Debatte zum islamistischen Terror in Frankreich

Allegorie und Allergie

Jean Baudrillard steht im Zentrum der französischen Debatte um den islamistischen Terror.

Zwei stolze Doppelseiten in Le Monde standen dem prominenten Autor zu Verfügung, aber er hat sie nach Ansicht des Schriftstellers Alain Minc schlecht genutzt. In dem Moment, in dem Jean Baudrillard den Geist des Terrorismus zu fassen glaube, praktiziere er lediglich geistigen Terrorismus, behauptete Minc in Le Monde vom 7. November über das Essay des postmodernen Denkers. Minc war nicht der einzige, der das so sah und Baudrillards Deutung attackierte.

Auf den ersten Blick muss auffallen - aber es ist nicht allen Kritikern aufgefallen -, dass es sich bei Baudrillards »L'Esprit du Terrorisme« um einen Text handelt, der auf einem hohen Abstraktionsniveau spielt. Es geht darin um die Bedeutung der Ereignisse vom 11. September und nicht um deren unmittelbare Auswirkungen auf die Politik. Das Schlüsselwort des Textes lautet »symbolisch«, es taucht 19mal an wichtigen Stellen des Essays auf, die vielen Synonyme nicht mitgezählt. Denn was Baudrillard interessiert, ist der Zusammenbruch der Twin Towers als »symbolisches Ereignis«, als »das absolute Ereignis, die ðMutterÐ aller Ereignisse, das Ereignis pur, das alle nie stattgefundenen Ereignisse in sich konzentriert«. Die zentrale Überlegung Baudrillards ist diese: Es existiert eine Allergie gegen jede definitive Ordnung, und diese Allergie ist universell - glücklicherweise universell, betont er, und in den beiden Türmen des World Trade Center sieht Baudrillard die definitive Ordnung verkörpert.

Das dahinter stehende philosophische Prinzip lautet, dass es auf Dauer keine Ordnung geben dürfe, die sich aus sich selbst heraus rechtfertigt, denn die Idee, dass das Gute dauerhaft über das Böse in der Geschichte gesiegt habe, sowie »der Ausschluss jeder mächtigen Gegenkraft« hätten dafür gesorgt, »dass das Gleichgewicht gebrochen wurde, und es ist, als ob das Böse (dann) eine unsichtbare Autonomie annehme«. Die »Hegemonie des Positiven über jede Form von Negativität« und den »Ausschluss des Todes« macht Baudrillard an der US-Doktrin während des Irak-Kriegs 1991 fest, derzufolge es keine Toten auf der eigenen Seite geben solle.

Die Dominanz des Systems, fährt Baudrillard fort, »hat sich mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem weltweiten Triumph der liberalen Macht ereignet. In dem Moment taucht ein phantomhafter Feind auf, breitet sich über den gesamten Planeten aus wie ein Virus.« Dabei geht es Baudrillard weder um den Islam (»der Islam ist nur die bewegliche Front, an der sich der Antagonismus herauskristallisiert«) noch um Amerika (»Amerika ist vielleicht das Epizentrum, aber keineswegs die alleinige Verkörperung der Globalisierung«). Denn, schreibt Baudrillard, »dieser Antagonismus ist überall, er ist in jedem von uns«.

In Wirklichkeit sei es die Welt selbst, die der Globalisierung widerstehe. Die Einrichtung einer weltweiten Zirkulation, die durch eine einzige Macht geleitet wird, hätten »alle Singularitäten - die der Arten, der Individuen, der Kulturen« - mit ihrem Tod bezahlen müssen, weshalb sich »alle Singularitäten heute durch einen terroristischen Situations-Transfer rächen«. Dahinter stehe »keinerlei Ideologie oder Politik«, nicht einmal eine »islamische ðSacheЫ. Denn der Wunsch nach symbolischer Zerstörung der allein herrschenden Macht sei in jedem von uns, das Ereignis habe jeder von uns »erträumt, denn man kann nicht anders, als von der Zerstörung einer in diesem Maße hegemonial gewordenen Macht zu träumen«.

Keineswegs hegten nur die »Enterbten und Ausgebeuteten« solche Phantasien, sondern auch »die Reichen und Privilegierten«. Es sei gerade der »radikale Komfort« ihrer Situation, der diese Leute zur Verzweiflung treibe, denn allüberall »revoltieren die Singularitäten in Form von Antikörpern«. Deshalb stehe das dominierende System auch in Komplizenschaft mit seiner eigenen symbolischen Zerstörung, denn »als die beiden Türme zusammengebrochen sind, hatte man den Eindruck, dass sie durch ihren eigenen Suizid auf den Suizid der Selbstmordflieger antworteten«. Kurz, es ist, »als ob die Türme, indem sie von alleine zusammenbrachen, Suizid begingen, in das Spiel eingetreten wären, um das Ereignis zu vollenden«.

In den Augen Baudrillards besteht die Leistung der Terroristen darin, »aus ihrem eigenen Tod eine absolute Waffe gegen ein System gemacht zu haben, dessen Ideal jenes der Doktrin ðKeine VerlusteÐ war«, wie es im Irak-Krieg realisiert worden sei. Die Terroristen hätten gewissermaßen die Singularität, das Absolute zurückgeholt und durch diese absolute Herausforderung das System dazu gebracht, an seinem eigenen Suizid teilzunehmen. Doch keineswegs hätten sie die Realität zurückgeholt, denn das System überlebt, »indem es ohne Unterlass jene, die es bekämpfen, dazu bringt, es auf dem Terrain der Realität anzugreifen, das ihm für immer gehört.«

Mit ihrer Strategie hätten die Terroristen darauf gesetzt, eine Überdosis Realität zu erzeugen, mit dem Ziel, dass das System unter diesem Realitätsexzess zusammenbricht. Allerdings sei ihre Handlung gar nicht dem Reich der Realität zuzurechnen, das der postmoderne Ideologe gern endgültig durch jenes des Virtuellen und Symbolischen besiegt sähe. Und tatsächlich, glaubt Baudrillard, sei die Welt auf dem besten Wege in symbolische Gefilde, denn mit dem Angriff auf die Twin Towers habe sich »die Beziehung zwischen Bild und Realität radikalisiert«. Von den Terroristen selbst in Szene gesetzt, indem sie die mediale Wirkung und die nach dem 11. September ständig in Schleifenform wiederkehrenden Fernsehbilder einkalkulierten, könne man deren Aktionen als »Absorption des Ereignisses durch das Bild« bezeichnen.

Man kann die Ausführungen des Papstes des Postmodernismus absurd finden oder nicht. Auf jeden Fall scheinen einige Rezensenten, die sich in der Folge in erregten Kommentaren über dessen »Rechtfertigung des Terrorismus« empörten, in die Falle einer gar zu wörtlichen Auslegung seiner Darstellungen gegangen zu sein. Insbesondere der Konformist Alain Minc, 1993 bis 1994 Berater des konservativen Premierministers Edouard Balladur und heute Verfasser von Büchern mit so wichtigtuerischen Titeln wie »www.capitalisme. com«, geifert nun in Le Monde gegen die »alten Dämonen des intellektuellen Totalitarismus«, die Baudrillard wiederbeleben wolle.

Seine Kritik an »L'Esprit du Terrorisme« verwechselt die theoretischen Aussagen, die Baudrillard trifft, mit den realpolitischen Zwängen, denen er sich selbst verpflichtet sieht. Zum Beispiel wenn er Sätze wie: »Die Welt selbst widersteht der Globalisierung« als direkten Kommentar auf die Attentate begreift und behauptet, sie spiegelten »die antiamerikanischen Gefühlswallungen, Dritte Welt-freundlichen Reflexe und linksradikalen Reaktionen«, die in der französischen Öffentlichkeit existieren würden. Dagegen setzt Minc seine vermeintlichen Grundwahrheiten und betont die Überlegenheit des »Paares Demokratie und Marktwirtschaft« und verweist auf das Notwehrrecht eines Staates, in das er auch explizit Hiroshima einbezieht.

Zu den Gegnern Baudrillards gehört auch Jacques Julliard, der in der linksliberalen Pariser Libération mit seinem Beitrag »Elend des Antiamerikanismus« auf den Theoretiker antwortet und zugleich die Kriegsgegner angreift, die unter dem Titel »Appell der 113« ein Manifest veröffentlicht hatten. Marx' »Geniestreich«, meint er, habe darin bestanden, »die Philosophie des Proletariats mit jener des Fortschritts zu verbinden«, aber nach dem Niedergang des Marxismus existiere nur noch ein dem Fortschrittsglauben entkleidetes Ressentiment. Vom »autoritären Sozialismus« bleibe nur noch das Autoritäre und vom »antikapitalistischen Terror« nurmehr der Terror übrig. Zwar ist die Grundüberlegung Julliards nicht unbedingt falsch, sie aber ausgerechnet gegen die Kriegsgegner zu wenden, ergibt keinen Sinn. Die zumeist aus der akademischen Linken kommenden Unterzeichner des Appells argumentieren, dass der Kampf gegen das Talibanregime nicht mit Flächenbombardements gewonnen werden kann, »sondern durch Unterstützung der Frauen und afghanischen Widerstandskräfte - gegen ein Regime, das die USA selbst aufgerüstet« haben.

Zwei der Urheber des Appells der 113 haben sich in Le Monde vom 22. November zur tobenden Debatte geäußert. Der Philosophieprofessor Daniel Bensaïd, der zugleich zu den Theoretikern der trotzkistischen LCR zählt, und Willy Pelletier, einer der Köpfe der linkspluralistischen Theorieinstitution Fondation Copermic, widersprechen zunächst Baudrillards Behauptung, die Attentate des 11. September entzögen sich jeglicher Interpretation und gehorchten keinerlei Logik. Sie grenzen sich jedoch sofort von Deutungen ab, nach denen die Terroranschläge eine Art Rache der Enterbten der Dritten Welt darstellten und kommen zu dem Schluss: »Weder Trotzki noch Rosa Luxemburg noch Che Guevara hätten die kriminellen Attentate des 11. September planen können, denn die Logik des Klassenkampfes bricht die Panikreflexe der bedrohten Identität und bricht mit den Zwangszugehörigkeiten aufgrund der Herkunft. (...) Je mehr man den Klassenkampf zu leugnen oder zu verdrängen sucht, wird man (dafür) den Krieg der Ethnien oder Religionen, die heiligen Kriege und den Schock der Barbareien haben. Die alternative Lösung liegt in einem neuen Internationalismus (...). Es ist ein enger Weg. Es gibt keinen anderen.«