»Stiff Upper Lip«

Zwei Akkorde sind genug

Eine Band geht in die Extreme - AC/DC sind Rock. Ende. Aus.

Die Geschichte beginnt 1973. Gerade hat Malcolm Young seine Band The Velvet Underground aufgelöst, um mit seinem Bruder Angus eine neue zu gründen. Angus soll Lead-Gitarre spielen, er ist zu diesem Zeitpunkt erst 15, seine Schwester gibt ihm den Tipp, eine Schuluniform zu tragen. Dave Evans soll singen. Die erste Single heißt »Can I Sit Next To You« und wird von George Young produziert, dem älteren Bruder von Malcolm und Angus. Wenig später stoßen dann der Drummer Phil Rudd und der Bassist Mark Evans dazu, die Band ist vorerst funktionstüchtig. Doch als Sänger Dave sich eines Tages weigert, auf die Bühne zu gehen, wird er durch den Roadie Bon Scott ersetzt. Die Band denkt verblüffend gradlinig und pragmatisch, bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnen sich ihre Stärken ab.

Scott ist ein berüchtigter Kleinkrimineller. Dass er wegen seiner aktenkundigen Unberechenbarkeit einst von der australischen Armee abgewiesen wurde, hebt sein Ansehen in der Band sehr. Scott ist ein Soziopath und hat ständig Durst, im Februar 1980 säuft er sich schließlich zu Tode. Im März wird er durch den Poeten und Lebenskünstler Brian Johnson ersetzt, im April beginnen die Aufnahmen zu »Back In Black«. Zwanzig Jahre und acht Tage nach Scotts Tod veröffentlicht die Band ihr 17. Album. Dies ist die Geschichte von AC/DC, es ist die Geschichte der größten Rockband aller Zeiten.

Was »Stiff Upper Lip« vom letzten Album »Ballbreaker« unterscheidet? Das Cover ist braun. Das ist alles, was man wissen muss. Es ist wie »Highway To Hell«, »Let There Be Rock« oder »Back In Black«, was sonst. Wären sie eine geringere Band und wären sie nicht von solcher Brillanz und Pracht, könnte man sagen, AC/DC arbeiteten nach dem Motto: Was nicht kaputt ist, muss man nicht heil machen. Doch wir reden hier über Genies. Das muss man sich klar machen. AC/DC sind: Rock. ROCK. Sie sind das Wesen und die Essenz. Sie haben sich seit »High Voltage« nicht entwickelt. Sie machen einfach immer weiter. Warum sollten sie auch etwas verändern? Warum die Magie zerstören? Sehr, sehr früh haben sie nicht nur ihre Formel gefunden, sondern die Formel überhaupt. Heute sind sie das Monument, das bewegungslos in der Gegend herumsteht, unangreifbar und schön. Andere Rockbands sollten aus Ehrfurcht den Kopf senken.

Jeder Song ist wie ein Gebäude, errichtet mit dem einzigen Vorsatz zu rocken. Das ist alles, was AC/DC zu bieten haben, mehr kann man nicht von ihnen verlangen. Und welches andere Ziel, als zu rocken, soll eine Rockband auch haben? (AC/DC würden sich diese Frage nie stellen.) Sollte es jemals ein anderes Ziel gegeben haben, dann wird es bedeutungslos, sobald man der überwältigenden Schlichtheit von »Stiff Upper Lip« lauscht. AC/DC-Songs sind alle gleich gebaut, sie haben einen Anfang und ein Ende. Man weiß immer was kommt, und was kommt, ist großartig. Jeder Song beginnt mit einem Riff, einem Malcolm-Young-Riff. Einfach. Erheblich. Mächtig. Der Riff wird wiederholt, ein paar Mal nur, dann setzt Brian Johnson ein. Er schreit, wie nur er schreien kann. Immer in der gleichen Tonlage. Weil man ihn kaum noch versteht, sind »Stiff Upper Lip« auch keine Texte beigelegt. Aber man darf davon ausgehen, dass sie wieder ganz besonders sind. Das Album beginnt jedenfalls mit den Zeilen: »I warn you ladies / I shoot from the hip / I was born with a stiff / A stiff upper lip«. Platte für Platte setzt Brian Johnson Maßstäbe. Unvergessen, historisch und klassisch sind beispielsweise »Hard as a rock / Harder than a rock« und »I like to slip into something good / I see a young girl in the neighborhood«. Worte des letzten Albums.

Es sind Worte von primitiver Anmut. Es sind Worte, die gesungen werden, weil sie sich gut anhören, es sind die Worte eines Comic-Machos. Es sind die Worte des Rock'n'Roll, es sind also noble Worte, es sind kranke Worte, immer einen halben Kasten Bier neben der Spur. Diese Worte kennen keine Scham und keine Ironie. Aber es sind auch Worte von kalkulierter, konzeptueller und programmatischer Stumpfheit. Niemals in der Geschichte der Popmusik war eine Band, ein Künstler oder eine Künstlerin, kurzum ein Produkt so überzeugend beschränkt und dabei so ausgesucht clever wie AC/DC. Wie ein erfahrener, alkoholisierter Kraftfahrer kennen die Texte den kürzesten Weg von hier zur nächsten Tankstelle. Die Texte sind feingeschliffene Neandertaler-Poesie, Brian Johnson schreit sie uns mit ernster Miene entgegen, damit wir über sie lachen.

Dann setzt die Band wieder ein. Phil Rudd spielt die Drums, als würde er eine Scheune bauen. Seit er 1995 nach 13jähriger Pause erneut mit dabei ist, haben AC/DC wieder diesen unvergleichlichen Holzhammer-Groove. Wenig später spielt Angus Young ein Solo, ein Solo, wie nur er es spielen kann. Danach wird es lauter, dann schaukelt sich das ganze zum Höhepunkt hoch, dann kommt das Ende. Mit einem Rumms oder Brenng oder Twäng. Es hallt noch ein oder zwei Sekunden nach, dann ist Schluss. Bei »Give It Up« und »All Screwed Up«, und bei »Can't Stand Still« und »Can't Stop Rock'n'Roll« sowieso.

Wie ihre erste Single wurde »Stiff Upper Lip« von George Young produziert, die Platte zeigt und kann alles, wofür AC/DC stehen. Kein Mehrwert, kein Schmuck, kein Schnickschnack. Kein Konzept, keine Streicher, kein Klavier, also nichts Progressives. Es heißt, »Stiff Upper Lip« sei ihr letztes Album. Doch die Gerüchte sind nicht bestätigt. Wahrscheinlich ist, dass sie noch einmal auf Tour gehen werden. Wer mir bis zu dieser Stelle folgen konnte, ist schon längst losgerannt, kauft sich die Platte und spart für die Karten. Gut so. Für alle anderen noch ein weiterer Gedanke.

AC/DC hätten Punk überflüssig gemacht, wäre Punk nicht das Werk überspannter, bourgeoiser Kunststudenten gewesen. Im Vergleich zu AC/DC sind die Sex Pistols wie Emerson, Lake & Palmer. Punk brauchte drei Akkorde, doch Angus Young kommt seit 27 Jahren grob geschätzt mit zwei Akkorden aus. AC/DC sind Minimal-Rock, überschaubar und mit viel Luft zwischen den Tönen. Ihre Mittel sind begrenzt, aber zweckmäßig. Wären sie Architekten, wären sie Mies van der Rohe. Sie haben das strengste denkbare Sounddesign. Wären sie Techno, wären sie Basic Channel. Aber sie sind Rock. Deshalb tragen sie schmutzige Hosen und riechen nach Rauch und Bier. Für »Stiff Upper Lip« bekommen AC/DC vier von fünf Punkten. Sie bekämen die volle Punktzahl, wäre auf dem Cover eine Kanone drauf.

AC/DC: »Stiff Upper Lip«. Eastwest