Das Sein und das Nichts

Im englischen Lifestylemagazin Wallpaper hat die Werbung ihren idealen Partner gefunden. Denn hier wird die Oberfläche zum Inhalt und die Leere zum Programm. von oliver errichiello und arnd zschiesche

Das britische Designermagazin Wallpaper lobpreist die Liturgie der Leere. Humanoides Leben scheint in dieser Zeitschrift irgendwo zwischen dem Zurschaustellen nordkoreanischer Palastarchitektur und New Yorker Dachgärten wie durch den Einschlag einer Neutronenbombe verdampft zu sein.

Dieses zeitgenössische Hochformat, das auf bis zu 400 fein laminierten Seiten über die Dinge berichtet, die den Menschen umgeben (»The stuff that surrounds you«), ist uns allen aus schnieken Designer-Boutiquen bekannt. Dort liegt es gewollt ungewollt neben der Alessi-Expressomaschine »Coban«, während allenfalls mittelblonde Verkäuferinnen mattierte Armreife mit Perlmutteinlagen tragen, die wir bis dahin nur auf Fotos der Ex-Königin Soraya bei ihrem Besuch in Berlin, kurz vor dem gewaltsamen Tod des Studenten Benno Ohnesorg, kannten.

Oder das Wallpaper strahlt uns hymnisch und ungemein ungeknickt von der teakimitierten unteren Staufläche durch die Glasscheibe des Beistelltischchens aus den siebziger Jahren entgegen, wenn wir mit einem Latte Macchiato bei unserer besten Freundin sitzen, die in einer äußerst erfolgreichen und hippen Agentur arbeitet. Bzw. arbeitete, denn sie wurde wegen der asketischen Konjunktur entlassen.

Wir sind alle vom avantgardistischen Sinngestammel der Zeitschrift entzückt, deren Auslegen jede 2,5-Zimmer-Genossenschaftswohnung auf Penthousehöhe liftet. Schließlich hat diese expansive Komposition der Leere neutestamentliche Sprengkraft. Eine Generation, die mit dem Petzi-Bär, Hans Mohl vom ZDF-Gesundheitsmagazin »Praxis« sowie mit Blockflötenunterricht aufgewachsen ist und die sich beständig damit beschäftigt, diese kindlichen Erinnerungen in Buchdeckel zu pressen, findet ein Magazin wie Wallpaper in unserer unspirituellen Zeit richtig putzig.

»Die Menge fragt bei jeder neuen bedeutenden Erscheinung, was sie nutze, und sie hat nicht Unrecht. Denn sie kann bloß durch den Nutzen den Wert einer Sache gewahr werden« (Goethe, »Maximen und Reflexionen«). Der Nutzen einer Zeitschrift war einst die Information. Ihre Funktion basierte stets auf der Darstellung von mehr oder minder aktuellen Geschehnissen. Das Herausgreifen von bestimmten Dingen aus dem Wirklichkeitszusammenhang zielte auf eine Verfeinerung des Verständnisses und der Klärung eines Sachverhaltes.

Wallpaper ersetzt dieses Prinzip durch das der Illustrierung. Die Ästhetik ist dabei von besonderer und einzigartiger Natur. Denn sie versucht abzubilden, ohne zu zeigen. Sie beschreibt, ohne zu berichten. Sie kennt weder Annäherung, Annahme noch Ablehnung. Ihre Form dient nicht der Verständniserweiterung, sondern lediglich der Kreation einer Szenerie.

Wir sehen architektonische Impressionen aus Tripolis, den Frühstückswagen eines Pariser Luxushotels, die Skyline von Riga. Wir sehen gewaltige Monumente ohne organisches Leben. Die in der Negation alles Menschlichen untergegangene Zivilisation kehrt metaphysisch gewandelt wieder zurück durch die Leere der dargestellten Bilder. Im Sinne eines semiotischen Transfers und der Durchschlagskraft einer Neutronenbombe ist es nur konsequent, dass sich auf 278 redaktionellen Abbildungen lediglich 38 menschliche Wesen finden lassen (Ausgabe 11/2002).

Dabei besticht das Defilee von Luxury-Marken. Von 296 Seiten sind 154 Werbefläche, da reiht sich Bally anstandslos hinter Cartier ein, BB Italia kommt kurz vor dem Audi V8. Für einen besonders originellen Auftritt im Wallpaper haben sich einzelne Marken extra noch einem kurzen dreimonatigen Kreativworkshop der betreuenden Agentur unterworfen. Die Markenmacher wissen, was sie dem Kunstdruck Wallpaper und seiner akademischen und kaufkräftigen Kundschaft in ihren bestuckten Altbauboxen schuldig sind.

Die Werbung und Wallpaper leben in einer unendlich harmonischen Beziehung miteinander. Auch die Werbung zeigt eben nicht das wirkliche Leben, sondern nur eine möglichst attraktive Hülle. Das wirkliche Leben will auch wirklich niemand kaufen. Denn es besteht ja aus Hundescheiße am Schuh, Instantnudelgerichten, die »Yum Yum« heißen, und Wohnungen mit Silberfischen. Gezeigt wird vielmehr eine keimfreie Hülle, frei von Ekzemen, Varizen, Grützbeuteln und Mundgeruch. Eine Konstruktion des Lebens, aber eben nicht das Leben selbst. Und deshalb besitzen sämtliche Bilder keine Tiefe, sondern nur Oberfläche. Die abgebildeten Menschen wirken wie eingefroren, ohne Mimik.

Erst die ästhetische Synthese der Werbung und des (humanreduzierten) redaktionellen Teils konstruiert den »Spiritus Wallpaper«. Hier erreicht die moderne gesellschaftliche Abstraktion ihren Höhepunkt. Die Werbung streift ihre Werbenatur ab, um zum Inhalt zu werden. Denn was der emotionsfreien Aneinanderreihung totdesignter Bilder an Kontur fehlt, macht die Werbung wett.

Diese Zeitschrift wird erst durch Werbung lebendig. Im Gegenzug erhält Werbung die Wallpaper-Segnung, im Dunstkreis von Kunst und Zeitgeist zugleich zu sein. Das attraktive Angebot führt zur Enge in der Leere. Auf den 154 Werbeseiten drängen sich durchgestylte Körper in die menschenfreie Zone, stützen sich afrikanische Brüste auf die Lehnen italienischer Designerstühle, heben blonde Frauen ihre Stiefelletten in die Bügelfalte des männlichen Gegenübers.

Hier leben Menschen allenfalls in der Werbung oder anders gesagt, erst in der Werbung lebt der Mensch. Denn die Werbung ist der Sinnstifter innerhalb eines postmodernen Weltbildes, in welchem der Homo sapiens erst durch den Konsum von Waren sein eigenes Ich entwickelt. Dieser metaphysischen Beschaffenheit nähert sich Wallpaper. Das Magazin verdichtet in einmaliger Weise das Wechselspiel zwischen der Werbung und der Humanreduktion. Die Zeitschrift bietet dem vom Zeitgeist konditionierten Ego eine schaurig-schöne Bühne der Selbstdarstellung.

Dabei macht der avantgardistische Bildersatz die soziale Zielsetzung der Leserschaft deutlich. Gerade in Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs eröffnet sie einer Generation von jungen, aufstrebenden Kreativlingen die Möglichkeit, am distinguierten Glanz einer scheinbar erstrebenswerten Welt teilzuhaben, ohne über das nötige Kapital zu verfügen. In diesem Sinne wirkt Wallpaper wie ein Generikum. Es ist nicht das Original, lässt allerdings dessen Strahlkraft über die entzückte Seele huschen. Statt Vivienne Westwood am Körper liegt Wallpaper gut sichtbar auf dem Parkettfußboden.

Immer öfter gilt, dass die Werbung nicht nur wirbt, sondern eine Kunst- und Lebensform ist. Wallpaper ist das Surrogat dieses Zeitgeistes, pralle Leere im Gewand homogenisierter Affektekstasen. Der suhle Mief dieses Geistes stiftet einer Sozialität Sinn, welche die schöne Hülle zum Programm für das eigene Leben erwählt.