehnen, noch später hören wir auf dem Weg zum Ausgang "Closer To Heaven" von den Pet Shop Boys.

In seiner dezenten Art winkt uns Neil Tennant zu. Als wir die Tür öffnen, ist es draußen längst hell. Wir setzen unsere Sonnenbrillen auf, gehen nach Hause, fallen ins Bett und schlafen den ganzen Tag. Neil Tennant stellt mir Fragen: Bekommst du, was du willst? Weißt du, was es ist? Ist es dir egal? Ist das alles? Ist das genug? Bist du vom Weg abgekommen? Wann merkt man, dass man verrückt wird? Wirst du weitermachen? Umkehren? Oder: aufgeben? Gibt es Alternativen?

Während im Halbschlaf seine Fragen noch in meinem leicht verkaterten Kopf umherkreisen, liefert Tennant die passende Antwort selbst: "Glück ist möglich". Glück ist also möglich, denke ich zufrieden. Ein Chor warnt mich, dass es nicht leicht sein werde, ich denke kurz darüber nach, dann ist es schon wieder dunkel, und alles geht von vorne los.

Nachtleben, das älteste Vergnügen der Welt, manchmal kann ich mich an nichts Anderes mehr erinnern. Soll das etwa immer so weitergehen? Als ich Neil Tennant die Worte "You're a vampire / I'm a vampire too" singen höre, sehe ich auf meinem Weg in die Nacht schemenhaft die Stadt wie eine Kulisse an mir vorbeiziehen. Dann erinnere ich mich an das Video zu "New York City Boy". Ein hübscher, blond gelockter Ryan-Phillippe-Doppelgänger wechselt aus Langeweile von der Vorstadt über den Hudson River nach Manhattan und lässt dabei seine Vergangenheit hinter sich, um in einer Edeldisco von den Geheimnissen der Nacht zu kosten. Staunend sieht er die schönen biegsamen Körper der Männer und Frauen, er sieht die nette alte, blass geschminkte Dame mit Blondhaar-Perücke, die stets einen gut gebauten Boy an Leine und Hundehalsband mit sich führt, er sieht sich selbst als Anderen, getaucht in Licht und Rauch. Das "New York City Boy"-Video erzählt die Geschichte des Films "Studio 54", nur erzählt es sie besser, denn es erzählt sie als Zustand.

Die Nacht kennt keine Geschichte, denke ich gerade noch, bevor ich meine Jacke an der Garderobe abgebe und plötzlich meinen Namen vergesse. Nachtleben ist der Zustand der Verwandlung, der ein besseres Leben verspricht, der aber bei Morgengrauen wieder vorüber ist und nur einen Hauch der Erinnerung hinterlässt.

Neil Tennant und Chris Lowe sind mittlerweile 45 und 40 Jahre alt, und die Spuren gefeierter Partys zeichnen ihre Songs. New York, London, Ibiza. Euphorie und Melancholie stecken in der Musik, die Wehmut der Gewissheit, Hoffnung und Sehnsucht liegen in Tennants Stimme. Denn die Suche nach der großen Liebe ist es, bei der es eigentlich um den Wunsch nach einem besseren Leben geht. Bin ich der Einzige in deinem Leben? Warum rufst du mich nicht an? Nur wenn du betrunken bist, sagst du, dass du mich liebst? Ich weiß nicht, was du willst, aber ich kann es dir nicht länger geben!

Flüchtig lese ich Sätze wie diese im Booklet der neuen Pet Shop Boys-CD "Nightlife" und denke: Prima! Das klingt schön. Pet Shop Boys-Texte klingen immer schön. Auf manche Formulierungen wär ich auch gern gekommen. Dann greife ich zur Zeitung, trinke meinen Kaffee und schaue auf die Uhr. Es ist neun Uhr morgens. So spät schon, denke ich, lasse dann die Rolläden herunter, vertreibe das Licht aus meiner Wohnung, stöpsele das Telefon aus und lege mich für heute schlafen.

("Nightlife" ist das siebte reguläre Pet Shop Boys-Album in ihrer 15jährigen Karriere. Produziert wurde es von Craig Armstrong, David Morales und Rollo. Flehende Balladen und treibende Uptempo-Tracks im typischen Ibiza-Disco-Stil wechseln sich dabei ab, die Single "New York City Boy" zitiert augenzwinkernd ihren Superhit "Go West". In dem Stück "In Denial" kommt es zu einem wunderschönen Duett mit der australischen Pop-Sängerin Kylie Minogue. Anspieltips: "The Only One" und "Radiophonic".)

Pet Shop Boys: "Nightlife". Parlophone / EMI