Michael Roes' »Haut des Südens«

Der Hass und die Haut

Der Berliner Autor Michael Roes dekonstruiert in seinen Romanen die kulturellen Konzepte von »Geschlecht« und »Rasse«.

Form ohne Inhalt wäre Design«, sagt Michael Roes. Der Berliner Autor gehört zu den Ausnahmen in der deutschsprachigen Literatur. Er biedert sich weder der Pop- noch der Feuilleton-Literatur an - zwei Sparten, die mehr miteinander zu tun haben, als gemeinhin behauptet wird, immerhin teilen beide die Absicht, gut situierte Mittelschichten durch Storys mit Wiedererkennungswert zu unterhalten -, und er hat dennoch literarischen Erfolg, allerdings nur bei einem überschaubaren Publikum. Denn der 1960 am Niederrhein geborene Autor, der für seinen Jemen-Roman »Leeres Viertel Rub al-Khali« 1997 mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde, schreibt für seine Generation untypisch inhaltslastige Bücher. Er bewegt sich in einem Grenzbereich zwischen Literatur und Wissenschaft, den er allerdings nicht als solchen anerkennt. Roes weiß, dass die vermeintliche Objektivität der Wissenschaft nur eine Konstruktion ist, ein Herrschaftsdiskurs, und hat sich auch deshalb der literarischen Form zugewandt. »Ein Roman, der Erkenntnisse vermittelt, ist nicht weniger wissenschaftlich als so genannte Wissenschaft.«

Das ist an sich noch nicht besonders sensationell. Bücher, die Erkenntnisgewinn versprechen, sind immer geschrieben worden. Der Bildungsanspruch des Literarischen, eine Form des Edutainment, gehört zum traditionellen bürgerlichen Programm. Was Roes allerdings von anderen Autoren unterscheidet, ist seine Form der radikalen Kulturkritik. In seinen Büchern geht es um sozial-kulturelle Konstruktionen, insbesondere um die Kategorien »Geschlecht« und »Rasse«. In dieser Hinsicht ist er ein radikaler, man kann sagen linker Autor. Einer, der behauptet, dass man heute »gar nicht links genug sein kann«, und der dennoch von der Linken fast völlig ignoriert wird. Wohl auch das macht Roes so sympathisch: Man kann ihn nicht eingemeinden, er bleibt in jeder Hinsicht uncharakteristisch und sperrig. Trotz seiner Auszeichnungen ist er erstaunlich wenigen Lesern ein Begriff, was wohl auch daran liegen dürfte, dass seine Bücher dem Literaturbetrieb zu inhaltlich, den an seinen Themen interessierten Lesern zu literarisch und dem schwulen Publikum nicht schwul genug sind.

Die letzten drei Veröffentlichungen von Roes, allesamt im Berlin-Verlag erschienen, sind großartige Bücher. Der Roman »Leeres Viertel Rub al-Khali« von 1996 erzählt die Geschichte zweier Forschungsreisender im Jemen - einmal im 18. Jahrhundert, einmal heute. Für beide wird die Begegnung mit dem Fremden zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und sich selbst; und beide nehmen bei dieser Begegnung nicht die Position der weißen Wissenschaftler ein, sondern sie erkennen ihre eigene Subjektivität und suchen eine Art Assimilation. Durch die Teilhabe an der »anderen« Realität verändern sie sich. Gleichzeitig ist »Leeres Viertel« eine wissenschaftliche Arbeit. Seitenweise beschäftigt sich Roes mit der Theorie des Spiels, notiert die Zeitvertreibe der jungen Jemeniten, erkundet, warum das Theater in diesem Land keine Tradition besitzt.

Das Buch verletzte alle Regeln des Geschäfts - es war zu dick, bot der Leserschaft kaum Identifikations- und Wiedererkennungsmöglichkeiten, brach die Dramaturgie der Spannung immer wieder bewusst ab - und wurde dennoch zum meistverkauften Titel Roes', zum Auslöser »einer fast schon hollywoodesken Erfolgsgeschichte«, wie er selbst sagt. Denn vorm Erscheinen von »Leeres Viertel« war Roes' Verleger Matthias Gatza der ihn heute noch lektoriert, mit seinem Kleinverlag pleite gegangen. Gatza, der bei Wagenbach gelernt hat, landete im Berlin-Verlag, und mit ihm kam auch Roes dorthin. »Leeres Viertel Rub al-Khali«, dieser merkwürdige Hybrid aus Abenteuerroman, Reisemotiven und wissenschaftlicher Studie brachte Roes den Durchbruch.

Sein nächstes Buch, »Der Coup der Berdache« (1999), geht noch einen Schritt weiter. Roes montiert hier einen Krimi, der Geschlechteridentitäten und Rassismen nachzeichnet und karikiert. Ein schwarzer, schwuler Kommissar wird auf einen Fall angesetzt, bei dem ein Undercover-Polizist in einem SM-Club skalpiert worden ist. Kommissar Thor bittet eine als Mann geborene Native American, die den in indianischen Gemeinschaften verbreiteten Geschlechterwechsel vollzogen hat, ihr etwas über ihre Kultur zu erzählen. Dabei setzt er (und der Leser) sich mit einem sozialen Konzept auseinander, das nicht auf biologischen Geschlechterrollen basiert. Thor erfährt nicht nur mehr und mehr über die Vernichtungsgeschichte der nicht-weißen Bevölkerung, sondern auch über sich selbst und gewinnt Distanz zu »seinem« Staat. Dritter im Bund ist ein Transvestit, der als glücklicher Familienvater lebt und dem Kommissar Aufzeichnungen über seine eigene Geschlechtsidentität zur Verfügung stellt.

»Haut des Südens«, seine jüngste Veröffentlichung, führt die Identitätsdiskussion fort. Das Buch ist ein Reisebericht, hat aber auch etwas Romanhaftes. Der Erzähler reist den Mississippi hinunter und erforscht dabei den US-amerikanischen Rassismus. Er collagiert Zeitungsartikel über die erst Mitte der sechziger Jahre beseitigte institutionelle Apartheid im Süden der USA. Er sammelt Zeugnisse der Sklaverei und der Lynchjustiz, zitiert Herman Melville (»Moby Dick«), Mark Twain und William Faulkner, arbeitet deren Sicht auf Haut und soziale Kategorien heraus und spielt gleichzeitig mit den literarischen Formen dieser Autoren. Roes kann mit vielen Stimmen sprechen, er wechselt die Tonlagen und bleibt gerade dadurch seinen Themen verbunden. Es gibt Reisenotizen, Zeitdokumente, gospelartige Trauergesänge und Predigten, und trotzdem wirkt das Ganze zurückhaltend erzählt.

An diesen Beispielen dürfte deutlich werden, dass bei Roes die ansonsten so verpönten programmatischen Absichten ihren Platz haben. Er vermittelt Inhalte, man könnte auch sagen »Botschaften«. Bei den letzten beiden Büchern werden diese explizit formuliert: »Es geht darum, dass das, was wir ðRasseÐ und ðGeschlechtÐ nennen, eben keine biologischen Tatsachen, sondern soziale Konstrukte sind. Wir wissen von indianischen Gesellschaften, die sechs und mehr soziale Geschlechter kannten, z.B.: ðHyper-MännerÐ, ðMännerÐ, ðFrau-MännerÐ, ðMann-FrauenÐ, ðFrauenÐ und ðHyper-FrauenÐ. ðMann-FrauenÐ konnten über einen Kleiderwechsel in die soziale Rolle der Männer schlüpfen und heirateten andere Frauen. Weil es ein anderes Elternkonzept gab, war es kein Problem, eigene Kinder zu haben. Die Schwestern der Mutter waren alle Mütter und die Brüder des Vaters alle Väter.« Dass Roes dieser Untersuchung die Struktur eines Kriminalromans zu Grunde legte, ist nur eine logische Folgerung. Schließlich gehe es beim Schreiben auch darum, jenen etwas zu schildern, die sich in anderen Formen mit einem Thema nicht auseinandersetzen würden.

In »Haut des Südens« konzentriert sich Roes auf das kulturelle Konzept »Haut«. Der Erzähler leidet an einer Hauterkrankung, sein Reisebegleiter ist Afrikaner, und beiden wird ständig in Erinnerung gerufen, wie ihre Oberfläche aussieht. Wenn man das liest, spürt man hinter aller klugen Zurückhaltung Roes' Wut. So gesehen könnte man das Buch im positiven Sinne sogar als agitierend bezeichnen: Es bewegt, fordert Einspruch ein. Und dennoch kommt Roes ohne Plattitüden aus.

Er schreibt Melvilles »Moby Dick« neu, wo es zur utopischen Männerfreundschaft zwischen dem euroamerikanischen Erzähler und einem »Wilden« kommt: gleichberechtigt, verantwortlich, sexuell. Eine Begebenheit, über die man als normaler Melville-Leser voller Verdrängungsbereitschaft gerne hinwegliest. »Selbst im Verlag«, so Roes, »wollte man nicht wahrhaben, dass das eine sexuelle Beziehung ist. Und das obwohl die ðHochzeitsnachtÐ zwischen den beiden Freunden explizit beschrieben wird.« In dieser Auseinandersetzung offenbart sich »Moby Dick« erneut als radikales Buch. »Melville hat gegen Schiffshierarchien angeschrieben und die herrschende Farbmetaphorik umgedeutet. Der weiße Wal als Symbol des Bedrohlichen.«

Dabei geht es Roes nicht einfach nur um die Interpretation eines Klassikers. Er thematisiert die Verantwortung der Literatur bei der Schaffung kultureller Diskurse und Konstruktionen. Er zeigt, wie vage die Ablehnung des Rassismus durch Mark Twain war oder wie ambivalent sich Faulkner gegenüber der US-amerikanischen Apartheid verhielt, und damit macht er den Autor zu einem Akteur, der sich - ob er will oder nicht - immer politisch positioniert.

Das ist so vielschichtig, dass man immer wieder auf neue Aspekte stößt. Roes schreibt radikal, ganz ohne radikalen Gestus, und doch in konsequenter Form. Ein Autor, den man für sich entdecken sollte.

Michael Roes: Haut des Südens. Eine Mississippi-Reise. Berlin-Verlag, Berlin 2000, 259 S., DM 36