»Ethnien wurden konstruiert«

Auf der Konferenz »Talks on Afghanistan« in Bonn könnte die politische Verwaltung Afghanistans auf der Grundlage ethnischer Quoten organisiert werden. Ein Interview mit Conrad Schetter

Auf der Afghanistan-Konferenz in Bonn sollen erstmals Vertreter verschiedener ethnischer Gruppen über die Bildung einer neuen Regierung verhandeln. Sehen Sie darin eine gute Voraussetzung für eine friedliche Lösung des Konflikts?

Hier besteht bereits das erste Missverständnis. Die meisten Teilnehmer der Konferenz haben sich nie als Vertreter der Paschtunen, der Tadschiken oder anderer Bevölkerungsgruppen definiert, sie werden jetzt in diese Rolle gedrängt. Auch die Nordallianz sieht sich nach ihrem eigenen Selbstverständnis nicht als Vertreter der afghanischen Minderheiten. Hinzu kommt, dass niemand genau weiß, wie viele ethnische Gruppen es in Afghanistan überhaupt gibt.

Seit wann spielen die so genannten Ethnien eine bedeutende Rolle in der afghanischen Politik?

Die kulturelle und ethnische Vielfalt des Landes hat lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle für das Zusammenleben und die Konflikte in Afghanistan gespielt. Erst mit der Nationalstaatsgründung Ende des 19. Jahrhunderts wurden die ethnischen Stereotype geschaffen und für das nation building ausgenutzt, denn darüber wurde der Zugang zu staatlichen Ressourcen geklärt.

Zum ersten Mal war in französischen Publikationen in den dreißiger Jahren die Rede von acht verschiedenen Ethnien, in späteren deutschen Veröffentlichungen sind es schon 54 und in einer sowjetischen Studie wurden über 200 aufgeführt. Die Ethnien wurden also nachträglich konstruiert, und zwar von Ethnologen, die nach Afghanistan gingen und dort jeweils ihren eigenen »Stamm« gesucht haben. Die Afghanen selbst haben sich nie nach dieser Kategorie definiert, sondern über die Mikroeinheiten: das Dorf, das Tal, in dem sie leben. Mittlerweile gibt es ethnische Gruppen, die selbst die Afghanen nicht kennen.

Welchen Einfluss hatte der Bürgerkrieg gegen die kommunistische Regierung in den achtziger Jahren?

Die Sowjetunion hat in den achtziger Jahren eine starke Nationalitätenpolitik betrieben, indem sie die Ethnien, die für die kommunistische Regierung in Kabul nützlich waren, besonders gefördert hat. Die Sprachen dieser Gruppierungen wurden plötzlich anerkannt, sie erhielten eigene Zeitungen, der Schulunterricht fand in ihrer Sprache statt. Vor allem aber erhielten diese Gruppierungen auch eine eigene militärische Basis. Die Milizen des Usbeken Rashid Dostum entstanden auf diese Weise.

Auf der anderen Seite haben Pakistan, Iran, Saudi-Arabien und die USA den Widerstand gegen die Regierung in Kabul ebenfalls entlang dieser ethnischen Linie organisiert. Mit dem Sturz der Regierung Najibullah 1992 eskalierte die Situation. Die einstigen Verbündeten mussten sich voneinander abgrenzen. Und da es bei den Mujaheddin kaum religiöse Differenzen gab, griffen sie auf die ethnische Definition zurück.

Eine Mobilisierung der Massen hat aber nie stattgefunden. Dem einfachen Afghanen ist es egal, ob der Präsident nun Paschtune oder Tadschike ist.

Die ethnischen Konstrukte scheinen eine dauerhafte Wirkung zu haben, wenn sie heute als Grundlage der westlichen Politik dienen.

Der Bürgerkrieg dauert seit 23 Jahren an und hat seine eigenen Mechanismen entwickelt. Der Begriff des Gewaltmarktes drückt diese Entwicklung exemplarisch aus - der Krieg selbst hat sich als eine Wirtschaftsform etabliert. Während des Kriegs wurden klientelistische Netzwerke geschaffen, die sich sowohl nach regionalen wie auch nach ethnischen Kriterien zusammensetzen. Der Glaube an eine gemeinsame ethnische Herkunft diente vor allem dazu, diese Netzwerke emotional zu stabilisieren.

Gleichzeitig basieren sie aber auch auf wirtschaftlichen Interessen. Die Warlords, die diese Netzwerke anführen, sind dafür verantwortlich, dass Gelder hereinkommen, sie müssen die wirtschaftlichen Ansprüche ihrer Untergebenen befriedigen. Ein einfacher Warlord bekommt Schutzgelder von der Bevölkerung und kann Zölle für die Straßenbenutzung fordern. Hinzu kommt die Kontrolle und die Verteilung der Gelder aus dem Schmuggel und dem Drogenhandel. Dabei geht es um große Summen, schließlich stammten 1999 etwa 75 Prozent der weltweiten Heroinproduktion aus Afghanistan.

Ist diese Entwicklung mit den so genannten ethnischen Konflikten in Jugoslawien vergleichbar?

Entscheidend ist das Verhalten der so genannten internationalen Gemeinschaft, die glaubt, alles mit dem Begriff des Ethnischen erklären zu können. Die Konstruktion dieser Ethnizität wird völlig ausgeblendet und stattdessen für real gehalten. Auf einen so genannten ethnischen Konflikt wird mit einer so genannten ethnischen Lösung reagiert. Das ist der falsche Weg und führt zu fatalen Lösungen. Das wurde in Jugoslawien falsch gemacht, und ich befürchte, dass man diesen Fehler jetzt in Afghanistan wiederholt.

Wenn eine Verwaltung nach ethnischer Quotierung eingeführt wird, werden diese Konstrukte nur stabilisiert und die ethnischen Probleme unüberwindbar. Bei jeder Wahl, bei jeder Entscheidung werden diese Probleme von neuem auftreten und die staatliche Struktur Afghanistans in Frage stellen.

Wie könnte stattdessen eine Lösung für den Konflikt gelingen?

Die tatsächlichen Machthaber müssen miteinander verhandeln - und das sind nun mal die Warlords. Ideologien und Religion spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Viele Warlords, die bei den Taliban kämpfen, könnten problemlos auf Seiten der Nordallianz oder zu einer anderen Miliz wechseln. Langfristig müssen lokale Vertreter gewählt werden, die dann in Kabul eine Regierung bilden. Man muss also stärker auf die lokalen Strukturen setzen und die Rechte des Individuums wieder betonen - und nicht die der Ethnien.

Welche Interessen stehen einer Entpolitisierung der Ethnizität entgegen?

Man darf nicht vergessen, dass die Nachbarländer Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan gleichnamige Ethnien in Afghanistan vertreten. Wenn man diese ethnischen Konstruktionen entlarvt, würde man auch die jeweilige Nationalideologie entlarven - und damit deren Staat gefährden.

Bei den USA und der UN spielen sicherlich pragmatische Überlegungen und ein hohes Maß an Naivität eine wichtige Rolle. Mit dem Begriff der Ethnizität hat man in einem unübersichtlichen Konflikt eine scheinbar eindeutige Erklärung gefunden. Konflikte als ethnisch zu definieren entspricht auch dem Zeitgeist - damit kann man sehr viel erreichen, wie das Beispiel Jugoslawien gezeigt hat.

Aber der Westen hat natürlich auch eigene Interessen. Afghanistan ist ein weißer Fleck auf der Landkarte, auf den die so genannte Weltgemeinschaft keinen Einfluss mehr ausüben kann. Hinzu kommen wirtschaftliche Interessen wie die Erdöl- und Erdgasvorkommen in Turkmenistan und die Überlegungen, eine Pipeline durch Afghanistan zu bauen.

Um diese wirtschaftlichen Interessen verfolgen zu können, müssen zuerst stabile Rahmenbedingungen geschaffen werden.

So, wie dieser Krieg bisher verlaufen ist, sieht es nicht danach aus. Er wurde begonnen, ohne dass ein Konzept für die Zeit danach existierte. Auch der weitere Verlauf bestätigt dies. Dass die Nordallianz unmittelbar nach dem Abzug der Taliban in Kabul einmarschiert ist, hätte nie passieren dürfen. Damit haben die Exilafghanen und auch die UN kaum noch Einflussmöglichkeiten. Wer die Hauptstadt Kabul hat, hat die Macht im Land. Der Zauberlehrling, die Nordallianz, scheint die USA auszutricksen.

Es spricht wenig dafür, dass auf dem Bonner Petersberg eine dauerhafte Lösung gefunden wird. Wahrscheinlicher ist, dass Afghanistan wieder neu fragmentiert wird - und alles wieder von vorne losgeht. Alles deutet darauf hin, dass der Krieg nur in eine neue Phase übergeht. Die Spannungen innerhalb der Nordallianz sind enorm gestiegen. Die Konstellation erinnert sehr an die Situation von 1992, als das Land in einem Bürgerkrieg versank.

Die Afghanistan-Konferenz in Bonn sei »ein Vertrauensbeweis für Deutschland« hat Staatssekretär Ludger Volmer in der vergangenen Woche erklärt. Welche Rolle spielt die Bundesregierung bei den Verhandlungen?

Die Deutschen wollen mitmachen, weil sie hoffen, darüber endlich einen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erlangen. Die Afghanen trauen ihnen wegen der historisch guten Beziehungen zu, eine Vermittlerrolle zu übernehmen. Deutschland hat nie koloniale Interessen in dem Land verfolgt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die BRD die wichtigsten Entwicklungsprojekte in Afghanistan betreut, die 1979 von den Ostdeutschen übernommen wurden. Hier gibt es also eine lange Kontinuität. Die Bundesregierung hat die Möglichkeit entdeckt, sich auf dem internationalen Parkett zu profilieren.

Conrad Schetter ist Sozialgeograf und Mitarbeiter des Zentrums für Entwicklungsforschung (ZEF) in Bonn