Erst ausziehen, dann putzen

Im Abschiebegefängnis Köpenick sitzen derzeit 400 Menschen. Einige werden regelmäßig von der Berliner Initiative gegen Abschiebung besucht. von martin kröger

Auf der Hauptverkehrsstraße strömt der Feierabendverkehr. Die PassantInnen nehmen kaum Notiz von dem abseits der Straße errichteten Komplex, der wie eines der typischen Industrieareale am Berliner Stadtrand anmutet. Die fahle Wintersonne spiegelt sich in den unzähligen Fenstern der beiden Haupttrakte. Erst auf den zweiten Blick werden die Wachtürme, die Vergitterungen, der Nato-Draht und die anderen Überwachungsanlagen sichtbar. Sie gehören zum Abschiebegewahrsam Köpenick des Landes Berlin im Stadtteil Grünau.

Jedes Jahr werden hier 5 000 Personen inhaftiert, um sie in ihre vermeintlichen Herkunftsländer zu deportieren. In dem ehemaligen Frauengefängnis der DDR können gleichzeitig 370 Menschen in die so genannte »Sicherungshaft« genommen werden.

Seit dem Oktober 1995 ist das Abschiebegefängnis in Betrieb; der Plan einer linksradikalen Gruppe, einen Sprengstoffanschlag vor der Inbetriebnahme zu verüben, scheiterte. »Ein Gelingen der Aktion hätte weit mehr als symbolischen Charakter gehabt. Es hätte einen effektiven Eingriff in die Umsetzung der Abschiebebeschlüsse bedeutet und den Ausbau der Maschinerie zumindest vorübergehend gestoppt«, hieß es in der damaligen Erklärung der Gruppe.

»Bitte buchstabieren Sie den Namen«, sagt der dickliche Polizeibeamte und hantiert mit einer mehrseitigen Liste im Besuchertrakt des Gefängnisses. Anette, ein Mitglied der Berliner Initiative gegen Abschiebehaft, vergewissert sich nochmals, ob ihre Angaben über die Person, die sie besuchen möchte, in Ordnung sind. Würde sie einen falschen Buchstaben nennen, könnte sie wieder nach Hause geschickt werden.

Anette will, wie alle zwei Wochen, Tracy* besuchen. Ihre Mitbringsel muss sie zur Kontrolle abliefern. »Besonders beliebt bei den Insassen sind Döner und Hähnchen, das Essen hier ist Scheiße«, erzählt Anette. Ansonsten bringt sie Filzstifte, Telefonkarten, Obst, Zigaretten und anderen Kleinkram. Bevor Tracy die Sachen in Empfang nehmen kann, werden sie allerdings von den Polizisten genau untersucht. Gegenstände aus Glas sind generell verboten. Zu groß ist die Suizidgefahr, gerade bei denen, die schon längere Zeit in Haft sitzen. Selbstmorde und Hungerstreiks sind hier an der Tagesordnung.

»Die meisten werden hier in ein paar Tagen durchgeschleust«, weiß Anette, »bei ihnen handelt es sich zumeist um ArbeitnehmerInnen aus Osteuropa, deren Identität geklärt werden kann und die schon nach ein paar Tagen in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden.«

In den eng nebeneinander liegenden Besucherkabinen, in denen eine Plexiglasscheibe Gefangene und BesucherInnen trennt, herrscht Hochbetrieb. Nebenan schreit eine Deutsche verzweifelt nach ihrem inhaftierten Mann, sie versteht die Welt nicht mehr und will Deutschland verlassen. Wie alle in Grünau, versteht auch Tracy nicht, warum sie hier gelandet ist. Seit Juni sitzt die 16jährige in Köpenick ein. Mehrmals wurde sie seither in verschiedenen Botschaften vorgestellt, um ihre Personalien zu überprüfen. Ihre Angabe, dass sie aus einem westafrikanischen Land stammt, wird von der Berliner Ausländerbehörde in Zweifel gezogen. Doch ohne gesicherte Identität kann nicht abgeschoben werden.

»Wir machen den ganzen Tag nichts«, berichtet Tracy. Gemeinsam mit den sechs anderen inhaftierten Frauen aus dem Sudan und aus Sierra Leone schlägt sie die Zeit vor dem Fernseher tot und hofft, dass sie bald freigelassen wird, »um dann zur Schule gehen zu können«. Zehn Prozent der Inhaftierten müssen nach mehrmonatiger Haft wieder entlassen werden. Allerdings können Häftlinge bis 18 Monate einsitzen, wenn ihre Identität nicht geklärt werden kann.

Auch Sergej ist minderjährig. Seit neun Monaten schon wird er in Grünau festgehalten. »Gestern habe ich durchs Fenster gesehen, wie eine Frau oder ein Mann sich die Pulsadern und den Hals aufgeschnitten hat.« Der Junge wirkt wenig schockiert, schließlich ist ihm schon Schlimmeres widerfahren. »Ich habe zwei Leute gefunden, die sich mit einem Gegenstand den Bauch aufgeschnitten haben«, schildert er seine Erlebnisse. Olivia von der Initiative hat ihm Zeitungen und Comics mitgebracht. Er freut sich: »Es gibt hier kaum Literatur in kyrillischer Schrift, nur sowjetische Bücher, Marx und Engels, nichts Vernünftiges.«

Zu den anderen Gefangenen hat Sergej wenig Kontakt. »Wir unterhalten uns nicht. Hier hat jeder seine eigenen Probleme.« Die deutschen Polizisten, die als Gefängniswärter eingesetzt sind, wahren Abstand, lassen sich »Meister« rufen und durchsuchen dann und wann alle Sachen in den Zellen, in denen sechs bis acht Personen untergebracht sind. »Wir müssen uns dann komplett ausziehen, Striptease machen und können danach erst mal drei Stunden putzen, weil sie alles auf den Boden geworfen haben«, berichtet Sergej.

Die einzige Abwechslung im tristen Alltagsgeschehen soll der einstündige Hofgang sein. Aber für Tracy ist es zur Zeit viel zu kalt, um rauszugehen. Auch Sergej hält nichts von den engen Freiluftparzellen: »Bei diesem schlechten Wetter spielen wir nicht einmal Fußball. Ich gehe einfach ein paar Runden und versuche, frische Luft zu atmen.«

Neben Sergej und Tracy besucht die Berliner Initiative gegen Abschiebehaft noch viele andere Gefangene. Bei einer Belegung bis 400 Personen reichen ihre personellen Kapazitäten allerdings längst nicht für alle. »Zwar dürfen wir keine juristischen Beratungen machen«, sagt Anette, »aber wir versuchen, Kontakte herzustellen und zu überprüfen, ob die Leute ihr Taschengeld bekommen, fragen, wie ihre Abschiebeverfahren laufen, und versuchen, allgemeine Infos zu bekommen.«

Dabei arbeitet die Gruppe eng mit den beiden Seelsorgern der Haftanstalt und den Flüchtlingsberatungsstellen zusammen. Über Mundpropaganda informiert, melden sich neue Häftlinge bei der Initiative. Sie versucht dann, regelmäßige Besuche zu organisieren, um einen »sozialen Minimalkontakt« aufrechtzuerhalten und Schikanen, Diskriminierungen und die ungenügende medizinische Versorgung publik zu machen.

Neben dieser Arbeit im Knast organisiert die Initiative Informationsveranstaltungen über die Situation in Grünau und versucht, das Thema auch wieder »politisch« in Angriff zu nehmen, wie Anette erzählt. »Am 2. November haben wir auf dem Parkplatz vor dem Knast einen ›Tag der offenen Tür‹ veranstaltet.« Immerhin kamen 150 Leute, »ein Erfolg«, findet sie. Die Veranstaltung war gleichzeitig der lokale Auftakt zur bundesweiten Kampagne gegen Ausreisezentren und Abschiebungen. In Berlin koordiniert die Initiative die Aktivitäten der Kampagne. Trotz ihrer grundsätzlichen Ablehnung der Abschiebepraxis sucht die Initiative auch das Gespräch mit der Landesregierung.

Verheißungsvoll waren die Ankündigungen, die der rot-rote Senat bei seinem Regierungsantritt zur Abschiebepolitik vorlegte: »Der Senat wird die in der vergangenen Legislaturperiode eingeleiteten Maßnahmen zur Vermeidung von Abschiebehaft und zur Verbesserung der Situation im Abschiebegewahrsam weiterführen«, hieß es in der Koalitionsvereinbarung. Neben kleineren Verbesserungen in der Haft, wie der Einrichtung von Teeküchen, der Einstellung einer neuen Sozialarbeiterin und kleinen räumlichen Veränderungen, wurde ein sechsmonatiges Modellprojekt in Gang gebracht, um vor allem Minderjährige und schwangere Frauen aus der Abschiebehaft herauszuhalten.

Mehr ist nicht zu erwarten, hinter vorgehaltener Hand erfährt man auch warum. »Dafür sind wir nicht gewählt worden«, sagt ein Mitglied der Koalitionsregierung. Auch grundsätzlich werde Berlin an der Abschiebehaft festhalten, weil »die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist«, wie der Innenstaatssekretär Lutz Diwell von der SPD auf einer Podiumsveranstaltung der Initiative unlängst klipp und klar feststellte.

* Name von der Redaktion geändert

Die Berliner Initiative gegen Abschiebung trifft sich an jedem zweiten Montag (ungerade Kalenderwochen) um 19.30 Uhr in den Räumen der Katholischen Studentengemeinde (KSG) am U-Bahnhof Hansaplatz.