Heinrich Breloers »Die Manns - ein Jahrhundertroman«

Deutschland, bleicher Mann

Heinrich Breloers Fernsehdreiteiler über die Geschichte der Familie Mann ist die Erzählung einer mythischen Selbstfindung der Nation.

Das erste Bild der leicht schwankenden Kamera ist vom Meer aus auf eine Stadt im Morgen- oder Abendrot gerichtet, im Vordergrund fliegen Möwenschwärme von links nach rechts, eingeblendet die Schrift: »Die Manns - Ein Jahrhundertroman«. Eine Stimme aus dem Off setzt ein: »1860 bringt ein Schiff ein junges Mädchen von Brasilien nach Lübeck ...« Die erste Einstellung des mit dokumentarischem Material arbeitenden, dreiteiligen Fernsehfilms entspricht dem Blick der Ankommenden von der Reling aus, die Kamera begibt sich in die Position des Mädchens. Parallel zu den Worten des auktorialen Erzählers gibt es zwei Überblendungen. Zuerst eine sich leicht von rechts nach links bewegende schwarz-weiße Filmaufnahme des alten Lübeck mit Kirchtürmen, dann eine Spielfilmszene in Farbe; von unten nach oben streift der Blick von der mit Kutschen und Fuhrwerken belebten Straße aus das Thomas Mann-Haus in Lübeck, eingeblendet dazu die Schrift: »Ein Film von Heinrich Breloer«. Mit diesen zwei Überblendungen hat die Kamera die ersten Schritte des jungen Mädchens in der fremden Stadt nachvollzogen und damit den Zeitunterschied von 140 Jahren, die bis heute vergangen sind, aufgehoben. Gleichzeitig liest das junge Mädchen respektive die Kamera im Moment der Ankunft den Namen des Regisseurs, der über die Fassade des weißen Gebäudes geblendet wird. Breloer schreibt sich mit seiner Kamera in das Haus von Thomas Mann ein. Schaut man genauer hin, erkennt man, dass im ersten Stockwerk des Hauses jemand die äußeren Flügel eines weißen Doppelfensters von innen schließt. Die Stimme aus dem Off: »Der Sohn einer alten Kaufmannsfamilie heiratet die schöne Fremde.« Hier wird syntaktisch und semantisch ein doppelter Perspektivenwechsel vollzogen. Nicht das Mädchen heiratet einen Jungen, sondern »der Sohn« heiratet eine »schöne Fremde«. Der Erzähler macht das Mädchen nicht nur zum grammatikalischen, sondern auch zu einem exotischen Objekt. Das wird auch visuell umgesetzt: Exakt bei dem Wort »heiratet« erfolgt der erste Schnitt des Films, und die Kamera nähert sich langsam von hinten einer Frauenfigur im weißen Kleid mit schwarzen Haaren, die die inneren Flügel eines Doppelfensters schließt. Weißes Haus, weiße Fensterflügel, weiße Frau von hinten, »schöne Fremde« - expliziter kann Sexualmetaphorik nicht sein. Der Erzähler fährt fort: »Zwei Welten begegnen sich. Der Norden und der Süden. Der Ordnungssinn und die Leidenschaft«. Der zweite Schnitt wird ebenfalls genau auf das Verb gesetzt. Bei »begegnen sich« wird die Frau in Nahaufnahme im Fensterkreuz gezeigt, wie sie ihren Kopf zur Kamera wendet und ins Bild lächelt. Durch diese beiden Schnitte bekommen die Verben eine zusätzliche Bedeutung. Nicht nur Julia da Silva Bruhns, Thomas Manns Mutter, wird mit dessen Vater semantisch verbunden, sondern auch der Betrachter verkuppelt sich mit der betrachteten Frau. Wenn man diese Einstellung detaillierter betrachtet, wendet sich die Frau anfangs um, als ob sie nur gucken wolle, wer da hinter ihr stehe, und erst nach einem kurzen Moment, als sie den Betrachter erkannt hat, öffnet sich ihr Mund zu einem Lächeln. Den Blick wissend direkt in die Kamera gerichtet, bewegt sich ihr Gesicht dann mit einem verführerisch geöffneten Mund nach rechts unten aus dem Bild, während eine weitere Überblendung auf ein Schwarzweißfoto folgt, das Thomas Manns Eltern zeigt. Die »reale« Mutter findet sich in der Überblendung genau auf der Position, die zuvor die Darstellerin der Mutter eingenommen hat, betrachtet aber im Unterschied zu dieser den »realen« Vater neben ihr auf dem Bild, der wiederum direkt in die Kamera blickt. Die Erzählerstimme sagt: »Das wird das Erbe in dieser Familie.« Damit hat sich der Erzähler hinter der Kamera direkt in die Königsposition erhoben: In der visuellen Dreiecksbeziehung ist er der Erbe dieser Familie. Nicht als auktorialer Erzähler, sondern als personaler Betrachter setzt er sich in diesen Anfangssequenzen zuerst an die Stelle der beiden Eltern, dann an diejenige des Sohnes, Heinrich Breloer wird zu Thomas Mann. In diesen ersten dreißig Sekunden und sechs Bildern ist schon fast alles gesagt und an Motiven angedeutet, was in den folgenden fast fünfeinhalb Stunden noch kommen wird. In Breloers Fernsehfilm geht es nicht um eine Rekonstruktion des Lebens von Thomas Mann und seiner Familie, das Unklarheiten und strittige Fragen in den Biografien kenntlich macht und Interpretationsmöglichkeiten offen lässt, sondern um eine geschlossene Darstellung ihrer Geschichte. Das gelingt Breloer wegen einer perfekten Kombination von Kameraeinstellung, Schnitttechnik, Erzählerstimme und Filmbildern, aber auch dank beeindruckender Archivaufnahmen und einer hervorragenden Schauspielerbesetzung. Sie faszinieren und täuschen gleichzeitig darüber hinweg, dass er ständig mit vereinfachenden Dichotomien arbeitet und es bei ihm keinerlei kritische Distanz zwischen dem Erzähler und der Erzählung gibt. Das wird am deutlichsten in den Interviewszenen mit Elisabeth Mann Borgese, der »Lieblingstochter« Thomas Manns. Ihre Erinnerungen werden nicht nur eins zu eins in den Spielfilmszenen umgesetzt, bzw. diese werden durch ihre Worte als »wahr« legitimiert. Sondern sie muss auch immer bei ihren Antworten zusammen mit Breloer an den Originalstandorten des vermeintlich Geschehenen stehen, um eine größere Authentizität zu suggerieren. Die gleiche Funktion scheinen die über 245 Stunden Archivmaterial zu haben, die Breloer und sein Team für den Film zusammengetragen haben. Denn der parallele Gebrauch von historischen Bildern und Spielfilmszenen wird genauso wenig hinterfragt wie widersprechende Überlieferungen thematisiert oder Unterscheidungen beispielsweise zwischen zeitgenössischen Tagebuchaufzeichnungen, fiktionalen Verarbeitungen oder erst viel später entstandenen Memoiren gemacht werden. Nun nennt Breloer diese distanzlose Mischung, die er schon in seinem Film »Todesspiel« von 1997 über den Deutschen Herbst 1977 angewandt hat, einen »Jahrhundertroman«. Betrachtet man den Film als ein solches fiktionales Werk, einen Roman, und stellt ihn neben eine vergleichbare Familienchronik wie den »Paten« von Francis Ford Coppola, muss man allerdings zugeben, dass es sich bei ihm um Kitsch handelt. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die Filmmusik von Hans-Peter Stöer. Sie begleitet fast ununterbrochen den Film und erinnert ein wenig an die in Kurbädern oder Arztpraxen vor sich hin plätschernden sphärischen Klänge, die dem Patienten seine Angst nehmen und ihm Entspannung verschaffen sollen. In dem Film wirkt sie verheerend, da sie jede mögliche Spannung sofort in einen diffusen emotionalen Brei verwandelt. Der Film hält in seinen fünf Stunden keine fünf Sekunden Stille aus, immer ist diese Unterwassermusik schon da, die statt Dramatik jeder Situation die gleiche sentimentale Befindlichkeit und Bedeutung verleiht. Doch die unkritische und emotional aufgeladene Neuordnung von Disparatem hat noch eine weitere Funktion, die bereits in Breloers »Todesspiel« deutlich wurde. Denn es geht ihm hier wie dort mit seinen Montagebildern darum, die Brüche und Widerwärtigkeiten der deutschen Geschichte zuzukleben. So ist es kein Zufall, dass der Film nach der kurzen Exposition seine Narration erst 1923 in München beginnen lässt. Thomas Mann ist da schon 47 Jahre alt. Seine und Heinrich Manns antisemitische Tendenzen im Frühwerk, sein reaktionärer Essay »Betrachtungen eines Unpolitischen« sind da schon Vergangenheit. Er wird als ein reifer »Zauberer« eingeführt, der bereits 1923 im chaotischen Wirbel der Schneeflocken unbeirrt das Nichts des Nationalsozialismus erahnt. Man könnte annehmen, Heinrich Breloer wolle in seinem Film ein Bild des Dichters zeigen, wie es Marcel Reich-Ranicki 1975 zu Manns 100. Geburtstag formuliert hat: »Er, Thomas Mann, wurde in der Zeit des Dritten Reiches zur weithin sichtbaren, zur repräsentativen Gegenfigur. Die Namen Adolf Hitler und Thomas Mann symbolisierten und symbolisieren nach wie vor die beiden Seiten des Deutschtums. Und es käme einem geistigen Selbstmord gleich, wollte Deutschland auch nur eine dieser beiden Seiten und Möglichkeiten vergessen oder verdrängen.« Breloer interessiert sich jedoch nur für die eine Seite. Bei ihm ist Hitler das Gegenbild zu Thomas Mann, und der Grund dessen ist die eher unentschlossene Emigration. »Der Bursche ist eine Katastrophe, aber er ist ein Träumer, dies Scheusal«, während einzig der Dichter Deutschland symbolisiert: »Wo ich bin, ist Deutschland.« Was letztlich dabei herauskommt, ist die mythische Erzählung von der Selbstfindung einer Nation, diesmal verkörpert in der Person Thomas Manns. Als eine solche alle Ambivalenzen und Widersprüche, Leerstellen und Unklarheiten aufhebende Erzählung ist der Film das deutliche Gegenteil von Thomas Manns Prosa. Wo dieser in seinem fiktionalen Werk versuchte, eine Welt zu imaginieren, aus der die Realität soweit wie möglich verbannt ist, okkupiert jene mythische Welt die historische Wirklichkeit vollkommen. Wo Thomas Mann Ironie und Mehrdeutigkeiten in komplexen syntaktischen und semantischen Strukturen kunstvoll verschachtelt, baut Heinrich Breloer symbolische Fassadenwerke in Traufhöhe. »Die Manns - ein Jahrhundertroman«. Erstausstrahlung auf arte vom 5. bis 7. Dezember, jeweils um 20.45 Uhr; außerdem am 17., 19. und 21. Dezember, jeweils um 20.15 Uhr in der ARD. Außerdem zeigen die Dritten Programme zu verschiedenen Terminen die ebenfalls dreiteilige Dokumentationsreihe »Unterwegs zur Familie Mann«.