Amerika und die Popkultur

Gaye werden!

Was tun, wenn der Satz »Zivilisation oder Barbarei« in den Besitz von George W. Bush übergegangen ist?

Einige Tage nach den Anschlägen vom 11. September fand im Berliner Velodrom ein denkwürdiges Konzert statt. Der amerikanische Soul-Superstar R. Kelly gab sich die Ehre. Der Auftritt war schon verstrahlt genug, aber der Höhepunkt und Abschluss des ganzen Spektakels war eine endlose, fast zehn Minuten lange Version seines Stücks »I Believe I Can Fly«, das er ausgerechnet den Opfern der Anschläge von New York und Washington widmete. R. Kelly lud das Stück mit einem Pathos auf, das sich nicht einmal Freddy Mercury getraut hätte. Er begann zu singen, als wäre er in einem Musical, verschwand von der Bühne, überließ sie einer R. Kelly-Zeichentrickfigur, die von einer Leinwand weitersang, während Löwen und Zebras vom Himmel fielen. Es war ein ziemlich irres und bizarr-geiles Spektakel, das darauf hinaus lief, dass R. Kelly zum Schluss ganz in die amerikanische Fahne gewandet auf der Bühne stand, einen kleinen Jungen im Arm, der die Finger zum Victory-Zeichen formte.

Wenige Tage später tauchten überall in Berlin die herzallerliebsten und grunderstaunlichen Plakate der PDS auf: »War is not the answer« war darauf zu lesen, und erstaunlich werden sie, wenn man sich in Erinnerung ruft, wo der Satz herkommt. Es ist ein Zitat aus »What's going on« von Marvin Gaye, jenem Stück, das jetzt als Tribute-Coverversion im Musikfernsehen rauf- und runtergespielt wird, das aber eigentlich eines der Stücke war, die 1971 die Politisierung der Soulmusik einläuteten. Der Vietnam-Krieg tobte, diverse Aufstände in amerikanischen Schwarzen-Ghettos hatten stattgefunden und Marvin Gaye stellte sich die Grundfrage, die am Anfang einer jeden Politisierung steht: »What's going on«? Was geht eigentlich ab? Welche Scheiße passiert gerade?

In diesem Jahr ist eine ganze Menge Scheiße passiert. Zunächst einmal gab es da den Globalisierungsgegner, der als politisches Subjekt die Bühne betrat. Vielleicht hatte er sie auch schon ein bisschen früher betreten, zumindest in Europa erreichte er aber in diesem Jahr die größte Öffentlichkeitswirksamkeit. Da gab es Göteborg, wo Polizisten scharf schossen, und dann gab es Genua, wo sie auch tödlich trafen.

Der Globalisierungsgegner war ja vor allem deshalb so sympathisch, weil man ihn eigentlich nicht zu fassen bekam. Er war alles und jeder, er stand für ein ganz diffuses Unbehagen, und eigentlich bestand er aus wenig mehr als den Leuten, die die ganzen Neunziger über auch schon an ihren linken Projekten herumgebosselt hatten, nur dass sie jetzt nach ganz vielen aussahen und nicht mehr nach lauter Einzelheinzen, die gegen Abschiebungen, gegen Nazis, gegen Grenzen, gegen Castortransporte, gegen Gentechnologie und für freie Informationen im Netz, für Solidarität mit den Zapatisten und für Papiere für alle waren.

Und dann gab es den 11. September. Mittlerweile sind von den Globalisierungsgegnern nur noch die Attac-Leute übrig geblieben, die mit ihrer Tobinsteuer winken und glauben, damit ein Allheilmittel in der Hand zu haben, um alle Probleme zu lösen, etwas, das viel besser ist, als immer Krieg zu führen und der armen Zivilbevölkerung Bomben auf den Kopf zu werfen. Dann gibt es noch ein paar Spinner, die sich gar nicht so klammheimlich freuen, den Amis sei es eigentlich ganz recht geschehen, und eine ganze Menge ziemlich ratloser Menschen. Und man hat auf einmal einen amerikanischen Präsidenten, der dem alten linken Gassenhauer »Zivilisation oder Barbarei« eine ganz neue Bedeutung gibt, nämlich die, wer nicht für das ist, für das die amerikanische Regierung steht, der sei dann eben der Barbar. Und es gibt eine deutsche Regierung, die sich den schönen Satz zu eigen gemacht hat: »Wir sind alle Amerikaner«.

Ein wichtiger Satz: »Wir sind alle Amerikaner.« Was hat er zu bedeuten? Was er zu bedeuten hat, wenn Regierungsmitglieder ihn sagen, ist klar: Es geht um Solidarität und Bündnistreue. Der Satz signalisiert: Hallo! Die Anschläge waren nicht nur ein Anschlag auf die Vereinigten Staaten, sie galten den Werten der westlichen Welt, der freien Welt, und deshalb galten sie auch uns. Weil sie auch uns galten, deshalb müssen wir uns auch angegriffen fühlen und mit den entsprechenden Mitteln antworten.

Auf einer etwas versteckter angelegten Ebene heißt »Wir sind alle Amerikaner« aber auch: Wir wollen mitmischen. Bisher standen wir in der zweiten Reihe, bisher haben die Amerikaner alles entschieden, und wir haben es abgenickt, jetzt wollen wir auch Amerikaner sein. Wir wollen mitentscheiden, wenn Weltpolitik gemacht wird. Die Amerikaner sollen nicht die einzigen Amerikaner sein. Natürlich sind wir keine Amerikaner. Aber wir wären eigentlich gerne welche. »Wir sind Amerikaner« bedeutet also auch, »Europa darf sich von den Amerikanern nicht abhängig machen«.

Gleichzeitig - und das ist auf dieser Seite das einzig sympathische - soll der Satz natürlich auch eine Antwort auf »Ich bin ein Berliner« sein. Jetzt können wir unsere Schuld den Amerikanern gegenüber abtragen, uns dankbar zeigen. Schließlich haben sie uns ja von den Nazis befreit und Lucky Strike, Jazz, Hemingway und Hollywood mitgebracht.

Das Schöne an dem Satz ist aber eigentlich seine Offenheit. Und deshalb sollte man ihn nicht der Regierung überlassen, sondern versuchen zu überlegen, ob man ihn sich nicht zu eigen machen kann. Was könnte dieser Satz denn noch bedeuten: »Wir sind alle Amerikaner«?

Das Schöne am Globalisierungsgegner oder der Antiglobalisierungsbewegung war ja nicht nur, dass sie größer aussah, als sie de facto war, das Schöne war auch, dass sie durch diese Größe bei gleichzeitiger maximaler Diffusion die Illusion eines eigenen Projekts erzeugen konnte. Egal was passierte, das Bild, das sich vermittelte, gerade auch durch die vielen Missverständnisse und Medienberichte, war eine diffuse aber ziemlich mächtige Unzufriedenheit mit dem, was ist. Es war ein riesiger Imaginationsraum, den man mit allem Möglichen füllen konnte. Ein Imaginationsraum, der sich mächtig und bedrohlich um den Raum legte, in dem sich die Regierungsvertreter aufhielten, die sich von ihren Polizeischergen schützen lassen mussten, damit er nicht über sie hereinbrach.

Das ist ja nun erst mal alles vorbei, seit dem 11. September und seit dem Krieg in Afghanistan. Die Anschläge von New York und Washington haben die Antiglobalisierungsbewegung tatsächlich gehijackt. Auf einmal sind es nicht mehr die Globalisierungsgegner, die die Frage stellen, »Wie wollen wir eigentlich leben?«, sondern die amerikanische Regierung stellt sie. Das ist natürlich miese Erpressung, aber sie funktioniert. Da passt es ins Bild, dass Silvio Berlusconi meint, radikale Islamisten und Globalisierungsgegner seien eigentlich das Gleiche. Und wenn die Hysterie um die überall lauernden Schläfer einmal abgeklungen ist, wird man ja sehen, gegen wen die ganzen neuen Sicherheitsgesetze dann angewendet werden. Zumindest die Reisebeschränkungen, die nach den Krawallen bei der Fußball-Europameisterschaft verabschiedet wurden, um zu verhindern, dass deutsche Hooligans französische Polizisten totschlagen, wurden das erste Mal auf breiter Front eingesetzt, als Globalisierungsgegner nach Genua reisen wollten.

Aber trotzdem. Das enthebt einen nicht der Notwendigkeit, darüber nachzudenken, wie man denn nun diesen Imaginationsraum umbauen sollte, wie man ihn den neuen Verhältnissen anpassen kann. Wie kann man der Falle entgehen, die die Logik des Satzes »Es gibt nur das Bestehende oder den Terror« vorgibt?

In der November-Ausgabe der Spex konnte man in einem Artikel von Tobias Thomas lesen - es ging um die Frage, wie wichtig es sei, über die Politisierung von Pop zu diskutieren -, alles sei im Eimer, denn nichts und niemand habe eine Lösung anzubieten: »Keine Einzelperson, keine Gruppe, kein Stamm, keine Religion, kein Volk, kein Staat, keine Ideologie, keine Musik, keine Kunst, keine Literatur«. Einmal von dem Umstand abgesehen, dass zumindest Musik, Literatur und Kunst sich glücklicherweise recht selten angemaßt haben, irgendwelche Lösungen zu formulieren, und wenn sie es doch taten, dem gerechten Vergessen anheim gefallen sind: Was ist das denn überhaupt für eine Forderung?

Der Text endet mit den Sätzen: »Man muss den Tatsachen ins Auge blicken. Diese Welt wird untergehen. Bis dahin versuchen wir es weiter. Aber frag mich bitte nicht, warum.« Ist das nicht ein bisschen viel des Achtziger-Revivals? Wurde die Welt damals nicht häufig genug in den Abgrund geschickt, so häufig, dass es mindestens für die kommenden zwanzig Jahre reicht? Und was versuchen wir bis dahin? Und warum? Und vor allem, warum soll man nicht nach dem Warum fragen? Das ist doch die entscheidende Frage. Anstatt die ganze Welt über die Planke zu schicken, wäre es vielleicht besser, sich einmal Gedanken über eine Rekalibrierung der eigenen Begriffe zu machen. (Glücklicherweise ist die Praxis ja schlauer als der Text: Gegenwärtig zieht Tobias Thomas als DJ über die Lande, um die neue Spex-CD zu promoten).

Worum geht es? Es ist tatsächlich Unfug zu glauben, jetzt müsste Pop politisiert werden, als würde das irgendetwas ändern oder bessern. Was man politisieren muss, ist das eigene Begehren - aber selbst das ist Unfug, denn dieses Begehren ist längst politisiert.

Es ist so weit politisiert, wie es amerikanisiert ist. Das Versprechen des pursuit of happiness ist der Kern der Popkultur. Es ist ein radikal diesseitiges Versprechen. Und es ist genau dieses Konzept, dass man sich schnappen und auf seine Seite ziehen sollte, wenn man den Satz »Wir sind alle Amerikaner« für sich fruchtbar machen will. Natürlich ist das eine höchst zwiespältige Sache, aber anders ist es nicht zu haben.

Nehmen wir mal James Brown und seine Parole: »I don't want nobody to give me nothing / Open up the door, I get it myself«. Natürlich ist das ein Satz, mit dem man auch die Abschaffung der Sozialhilfe legitimieren könnte. Es wäre auch möglich, dass James Brown dem nicht einmal abgeneigt ist. Doch es geht um die Definition der Tür. Was heißt das: »Open up the door«? Das heißt eben vor allem, gleiche Rechte für alle, den gleichen Zugang zum Hoffnungsfeld, auf dem jeder dann mit seinen Möglichkeiten anfangen soll, wozu er oder sie lustig ist.

Wofür der ganze Zinnober, könnte man sich nun natürlich fragen. Wofür die ganzen Umwege, warum sollten wir alle unsere Forderungen erst über den Umweg der »amerikanischen Unterhaltungsindustrie« formulieren? Wieso muss man es sich so kompliziert machen?

Aber hier wäre meine Gegenfrage: Was denn sonst? Wo soll der Gedanke an Emanzipation denn herkommen, wenn nicht aus dem Drängen darauf, all die Versprechen einzulösen, die einem tagaus, tagein gemacht werden? Und kein Land der Welt ist so gut in der Produktion von Versprechen, Hoffnungen und Gefühlen wie die Vereinigten Staaten, das Land all unserer Träume und Alpträume. Am Anfang der Vereinigten Staaten steht das Versprechen, jedem den pursuit of happiness zu ermöglichen. Dass das konkret nie für jeden galt, ist kein Einwand. Im Gegenteil. Gerade weil der pursuit of happiness auch das ist, was jemand wie George W. Bush ins Feld führen würde, müsste er sich einmal dazu äußern, worauf sein Sinnen und Trachten eigentlich hinausläuft. Gerade deshalb, um dazu in ein dialektisches Verhältnis zu treten, sollten doch all die Spezialisten der Verschwendung, Überschreitung und sonstiger hedonistischer Techniken sich des Begriffs der happiness bemächtigen. Etwa so, wie die Antiglobalisierungsbewegung die Globalisierungsrhetorik umdrehte und sagte, okay, dann globalisieren wir jetzt mal. Wenn man irgendwo nach einer besseren und gerechteren und schöneren Welt suchen wollte, dann sollte man das im Diesseits tun, bei all den ganz realen zu Hoffnung gewordenen Artefakten, die uns umgeben.

»Wir sind alle Amerikaner« könnte heißen, die Bilder, die Vorstellungen, die Ideen, die Gefühle, die wir mit dem besseren, dem anderen, dem richtigen Leben verbinden, kurz: das große Versprechen, ernst zu nehmen. Und das sind allesamt Bilder aus der Popkultur, die zunächst einmal amerikanisch ist, aber amerikanisch nicht im Gegensatz zu irgendetwas, nicht territorial gebunden, sondern völlig selbstgenügsam und universell.

Es ist nicht nur eine Stilfrage, wenn sich schon seit einer ganzen Weile diverse Künstler auf Marvin Gaye beziehen. Es ist auch eine Frage von Inhalten und von Haltung. »Wir sind alle Amerikaner« könnte heißen, Marvin Gaye zu werden. Man höre sich die neue Theo Parrish-Platte an, wo er aus ein paar CNN-Schnipseln und aus drei Sätzen von Gayes »Inner City Blues« einen Track zusammenstellt: »God knows where we're heading«, »Panic is spreading«, »Setbacks«. Das ist nicht einfach nur ratlos. Das ist Ratlosigkeit, die sich durch den historischen Bezug in ein bestimmtes Feld stellt. Was für Forderungen man daraus ableiten könnte, das kann sich jeder selbst überlegen. Aber wenn man über die Politisierung des eigenen Begehrens nachdenkt, sollte man vielleicht weniger in den Achtzigern herumstochern und sich stattdessen lieber den frühen Siebzigern zuwenden und der Art und Weise wie etwa Marvin Gaye Persönliches und Politisches übereinander blendete. Nennen wir es doch pathetischen Pragmatismus.

Oder, um noch einmal auf R. Kelly zurückzukommen: Nur weil bestimmte Leute Flugzeuge in Bomben umwandeln, um sie in Hochhäuser zu steuern, und nur weil andere Leute anordnen, man möge sich in Flugzeuge setzen um Streubomben abzuwerfen, heißt das noch lange nicht, dass man sich das Glücksversprechen nehmen lassen sollte, das davon handelt zu glauben, wir könnten fliegen, den Himmel berühren, unsere Flügel ausbreiten und in eine bessere Zukunft fliegen.