Spekulationen über Castros Nachfolge

Der Patriarch schwankt

Seit Fidel Castros Zusammenbruch während einer öffentlichen Versammlung wird in Kuba über seine Nachfolger spekuliert.

Am Freitag war die Welt wieder in Ordnung. Zehntausende bejubelten Fidel Castro auf einer Protestkundgebung gegen die Verurteilung von fünf Kubanern, die ein US-Gericht der Spionage für schuldig befunden hatte. Am Samstag zuvor hatte Castro auf einer Massenversammlung in Cotorro, einem südlichen Industrievorort von Havanna, einen Schwächeanfall erlitten - ein deutlicher Hinweis darauf, dass der 74jährige entgegen so mancher Beschwörung nicht ewig leben wird.

Die »offenen Tribünen«, von denen Zehntausenden die staatliche Propaganda verkündet wird, sind eine Institution in Kuba, ebenso wie Castros stundenlange Reden bei solchen Gelegenheiten. Diesmal allerdings schwankte er, stolperte durch seine Sätze, las vor, meditierte und wiederholte sich häufig.

Die zentralen Botschaften werden allerdings ohnehin kaum variiert. Das heldenhafte kubanische Volk kämpft gegen die übermächtigen USA, um seine Unabhängigkeit und die Errungenschaften der Revolution zu verteidigen. Die Kritik an der US-Politik ist zweifellos berechtigt, doch Pathos und Vereinfachung überdecken, dass sich Feindbilder langsam auflösen und die US-Regierung längst mit feineren Mitteln zur Sache geht. Als im Hotel Habana Libre kürzlich ein Symposion von kubanischen und US-amerikanischen Wirtschaftsvertretern tagte, sprach die juventud rebelde, neben der Parteizeitung Granma die größte im Land, ganz schlicht von der »Nachbarnation«. Und auch die direkt oder indirekt von FBI und CIA gesteuerten Terrorakte sind in den letzten Jahren weniger geworden. Das sei ein »Ergebnis unserer professionalisierten Abwehr«, sagt Castro. Tatsächlich aber scheint sich die US-Strategie zu wandeln.

Castro wirkte so zerstreut, dass den wenigen, die wirklich zuhörten, auffallen musste, wie schwach der maximo lider auf den Beinen war. Nach zwei Stunden fiel er dann vornüber auf das hölzerne Rednerpult. Sicherheitsleute stürmten die Bühne, die Kameraführung wechselte auf die Menschenmassen. Der kubanische Kanzler und Außenminister Felipe Pérez Roque brüllte ins Mikrofon, dass nun Ruhe geboten und der Schwächeanfall nur vorübergehend sei.

Auf Castros Tod und die dann zu erwartenden Nachfolgekämpfe bereiten sich politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Kreise seit Jahren vor. In Kuba dominiert die Angst vor diesem Moment. »Dann gibt es hier einen Bürgerkrieg«, versichert mir Yoandris mit festem Blick. »Dann geht es hier um alten Besitz, alte Ängste und politischen Hass.« Yoandris Hernandéz ist 20 und hat gerade angefangen zu studieren. Als er geboren wurde, war Castro schon 22 Jahre an der Macht.

Daysi Ramirez, eine Hausfrau und Rentnerin, hat die Revolution von Anfang an unterstützt. Sie teilt Yoandris Einschätzung: »Wenn er stirbt, dann kommen die Gusanos und schmeißen uns aus den Häusern. Wenn wir nicht geschlossen kämpfen, dann bleibt hier nicht viel von der Revolution übrig.« Gusanos (Würmer) werden die Exilkubaner genannt, die in Florida auf ein Ende des Castrismus warten. Viele unterstützen ihre Familienmitglieder mit monatlichen Überweisungen, doch jene, die nach der Revolution enteignet wurden, erwarten zumeist eine Rückerstattung ihres Besitzes, wenn sich nach Castros Tod die Machtverhältnise ändern sollten.

Ob die alte Garde ihre Positionen aufgeben wird, ist aber noch unklar. Seit Monaten hält sich das Gerücht, dass sich der historische Block im nächsten Jahr zurückzieht, wenn turnusgemäß der sechste Kongress der Kommunistischen Partei (PCC) tagt. Der historische Block, das sind all die Militärs und altgedienten Kader, die dereinst die Revolution mit dem Gewehr in der Hand erkämpften. Noch mag kaum jemand an ihren Rückzug glauben.

»Fidel muss in seinen Schuhen sterben, im Büro und nicht anders. Nur so kann er zurücktreten,« meint der Künstler Eduardo Sanchéz. Er malt Mangos und Blumen für Touristen. Sanchéz hat einen »riesigen Schreck« bekommen, als er die Bilder von Castros Schwächeanfall gesehen hat. Den ganzen Tag haben ihn Touristen aus aller Welt auf den Vorfall angesprochen und er hat gut verkauft.

Fidel Castro ist die große Vaterfigur, ein Revolutionär, der zum alternden Patriarchen wurde. Eine Abwendung von seinen Dogmen ist kaum möglich, was Reformen nicht eben erleichtert. In seinen Reden referiert Castro weiterhin detalliert die Errungenschaften der Revolution, doch die konkrete Politik müssen heute schon andere verkaufen: Carlos Lage Dávila, der Wirtschaftsreformer und stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats, des höchsten Beschlussgremiums, in dem aber Castro ein unantastbares Veto hat, und Außenminister Roque. Um sie werden sich wohl jene gruppieren, die ein sozialistisches System erhalten wollen.

Spekulationen dieser Art werden in der kubanischen Bevölkerung eifrig diskutiert. Vermutlich wird die PCC die politischen Vollmachten, die formal bei Castro liegen, auf ein mehrköpfiges Gremium übertragen. Kein einfaches Unterfangen angesichts der internen Machtkämpfe. Das Zentrum bildet die Parteispitze mit dem militärischen Block unter Verteidigungsminister Raul Castro, einem Bruder Fidels. Hier droht ein Interessenkonflikt mit den Reformern, die den Bürokratismus abbauen und den Einfluss des Militärs zurückdrängen wollen. Dabei müssen sie sich nicht allein mit den wenigen alten Kämpfern in der Parteispitze, sondern vor allem mit Korruption und Günstlingswirtschaft in den mittleren Rängen auseinandersetzen.

In den Tagen nach dem ersten öffentlichen Schwächeanfall des maximo líder machten in Havanna Spekulationen und Befürchtungen die Runde. Castro selbst stand nach einigen Minuten wieder und entschuldigte sich mit Sonne und Hitze. »Estoy entero« - »Ich bin ganz« - rief er in die Menge und versprach, seine Rede am Abend im Fernsehstudio der täglichen »mesa redonda« (am Runden Tisch der politisch-propagandistischen Analyse) fortzusetzten. Dort erschien er dann auch, auffällig frisch, fröhlich und quicklebendig.

Janette Habel hat vor Jahren einmal das Dilemma, in dem die kubanische Gesellschaft gefangen ist, so beschrieben: »Seine nationale Souveränität und die hart erkämpften sozialen Errungenschaften verteidigen zu müssen und dabei die Zwänge einer Staatsmacht zu erdulden, die von demjenigen ausgeübt wird, der (...) die revolutionäre Legitimität verkörpert, oder aber (...) sich aufzulehnen und damit die nationale Unabhängigkeit zu gefährden, weil dadurch eine Bresche in den im Namen des Widerstandes gegen das fortgesetzte Störfeuer der US-amerikanischen Regierung aufgebauten Konsens geschlagen würde.«

CNN und der Miami Herald berichteten am nächsten Tag von fröhlichen Anrufern, die Champagnerflaschen knallen ließen, und beteiligten sich an den Spekulationen. Aus der Medienberichterstattung auf der Insel blieb der Zwischenfall allerdings völlig verbannt. Die Fotos von Castro sahen aus wie immer: Kampfanzug, feste Miene oder ein väterliches Lachen. An der Versammlung am Freitag nahm er aber vorsichtshalber im Sitzen teil.