Leitkultur und Rechtsextremismus

Merz’ später Erfolg

Nach dem 11. September hat die »deutsche Leitkultur« gewonnen. Zu diesem Ergebnis kam eine Tagung zum Thema Rechtsextremismus in Köln.

Gerade mal ein Jahr ist es her, als die von Friedrich Merz und anderen Unionspolitikern geforderte »deutsche Leitkultur« die innenpolitische Diskussion bestimmte. Längst vergessen ist auch die von Laurenz Meyer initiierte Nationalstolzdebatte, in deren Gefolge ein kruder Patriotismuswettstreit der Parteien einsetzte. Seit dem 11. September ist es stiller geworden um die Normalisierungsdebatten der Berliner Republik, die angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen wie diskursive Inszenierungen aus einer anderen Zeit anmuten. Heute wird nicht mehr lange diskutiert, sondern gleich »Realpolitik« gemacht.

Gleichwohl ist seither »das in den Mittelpunkt gerückt und verstärkt worden, was der Nationalstolzdebatte und der Frage der deutschen Leitkultur immer zugrunde lag: die Wahrnehmung von Ausländern, Nicht-Deutschen als Bedrohung und Gefahr für ðunsereÐ Sicherheit und ðunsereÐ kulturelle Identität«, wie der Marburger Politologe Gerd Wiegel Anfang dieses Monats auf einer Tagung in Köln feststellte. Bei der Veranstaltung, die sich dem Rechtsextremismus als »Problem der gesellschaftlichen Mitte« widmete, unterstrich Jürgen Wilhelm von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, dass die Leitkultur-Debatte bewusst »gegen die migrationspolitische Öffnung einer Gesellschaft inszeniert« worden sei. Diese Öffnung sehen Wilhelm und andere Wissenschaftler heute angesichts des von Otto Schily forcierten Abbaus von Bürgerrechten und der Verschärfung des Ausländerrechts gefährdet.

Zur Erinnerung: Am 10. Oktober 2000 kündigten die Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag, Friedrich Merz und Michael Glos, an, die Zuwanderungspolitik zum Thema des Bundestagswahlkampfes machen zu wollen. Kurz darauf forderte Merz, die in Deutschland lebenden Ausländer sollten sich an die »gewachsene freiheitliche deutsche Leitkultur« anpassen: »Zuwanderer, die auf Zeit oder auf Dauer bei uns leben wollen«, müssten bereit sein, »die Regeln des Zusammenlebens in Deutschland zu respektieren.«

Die Reaktionen auf den populistischen Vorstoß fielen unerwartet heftig aus. Führende Repräsentanten von Staat und Gesellschaft, aber auch Kirchen und Industrieverbände, warnten öffentlich vor den politischen Folgen der Debatte. Die Union hingegen stellte sich nahezu geschlossen hinter Merz: »Richtig aus dem Herzen gesprochen« habe er der Partei, schwärmten Unionsabgeordnete nach einer Fraktionssitzung, auf der zahlreiche Christdemokraten von positiven Reaktionen an der Basis berichteten.

Dabei war die Argumentation keineswegs neu. Der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) hatte bereits im Jahr zuvor die »Leitkultur« gegen die »Preisgabe der Nation als Rechts- und Schicksalsgemeinschaft« in Stellung gebracht. »Mit dem Begriff ðmultikulturellЫ, kritisierte er 1999 in der Zeitschrift für Kulturaustausch, sei »meist die Vorstellung verknüpft, dass verschiedene ausländische Kulturen gleichberechtigt neben der deutschen stehen und, ausgestattet mit Schutz- und Förderansprüchen, als Teil unserer Nationalkultur anerkannt werden.« Dies laufe auf »die Bildung eines ðoffiziellen VielvölkerstaatesЫ hinaus, in dem »die Belange der deutschen Mehrheitsbevölkerung in nicht akzeptabler Weise vernachlässigt« würden.

So wird Leitkultur zur legitimen Selbstverteidigung gegen das, was in den Reihen der Rechtsextremen ganz unverblümt als »Überfremdung« bezeichnet wird. In Deutschland, so die Kernaussage, soll es kein gleichberechtigtes Nebeneinander unterschiedlicher Lebensformen geben, sondern eine verbindliche, an der »Mehrheitsbevölkerung« orientierte »Kultur«, der sich »Fremde« zu unterwerfen haben. Beharren sie dennoch auf Eigenständigkeit, so ist dies nicht mit »Schutz- und Förderansprüchen« verbunden - was nichts anderes heißt, als dass der deutsche Staat nur »deutsche« Bürger schützen und vertreten soll. Beckstein forderte folgerichtig eine Verringerung des Anteils an »Ausländern, die uns ausnützen«, zugunsten jener, »die uns nützen«.

Damit sind die zentralen Themen der extremen Rechten - die vermeintliche Bedrohung durch Ausländer und der unbedingte Vorrang »deutscher Interessen« - auf den Punkt gebracht. Kein Wunder, dass der Begriff der Leitkultur begeistert von Rechtsextremen aufgenommen wurde. Der Rep-Vorsitzende Rolf Schlierer versicherte Merz den Beistand seiner Partei, wenn er weiterhin versuche, »sich dem Linksrutsch der CDU entgegenzustemmen«. Die Anerkennung der »deutschen Leitkultur«, so Schlierer weiter, müsse der kleinste gemeinsame Nenner in der Zuwanderungsdebatte sein.

Nicht nur die Zustimmung von rechtsaußen für die »Steilvorlage« (Jürgen Wilhelm) belegt die schleichende Übernahme von Ideologemen der extremen Rechten in den Mainstreamdiskurs. Für den Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Gessenharter sind die »zentralen Argumentationsmuster des neurechten Diskurses« inzwischen »auch im Zentrum der deutschen Gesellschaft angekommen«. Gessenharter machte auf der Kölner Tagung deutlich, dass die neurechte Forderung nach einer Loslösung der Politik von lästig gewordenen Verfassungsgrundsätzen neuerdings weiter an Boden gewonnen habe - so etwa, wenn in der konservativen Presse die Ohnmacht der offenen Gesellschaft gegenüber dem Terrorismus postuliert wird oder festgestellt wird, dass angesichts der Terroranschläge der Begriff der Menschenrechte »unbrauchbar geworden« sei.

Mindestens ebenso wichtig erscheint ein weiterer Aspekt, auf den in Köln hingewiesen wurde, nämlich die Tatsache, dass kriegerische Auseinandersetzungen immer auch »tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesellschaft der kriegführenden Länder« haben. Die »Homogenisierung der beteiligten Gesellschaften« (Jürgen Wilhelm) ist in der Bundesrepublik bereits in vollem Gange. Nicht nur ist der öffentliche Druck auf »Abweichler« und »Gutmenschen« weiter gestiegen - rassistische Kollektivzuschreibungen und gruppenspezifische Kontrollmaßnahmen unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung gehören längst zum Alltag in Deutschland. Davon hätten die Erfinder der »deutschen Leitkultur« vor wenigen Monaten nicht einmal zu träumen gewagt.