Großbetriebe vs. Arbeiter

Karoshi für alle

Mehr Arbeit, weniger Lohn: In Japan setzen die Unternehmer mit so genannten Restrukturierungen nun auch in den Großbetrieben die Beschäftigten unter Druck.

Karoshi, Tod durch Überarbeitung, gehört zu den wenigen modernen japanischen Begriffen, die es geschafft haben, Einzug in andere Sprachen zu halten. Der Rückgriff auf eine japanische Vokabel kommt nicht von ungefähr, wird doch nicht nur diese spezielle Todesart für typisch japanisch gehalten, sondern stehen dahinter auch bestimmte Vorstellungen davon, was Arbeit in Japan bedeutet. Und in der Tat war Karoshi über lange Zeit beinahe eine Art Privileg, denn dieselbe Schicht, die von dem Phänomen potenziell betroffen war, konnte sich großzügiger Gegenleistungen für ihre Arbeitsmühen erfreuen.

So genossen die männlichen Angestellten in den großen Unternehmen seit dem Beginn der Wachstumsphase Mitte der fünfziger Jahre Privilegien, die selbst ihre Kollegen in den europäischen Wohlfahrtsstaaten neidisch machen konnten. Neben dem hohen Gehalt mit regelmäßigen Bonuszahlungen - mindestens je ein zusätzliches Monatsgehalt im Sommer und im Winter - zählten dazu die lebenslange Anstellung, eine allein von der Anstellungsdauer abhängige Lohnsteigerung und ein ganzer Sack voller Sozialleistungen seitens der Firma, von der Krankenversicherung über die gestellte Wohnung bis zur Heiratsvermittlung.

Auch zu Beginn der seit Mitte der neunziger Jahre andauernden Rezession wähnten sich die Angestellten der Großunternehmen zunächst sicher. In der Tat wurden Konsequenzen aus vorübergehenden Schwierigkeiten zunächst auf die zahlreichen zuarbeitenden kleinen und mittleren Unternehmen mit ihren ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen abgewälzt, um Schaden vom eigenen Betrieb fern zu halten. Doch diesmal reißt die Krise tiefere Löcher. Die Arbeitslosenrate erklimmt in diesem Jahr von Monat zu Monat neue historische Höchstwerte (November: 5,3 Prozent), und nun fangen auch die großen Unternehmen an, in größerem Umfang Stellen abzubauen. Bei Toshiba soll es 18 000 Beschäftigte treffen, bei Nissan ist von 21 000 und beim halbstaatlichen Telefonanbieter NTT gar von 110 000 die Rede.

Die Leute werden freilich nicht etwa einfach entlassen. Das Zauberwort, mit dem die Unternehmer ihre Maßnahmen verkaufen, heißt risutora, ein Kurzwort für das englische restructuring. Darunter fällt beispielsweise die Umschichtung auf Teilzeitarbeit, ein Begriff, der eigentlich irreführend ist, denn ein Großteil der in so genannter Teilzeitarbeit Beschäftigten arbeitet Vollzeit, und zwar in exakt denselben qualifizierten Jobs, denen früher reguläre Angestellte nachgingen. Das Call Center für Telefonauskünfte des Telekommunikationsriesen NTT zum Beispiel hat TeilzeitarbeiterInnen unter Vertrag, die an fünf Tagen in der Woche von 9 bis 17 Uhr arbeiten, aber im Gegensatz zu ihren regulär angestellten KollegInnen nur die Hälfte des Lohns erhalten, mit keinerlei Lohnerhöhungen rechnen können, egal, wie lange sie bei NTT beschäftigt sind, und zudem keine Fahrtgelder, saisonale Bonuszahlungen oder Abfindungszahlungen bekommen. Mittlerweile sind über ein Viertel aller japanischen Lohnabhängigen (27,2 Prozent) mit Verträgen dieser Art ausgestattet, unter den Frauen ist es fast die Hälfte (47,8 Prozent).

Die Kreativität der Personalabteilungen geht aber noch weiter. Sofern die »Zustimmung« der Betroffenen vorliegt, können Angestellte entlassen werden, um sie gleich sofort wieder einzustellen, zu schlechteren Bedingungen, versteht sich. Genau das soll mit den Älteren unter den 110 000 risutora-Opfern bei NTT geschehen. Die unter 50jährigen hingegen werden zu gleichen Bedingungen in Tochterfirmen weiterbeschäftigt, allerdings nur, bis sie 50 werden, dann sollen sie das gleiche Schicksal erleiden.

Eine der Hauptursachen für Stress am Arbeitsplatz und damit auch Fälle von Karoshi war die legendär hohe Überstundenzahl. Auch aktuelle Zahlen zeigen, dass es Firmen wie den Elektronikhersteller Fujitsu oder den Autobauer Daihatsu gibt, in denen im Durchschnitt über 300 Überstunden im Jahr abgeleistet werden - und das, obwohl bei ihnen schon die reguläre jährliche Arbeitszeit mit über 2 000 Stunden weit über dem Schnitt von etwa 1 850 liegt. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 1999 1 503 Stunden. Darüber hinaus nehmen ArbeiterInnen bezahlten Urlaub teilweise nur bis zu 55 (Hitachi), 62 (Suzuki) oder 70 Prozent (Nissan) in Anspruch.

Nun haben sich die Zeiten, als Überstunden sich noch lohnten, freilich geändert. Selbst für reguläre Angestellte haben mehr und mehr Firmen begonnen, ein System von Service-Überstunden, das heißt unbezahlten, einzuführen. So bezahlt etwa der Elektronikhersteller Oki pro Person seit 1999 nur noch maximal 50 000 Yen (etwa 320 Euro) im Monat für Überstunden. Das mag sich viel anhören - vor zwei Jahren jedoch lag der durchschnittliche Lohn für Überstunden bei 350 000 Yen, ohne dass sich seitdem die Zahl der Überstunden verringert hätte.

Wie die Chefetagen, so lehnt auch die Regierung jedwede Verantwortung für die sich zuspitzende Situation auf dem Arbeitsmarkt ab. Nicht nur sorgt sie in den seltensten Fällen für die Einhaltung selbst der offensichtlichsten Bestimmungen - die Zahl der bezahlten Urlaubstage ist gesetzlich geregelt, Überstunden sind grundsätzlich zu bezahlen, fest Angestellte dürfen nicht entlassen und sofort wieder zu schlechteren Bedingungen eingestellt werden. Darüber hinaus sieht sie in den risutora gar ein Vorbild für die finanzpolitischen Strukturreformen, die sie sich selbst auf die Fahnen geschrieben hat, wie Premierminister Junichiro Koizumi am 12. November im Haushaltsausschuss des Unterhauses erklärte.

Auch eine Rüge der UN-Arbeitsgruppe zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten vom August dieses Jahres, die die zu langen Arbeitszeiten und den mangelhaften Schutz älterer ArbeiterInnen in Japan kritisiert, kommentierte Koizumi am 21. November im Parlament nur achselzuckend: »Das sollen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite unter sich ausmachen.«

Es sieht ganz so aus, als würden in Zukunft noch viel mehr JapanerInnen in den Genuss des Privilegs kommen, an Karoshi sterben zu dürfen. Wenigstens darin werden sie dann den regulären Angestellen gleichgestellt sein.