Neues Album von Air

Brillant überspannt

Progressive Rock als Wille zum verquasten Konzept: Air geben sich ein neues Image.

Es begann Ende der sechziger Jahre, als es der trendbewussten Jugend in der Welt ihrer Eltern wieder einmal zu eng wurde und sie eine Revolution gegen die zivilisatorischen Zwänge versuchte. Ihr heilversprechendes Mittel war dabei die Liebe zur Natur. Sie ließ sich die Haare wachsen, rasierte sich nicht mehr und ging barfuß über die Straße.

Zur Intensivierung ihrer Gefühlswelt nahm sie gute Drogen, schlechte Drogen, und vor allem nahm sie auch sehr viele Drogen und vergaß darüber dann schließlich die Zeit. Musikalisch drückte sich dieser Umstand darin aus, dass die Songs immer länger wurden und damit auch die Gitarren-Soli, die Orgel-Soli, die Schlagzeug-Soli und alle Soli überhaupt. Die trendbewusste Jugend wälzte sich darüber vor Freude im Schlamm, auf dass sie eins werde mit der Erde, der Mutter Natur und damit auch mit sich selbst. So sah man es in Woodstock, und so sah man es bald überall.

Doch die neue Bodennnähe führte zu wenig mehr als zu schmutzigen Hosen, weswegen in Michelangelo Antonionis Film »Zabriskie Point« ein verwirrter Hippie-Junge eine Propellermaschiene kapert, in die Wüste fliegt und dort mit einem verwirrten Hippie-Mädchen so lange Sex hat, bis in Sichtweite aus bislang ungeklärten Gründen eine Villa explodiert - was alles in allem ein recht rätselhaftes Bild für die allgegenwärtige Ratlosigkeit war. Die Musik zu dieser Szenerie lieferten Pink Floyd.

Pink Floyd waren damals eine Band, die ihre naturverbunden-psychedelische Phase gerade hinter sich hatte und auch die Erkundung der Innerlichkeit mit der Entlassung ihres zunehmend wahnsinnigeren Chefs Syd Barret abgeschlossen hatte. Sie sangen nun nicht mehr von Kobolden und Feen, sie richteten ihren Blick nicht mehr aufs Unterholz, sondern ließen ihn in die Ferne schweifen und entdeckten dabei die Weite und dabei die weiteste Weite überhaupt: das All. Dass die Menschheit gerade auf dem Mond gelandet war, traf sich in diesem Zusammenhang gut.

Das All war neu, es war modern, es war progressiv, weswegen die Stilrichtung, in der Pink Floyd fortan musizierten, passender Weise auch Progressive Rock genannt wurde. Bands wie Emerson, Lake & Palmer, Genesis und King Crimson folgten ihrem Beispiel und Yes nahmen 1973 mit »Tales from Topographic Oceans« nicht nur das ultimativ progressive Album auf, sondern auch das uncoolste Album überhaupt. Es waberte so unfassbar schwammig, atmosphärisch und zäh vor sich hin, dass genervte Menschen zwei Jahre später Punk erfanden, um dem selbstgefälligem Gedudel ein Ende zu bereiten.

Eigentlich wäre die Akte Prog-Rock damit für immer geschlossen gewesen, wenn das Leben nicht ein ewiges Werden und Vergehen, Schaffen, Vergessen und Wiederaufbereiten wäre, womit wir endlich beim neuen Air-Album angekommen sind. Es hat mit »10 000 Hz Legend« nicht nur einen sehr progressive-verdächtigen Titel (Bombast, Klangkunst, Ewigkeitsanspruch), vor allen Dingen sieht es auch noch so aus. Vor der Kulisse des Monument Valley sieht man Nicolas Godin und Jean-Benoit Dunckel winzig hinter dem riesigen Panoramafenster einer futuristisch retro-futuristischen Sichtbeton-Villa stehen, die wie in »Zabriskie Point« gewagt auf einem Felsen hervorragt. Der Himmel ist blau, die Wüste ist rot und auf dem grauen Dach steht formschön eine Satellitenschüssel und empfängt vermutlich Signale aus dem All.

Das ist die beunruhigende Nachricht. Die gute Nachricht ist, dass es sich nur bedingt nach Progressive Rock anhört. Zutaten und Gestus mögen sich zwar ähneln, doch die Ökonomie der Mittel ist eine andere. Nennen wir es deshalb New Progressive.

Die »10 000 Hz Legend« handelt nicht von Bärten, 24-stündigen Keyboard-Soli, sie handelt von Robotern, die mit liebeskranker Stimme bei voller Ausnutzung des Stereo-Effekts von Gefühlssensoren und melancholischen Scharfschützen singen. Die »10 000 Hz Legend« ist auch eine traurige Platte. Was sie so beeindruckend macht, sind ihr Sound und ihr unbedingter Wille zur Innovation. Jeder Song ist hier eine komplex und mehrfach gegliederte Mini-Symphonie, die einerseits kühn, andererseits aber auch recht übersichtlich aus denkbar disparaten Zutaten zusammengesetzt ist.

Zum Beispiel »Don't Be Light«. Der Song beginnt mit etwas Elektronischem, blendet dann zu einem Chor über, woraufhin kurz Streicher erklingen, bis sich das Ganze dann zu einem flotten Krautrock-Stück hochjazzt, bevor der Groove unter einer Gitarre kollabiert, die dann einen Spoken Word-Teil einleitet. Hier hätten Air einen Punkt machen können, doch es geht noch weiter mit diesem und jenem und endet schließlich mit Gepfeife.

Air wollen unterhalten. Sie wollen beeindrucken, verwirren, aber nicht langweilen. Sie benutzen Harfen, Polizeisirenen und komische Harmonien. Sie stellen ihren Songs selbst ein Bein und singen in »Wonder Milky Bitch« in schlechtem Englisch (»Wonder Milky Beach«) über tolle Blowjobs. Die aktuelle Single »Radio #1« klingt wie eine Fingerübung des Electric Light Orchestra.

Der einzig vernünftige Song (»Vagabond«) ist eine Kollaboration mit Beck, die wahrscheinlich nur aus Zufall auf das Album gerutscht ist. Seltsam? Seltsam genug, dass Air offenbar allergrößte Anstrengungen unternommen haben, ihr freundliches, angenehm leichtes Image mit diesem ambitionierten, quasi-konzeptuellen und brillant-überspannten Album ein für allemal zu zerstören. Andererseits: Die »10.000 Hz Legend« ist keine Einzelerscheinung. Daft Punk bewegten sich mit »Discovery« von einem anderen Punkt aus in die gleiche Richtung, ähnlich verhält es sich mit Airs ebenfalls französischen Labelkollegen Sebastien Tellier (»L'Incoyable Vérité«) und Rob (»Don't Kill Rob«). Schön.

Und während Frankreich mit mutig eingesetztem Leadgitarren-Spiel, seufzenden Frauenchören, Softrock-Elementen und dem Willen zum verquasten Konzept zu einer New Progressive-Attacke rüstet, melden sich auch alte Helden wieder zurück.

Das Electric Light Orchestra zum Beispiel. Damals standen sie für Prog-Rock der single-tauglichen Art und wollten dabei gleichzeitig wie Beethoven, Mozart, die Beatles, Discopop und Beach Boys klingen. Dazu benutzten sie sehr viel Synthesizer. Denkürdige Resultate ihrer Arbeit waren Songs wie »Evil Woman« und »Don't Bring Me Down«. Ein riesiges, kunterbuntes Ufo machten sie zu ihrem Markenzeichen, in den Siebzigern feierten sie ihre größten Erfolge. Nun sind sie mit »Zoom« zurück und klingen ungefähr wie immer. Wer hätte das gedacht?

Air: »10.000 Hz Legend« (Source/Virgin), Sebastien Tellier: »L'Incoyable Vérité« (Source/Labels/Virgin), Rob: »Don't Kill Rob« (Source/Labels/Virgin), Electric Light Orchestra: »Zoom« (Sony/Epic)