Louise Bourgeois auf der Documenta XI

Der Teufel steckt im Material

Die Bildhauerin Louise Bourgeois ist die älteste Teilnehmerin der Documenta in Kassel und das Vorbild einer jungen Künstlergeneration.

Witz, Hintersinn und ein wenig von ihrem künstlerischen Selbstverständnis demonstrierte die Bildhauerin Louise Bourgeois in einem Interview, in dem sie quasi als Bauchrednerin von Künstlern agierte, die sie persönlich kannte. Es geht darin um die Rolle, die die Sexualität für diese berühmten Männer hatte. Duchamp, so erklärt uns Louise Bourgeois, hätte zu diesem Thema »vermutlich gesagt: 'Warum denn über Sex reden? Ist das so wichtig?' - Hätte man Bacon diese Frage gestellt, hätte er gesagt: 'Mein Gott, Sex bringt mich um! Ich sterbe an zu viel Leidenschaft!' Pierre Bonnard hätte geantwortet: 'Möchten Sie, dass ich zu weinen anfange?' Und Miro hätte gesagt: 'Oh, Sex ist amüsant.' Würden Sie nun Louise Bourgeois fragen: 'Sex? Was meinen Sie damit? Das gibt es doch nicht.'«

Für eine Künstlerin, deren Kunst so explizit von Sexualität zu handeln scheint, ist dies eine erstaunliche Art, die eigene Arbeit zu kommentieren. Schließlich scheinen ihre Skulpturen von nichts anderem als von Sexualität und Körpern zu handeln.

Das Thema Sexualität war auch auf dem Foto präsent, das Robert Mapplethorpe 1982 von der damals noch relativ unbekannten Louise Bourgeois machte - und zwar auf ganz direkte Art: Die Aufnahme zeigt die Bildhauerin, wie sie einen Phallus unter dem Arm trägt. Ihr maliziöses Lächeln kommentiert die Situation. Aber weder das Lächeln der Künstlerin, die psychoanalytischen Scherzen nicht abgeneigt war, noch ihre »Fillette« (kleines Mädchen) genannte Skulptur, die sie im Arm hält, bedeuten, was sie zu bedeuten scheinen.

In dem anlässlich des 90. Geburtstags von Louise Bourgeois erschienenen Band mit Schriften und Interviews der Künstlerin wird die Vorgeschichte des bekannten Fotos erzählt; dass Louise Bourgeois »Fillette« als Maskottchen zum Fototermin bei Mapplethorpe mitnahm, weil sie sehr nervös war. Nervosität erzeugte bei ihr insbesondere das Wissen darum, dass sie eben kein junger, muskulöser, schwarzer Mann war. Denn wie sie schlicht über Mapplethorpe sagte: »Er ist nicht wegen der Blumenfotografien berühmt.«

Marie-Laure Bernadac und Hans-Ulrich Obrist, die die Texte von Louise Bourgeois unter dem Titel »Destruction of The Father - Reconstruction of The Father« herausgegeben haben, bewiesen mit ihrer Auswahl aus der Unmenge von Material sehr viel Geschick und nicht wenig Ironie und ermöglichen so eine ganz intensive Begegnung mit dem Werk und der Person der Künstlerin. Das liegt natürlich zuallererst an der Offenheit von Bourgeois und an ihrer Art, sich zu äußern, die unvergleichlich uneitel und oft von einnehmendem Humor ist.

Im selben Jahr, in dem das Foto von Mapplethorpe entstand, erhielt die 1911 in Paris geborene, seit 1948 in den USA lebende Künstlerin, die lange Zeit von einer größeren Öffentlichkeit unbeachtet geblieben war, Gelegenheit, ihre Arbeiten im New Yorker Museum of Modern Art zu präsentieren. Damit begann für sie eine neue Phase, eine Phase der Sichtbarwerdung. Zunächst wusste die Kunstwelt mit ihren Arbeiten nichts anzufangen, noch in den sechziger Jahren ordnete die Kritikerin und Kuratorin Lucy Lippard sie der »Excentric Abstraction« in der gleichnamigen Ausstellung zu. Vor kurzem erst wurde sie - mit einer Version von »Fillette« - in einer Gruppenausstellung unter dem Etikett »Hypermental - wahnhafte Wirklichkeit« einsortiert. Doch ihre Kunst lässt sich formal nur schwer einordnen. Ihre Arbeiten speisen sich aus vielen Quellen, orientieren sich in den verschiedenen Werkphasen je neu und anders. Die Anfänge fanden durchaus noch in der Welt des Art Déco statt, auch der Surrealismus spielte noch eine Rolle. Ihr Werk thematisiert existenzielle Themen, es geht vom Körper aus, ist aber, obwohl autobiografisch, formal so meisterhaft, dass es möglich wird, sich in den von ihr geschaffenen Räumen umzusehen wie in einem eigenen Alptraum. Sie sagt von sich: »Ich träume nicht.« Aber ihre bildhauerische Arbeit kann sehr wohl mit der Tätigkeit des Traums selbst verglichen werden und mit dem Bildmaterial, das der Traum hervorbringt; rätselhafte Gebilde, unmögliche Materialverbindungen, anatomische Überraschungen, unheimliche Häuser oder Kabinette, grauenhafte Entdeckungen, abgetrennte Körperteile, Leichenteile, geheimnisvolle Geräte, Liebeslager und Totenbetten.

Ihre Environments der späten Jahre sind von einer unvergleichlichen Aura, die das Ergebnis von jahrzehntelanger Arbeit im Verborgenen ist und nicht zuletzt das Resultat privaten Leids. Die langen Phasen, in denen sie unbeachtet und nur für sich arbeiten musste, haben sie zu sehr individuellen Lösungen geführt. »Ich will Besitzer meiner eigenen Schwierigkeiten sein«, erklärt Louise Bourgeois.

Eine ihrer wichtigsten Arbeiten, »The Destruction of The Father« aus dem Jahr 1974, gab dem Buch den Titel. Es handelt sich um eine Installation, die als symbolischer Vatermord gemeint ist. Diese Arbeit sei ein echter Exorzismus gewesen. Es geht um die unerträgliche Erinnerung an den Vater, wie er am Esstisch sitzt, und um eine Phantasie, in der die ganze übrige Familie ihn ergreift, zerstückelt und verspeist. Diese Arbeit ist ein Akt der Befreiung von der Erinnerung an den dominanten Vater, der die Mutter mit dem Kindermädchen betrog, worunter Louise sehr gelitten hat. Bis »Destruction of The Father« muss es ein langer Weg gewesen sein, nimmt man einen Brief von 1934 als Markierung. Dieses Schreiben an den Vater endet mit der devoten Versicherung: »Ich habe mich kein einziges Mal daneben benommen, und so wird es bis zu Deiner Rückkehr bleiben. Du kannst absolut beruhigt schlafen.«

Der Schriftenband hat aber noch den Zusatz: »Reconstruction of The Father«, eben weil ihre Arbeit auch Wiedergutmachung ist, wie sie selbst sagt. Oder anders ausgedrückt: »I do, I undo, I redo.« So heißt ein Text, den sie 2000 geschrieben hat.

Das 440 Seiten starke Buch beginnt mit einem Fundstück aus dem Jahr 1996. Bei einem Pariser Buchhändler war das Kindertagebuch der damals Zwölfjährigen aufgetaucht, das während einer Zugfahrt verloren gegangen war. Zu dieser Zeit begann Louise, noch ganz konventionell, ihr Tagebuch zu schreiben, was sie bis heute tut. Dazu gesellte sich die Gewohnheit des Zeichnens. Schreibend und zeichnend versucht sie, sich die Angst auszutreiben, gebietet der Depression Einhalt und verschafft ihrer Kunst Raum.

Neben diesen intimen, ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmten Aufzeichnungen stehen in dem Buch die Interviews. Sowohl in ihrem Tagebuch als auch in den Gesprächen erscheint sie mit zunehmenden Alter rückhaltloser und authentischer. Wir erfahren, woraus ihre Kunst schöpft und welche Qualen sie antreibt. Immer präsent ist die Angst. »Ich bin keine Expertin«, erklärt sie, »aber ich weiß, was Angst ist (...). Man betrügt sich, macht sich vor, dass man liebt, nur um das Gefühl der Angst zu vermeiden. Man 'verliebt sich' in jemand, vor dem man Angst hat.«

Immer wieder kommt sie auf die Themen ihrer Kindheit in Frankreich zurück, auf ihre verwirrte Geschlechtsidentität, den Chauvinismus und die Untreue des Vaters, auf dessen in den Haushalt als Englischlehrerin eingeschleuste Geliebte und auf das Leiden und die Liebe der Mutter. Sie meint, dass sie sich wegen dieser Erfahrungen gezielt einen »Puritaner« zum Ehemann nahm, nämlich den Kunsthistoriker Robert Goldwater, um mit ihm in die Neue Welt auszuwandern. Dort konnte sie sich Schritt für Schritt ihrer Beschränkungen entledigen und ihr Unbewusstes erforschen - und zwar auf eine Weise, die wenig mit der vor allem männlich ausgerichteten Methode des Surrealismus gemein hat. Als ihre Losung könnte der Satz gelten: »Die Wahrheit ist besser als nichts.« Dabei hat Louise Bourgois, oft exorzistisch vorgehend, ihr Werk so heftig vorangetrieben, dass es erst von den Jüngeren verstanden wurde, die sie einerseits als eine der ihren begriffen und sie trotzdem als eine Legende verehrten. So ist sie selbst zu einer Art Totemfigur geworden, wie manche ihrer Skulpturen.

»Das Malen ist so schwierig und das Leben so kurz!« schrieb die junge Louise Bourgois 1939 an eine Freundin. Heute sagt sie von sich: »Ich bin eine Langstreckenläuferin. Ich kann es mir nicht leisten, gestört zu werden. Ich brauche Jahre um Jahre, um fertigzustellen. Und ich bin auch eine einsame Läuferin«.

Das stimmt wohl. Bei der Documenta 11 ist Louise Bourgeois vertreten - als älteste Teilnehmerin.

Louise Bourgeois, herausgegeben von Marie-Laure Bernadac und Hans-Ulrich Obrist: Destruction of The Father - Reconstruction of The Father. Schriften und Interviews 1923 - 2000. Amann Verlag, Zürich 2001, 440 S., 39,90 Euro