Berliner Musik-Biennale

Der Ruf der Saurier

Die neue Berliner Ökonomie opfert die radikale neue Musik. Die Biennale soll populärer werden.

Wer hätte das gedacht, dass einem die alten kalten Krieger noch einmal sympathisch werden könnten? Nun, sympathisch ist vielleicht das falsche Wort, eher geht es um das, wofür diese Figuren zur Zeit unter dem Beifall des Publikums abgewatscht werden, mit dem Ziel, sie aus der politischen Öffentlichkeit zu entfernen. Seitdem vor einigen Wochen herauskam, dass Klaus Landowsky, der Prototyp jener gusseisernen Konservativen, Parteifreunde mit Krediten versorgt und Parteispenden nicht ordentlich verbucht haben soll, schießt sich die journalistische Meute auf die »Saurier des alten Westberlin« ein und zieht gegen die »Mittelmäßigkeit«, den »Mief« und den »Filz« der Berliner Politik zu Felde.

Die veröffentlichte Meinung agiert dabei zweifelsohne mit dem Rückenwind der historischen Tendenz. Wie schon die Kohl-Affäre unterstrichen hat, geht die alte postfaschistische Demokratie, jenes System des unmittelbar etatistisch regulierten, kollektiven Lobbyismus der Verbände und Parteien, ihrem Ende entgegen.

Wenn eine gesellschaftliche Regulationsform zugrunde geht, dann ist für einen materialistischen Kritiker jede Nostalgie zwar unangebracht, aber zu benennen, was dem unbarmherzigen Vormarsch der historischen Bataillone zum Opfer fällt, ist seine Pflicht. Platt gewalzt werden erst einmal jene gesellschaftlichen Sektoren, deren Lobby am schwächsten ist, die so genannte Hochkultur, und hier besonders die neue Musik. Als »phantastisch vorweggenommener, imaginärer Überbau einer realen Revolution« (Heinz-Klaus Metzger im Programmheft der Biennale) widerstrebt sie der Institutionalisierung, und doch ist die bürokratische Verwaltung ihre einzige Möglichkeit, in der verwalteten Welt zu überleben. So totalitär ist diese beschaffen, dass das Gesetz der Cliquenbildung noch die ergreift, die ihr opponieren.

Die von Reaktionären aller Spielarten gerne geäußerte Häme über das sich abfeiernde »Spezialistentum« der neuen Musik bekommt nun in Zeiten der Krise, da allerorten gegen »verkrustete Strukturen« gewettert wird, neuen Auftrieb. Nun wird gegen die neue Musik als ein Segment einer »verstaubten« und »unzeitgemäßen« »Hochkultur« mobilisiert, als hätte in dieser Hinsicht die Kulturindustrie nicht schon in den letzten hundert Jahren ein einziges Werk der Verwüstung vollbracht. In Joachim Sartorius, dem neuen Leiter der Berliner Festspiele, wird sie einen entschlossenen Erfüllungsgehilfen finden.

Er will in Bezug auf die Musikbiennale, das Berliner Festival neuer Musik, die »Bastion der Hochkultur schleifen« und stattdessen eine »auf die ganze Welt gerichtete große Offenheit« walten lassen. Praktisch heißt diese Offenheit, dass für die langjährige künstlerische Leiterin der Biennale, Heike Hoffmann, die Schotten dicht gemacht wurden: Sartorius hat sie kurz nach seiner Berufung entlassen. Hei-ke Hoffmann, die das Prädikat »altmodische Aufklärerin« als Kompliment verstehen dürfte, stand und steht für ein klar umrissenes Konzept. Auf der Biennale wurden die bekannten und weniger bekannten, in ihren Ausprägungen denkbar unterschiedlichen Werke der musikalischen Avantgarde in oft beispielhaften Interpretationen gespielt, ausgeschlossen war nur der zeitgeistige neotonale Quatsch jeglicher Couleur.

So wie es aussieht, wird sich dies nun unter Sartorius' Federführung ändern. Zwar wird die künftig zur Gänze vom Bund finanzierte Biennale nun jährlich stattfinden, aber mit deutlich veränderten Schwerpunkten. Neue Musik ja, aber dann die gemäßigte, die allen wohl und niemandem weh tut, und, überhaupt, statt »elitärer Opusmusik« - so das neueste verabscheuungswürdige Schimpfwort - mehr Klangkunst, Multimediainstallationen und Performances, also jene Musik, die irgendwo zwischen Dudelfunk mit regelmäßiger Staudurchsage und Kaiser's Einkaufsradio angesiedelt ist und die in ihrer vollendeten Gestaltlosigkeit die ideale Projektionsfläche um ihren lebendigen Objektbezug gebrachter, sich selbst bespiegelnder spätkapitalistischer Konsummonaden darstellt. Vielleicht ist aber das letzte Wort auch noch nicht gesprochen. Namhafte Exponenten der Berliner Szene kündigten am Rande der Biennale Widerstand an, den zu organisieren eine lohnende Aufgabe für die nächste Zeit ist.

Wie auch immer der Konflikt enden wird: Mit dem Weggang von Heike Hoffmann wurde die diesjährige Biennale eine Abschiedsvorstellung, und sie geriet äußerst beeindruckend. Neben Vertretern der französischen musique spectrale bilden die allesamt leider viel zu früh verstorbenen und hierzulande immer noch nahezu unbekannten Exponenten der seriellen Bewegung, Jean-Pierre Guézec, Jean Barraqué und sein Schüler Bill Hopkins, einen Schwerpunkt des diesjährigen Festivals. Aus Barraqués leider schmal gebliebenem Oeuvre wurden vier Werke in allesamt großartigen, teils erstmaligen Aufführungen realisiert.

Das Klangforum Wien, vielleicht das beste Ensemble für neue Musik derzeit, spielte Barraqués »... au delà du hasard« sowie »Le temps restitué«. Es handelt sich dabei um zwei Ensemblestücke mit Singstimme(n) aus einem Zyklus nach Texten von Hermann Brochs »Der Tod des Vergil«, den Barraqué nicht mehr vollenden konnte. Obwohl über 30 Jahre alt, wirkten die Stücke, zumal in der fabelhaften Aufführung durch das Klangforum, gänzlich frisch. Auch Herbert Hencks Wiedergabe von Barraqués früher »Sonate pour piano« bestach durch großen Nuancenreichtum des Anschlags und ungemein differenzierte Dynamik. Das Werk geriet dadurch ungemein plastisch und durchhörbar.

Barraqué war ein gänzlich eigenwilliger Vertreter seriellen Komponierens. Seine Werke sind als Folge kleinteiliger Felder konzipiert, woraus ein gleichsam permanent gestauter musikalischer Zeitverlauf resultiert, der im Gegensatz zum flächiger arbeitenden Boulez ungleich sprunghafter, unberechenbarer wirkt und in seiner zum Teil labyrinthischen Dichte an Montagen von Traumsequenzen nach surrealistischem Vorbild gemahnt. Anders das vom Ensemble Modern aufgeführte Concerto für Vibraphon, Klarinette und Ensemble, das sich wie ein Rezitativ in Permanenz ausnimmt und in seinem freien Schwingen wohl dem recht nahekommt, was Adorno als musique informelle vorschwebte: Verbindlichkeit aus freier, konsequenter Durchbildung des musikalischen Materials.

Beeindruckend auch die von Nicolas Hodges vorbildlich realisierten Klavierstücke des 1981 mit nur 38 Jahren verstorbenen englischen Barraqué-Schülers Bill Hopkins. Insbesondere seine »Etudes en serie« beziehen das, was gemeinhin als musikalische Verzierung gilt - Triller, Vorschläge, Glissandi - in die serielle Materialformung ein. Das Resultat ist eine Klaviermusik, die an Virtuosität und gleichsam flutendem Klanggestus alle anderen Klavierkompositionen serieller Provenienz in den Schatten stellt und in ihrer Ausdruckskraft öfters an Alban Bergs Klavierkadenz aus dem Kammerkonzert gemahnt. Von Jean-Pierre Guézec schließlich gab es, wiederum in deutscher Erstaufführung, die »Suite pour Mondrian« von 1962/63 zu hören, ein trotz mancher schönen Stellen insgesamt recht didaktisch geratenes Stück, sowie das umso farbigere und spannendere »Ensemble multicolore 65«.

Von den nicht unmittelbar zum Schwerpunkt gehörenden Wiederaufführungen sind die Orchesterwerke zweier Komponisten besonders erwähnenswert, die, was ziemlich aus der Mode gekommen ist, ihre Arbeit als politische begreifen: Nicolaus A. Huber und Mathias Spahlinger. Hubers »En face d'en face« von 1994 nahm sich, obwohl kein Instrument einen periodischen Grundschlag artikulierte, aus wie ein von heftigen, ungemein gut ausgehörten Attacken zerfetzter Kondukt. Spahlingers »passage/paysage« von 1989/90 ist ein von der ersten bis zur letzten Minute spannungsgeladenes Stück, mit unerhörten Klangfarbenübergängen und atemberaubenden Beschleunigungseffekten. Die Schlusspassage, in der schier nicht enden wollende knallende Bartók-Pizzicati der Streicher allmählich ausfransen, mit dem Effekt, dass das Orchester wie eine riesige Ratsche klingt, stellt einen der atemberaubendsten Schlüsse in der neuen Musik überhaupt dar. Hervorragende Wiedergabe durch das SWR-Sinfonieorchester unter Michael Gielen.

Von den Uraufführungen schließlich waren besonders bemerkenswert die »Six Canons« für Ensemble des französischen Komponisten Brice Pauset. Der Reichtum an Klangfarben bei auch formal überzeugender Faktur macht dieses vom Klangforum Wien gespielte Stück zu einer der schönsten Erfahrungen der Biennale. Formal vielleicht nicht ganz geglückt, aber in der Klangfarbenbehandlung des großen Apparats eines der besten Orchesterstücke, die in letzter Zeit komponiert wurden, war »Hologram« der slowenischen Komponistin Larisa Vrhunc. Umso bedauerlicher, dass die beiden unter Sartorius wohl kaum noch eine Chance auf weitere Aufträge haben. Schlechte Zeiten also für die radikale neue Musik.