Social Suicide

Alle sind sich sicher: Das Jahr 2003 wird ein Krisenjahr. Selten war die Stimmung so schlecht wie heute. Ist der Sozialstaat noch zu retten? Was soll die Linke tun? Eine Diskussion

Viele von uns sind im Bewusstsein politisiert worden, dass Deutschland ein reiches und fettes Land ist, dessen Bewohner ohne Unterlass daran arbeiten, noch reicher und noch fetter zu werden. Wenn man als linker Deutscher im Ausland unterwegs war, schämte man sich immer ein bisschen dafür, ein Repräsentant dieses Wohlstands zu sein, und versuchte vielleicht, sich mit zerrissenen Jeans und Rucksack als Nomade zu tarnen. Weil man wusste, dass diese Saturiertheit der Ersten Welt, deren Musterbeispiel das kapitalistische Deutschland war, auf Kosten der Dritten Welt erwirtschaftet wurde, hatten Linke ein kritisches Verhältnis zur deutschen Wohlstandsgesellschaft.

Vor allem die jüngeren Jahrgänge kannten gar nichts anderes und erfuhren von den sozialen Kämpfen nur aus den Erzählungen ehemaliger Mitglieder der diversen K-Gruppen. Doch die Klassenkämpfer von damals werden heute als Alt-68er geschmäht.

Und veraltet sind sie ja auch tatsächlich aus Sicht der in den achtziger und neunziger Jahren politisierten Antideutschen, Poststrukturalisten, Antifaschisten, Genderaktivisten und Autonomen, die sich nach der Wiedervereinigung gegen den deutschen Mob stellten, der glaubte, seinen Besitz gegen die »Ausländer« oder »Asylanten« genannten Migranten verteidigen zu müssen.

Der »rassistische Bauarbeiter« wurde zum Lieblingsfeind der Linken, an ihm ließ sich zeigen, dass die soziale Frage, mit der sich die traditionelle Linke immer beschäftigt hatte, nicht länger oben auf der Tagesordnung stehen durfte. Das Proletariat hatte sich als revolutionäres Subjekt aus Sicht der neuen Linken diskreditiert.

Dass man über der partikularen Politik für Migranten, Homosexuelle oder Frauen nicht das große Ganze vergessen dürfe und Politik und Ökonomie nicht mit Kultur und Pop zu verwechseln seien, betonten zwar die radikalen Linken, mit ihren voluminösen Wirtschaftstheorien konnten sie aber in den fedrigen Jahren des New-Economy-Booms nicht landen. Mehr Erfolg hatte die globalisierungskritische Bewegung, die sich vor allem durch ihre Praxis und ihren Pragmatismus profilierte.

Das Soziale drängt wieder auf die Agenda. Mit welchen Strategien, Bündnissen, Theorien und Zielen soll die Linke nun auf die Krise, die Krisenrhetorik, die geplanten »Reformen« und den sozialen und ideologischen Umbau der Gesellschaft reagieren?

High Noon für die Gewerkschaften

Alle Unsicherheiten über die Pläne der Regierung Gerhard Schröders sind heute, wenige Monate nach der Bundestagswahl, ausgeräumt. Der wirtschaftsliberale Kurs wird fortgesetzt, noch so bescheidene Ansätze wie die Wiedereinführung der Vermögenssteuer werden vom Tisch gefegt, und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) stellt weitere Geschenke und Deregulierungen fürs Kapital in Aussicht.

Die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), von Gewerkschaftern mit SPD-Parteibuch immer als Verbündete im Widerstand gegen die Privatisierung und die Demontage der sozialen Sicherungssysteme angesehen, zeigt sich inzwischen offen für alle Vorschläge, die genau das beschleunigen würden. Um vom jüngsten Diskussionspapier aus dem Kanzleramt ganz zu schweigen.

Die bedingungslose Unterstützung der Gewerkschaftsführungen für die rot-grüne Koalition im Wahlkampf wird nicht honoriert. Der Propagandapopanz eines »Gewerkschaftskanzlers« hat für die Unternehmer und ihre Medien seinen Zweck erfüllt und wird wieder eingepackt. Und die Gewerkschaften selbst? Von hoffnungsvollen Ausnahmen wie dem Tarifkonflikt im Öffentlichen Dienst abgesehen, wird zu alledem erst einmal viel geschwiegen.

Nun haben sich weder der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) noch die großen Einzelgewerkschaften in den vergangenen Jahren mit Ruhm bekleckert, wenn es darum ging, den Widerstand gegen die Umverteilung von unten nach oben zu organisieren. Erinnert sei an die halbherzige Kritik am Systembruch in der Rentenversicherung, an der Steuerreform, die die Leere in den öffentlichen Kassen (mit) verursacht, oder an den Hartz-Vorschlägen, die meist unkritisch akzeptiert und verharmlost wurden.

Doch diese halbherzige Politik rührt nicht daher, dass die Verzichtsforderungen der Regierung und der Unternehmer in der Bevölkerung oder gar in der Mitgliedschaft akzeptiert würden. Das belegen der Verlauf der Tarifverhandlungen im Metallgewerbe im Jahr 2002 und die aktuelle Lohnrunde im Öffentlichen Dienst. Trotz des Trommelfeuers der Medien gegen die gewissenlosen »Arbeitsplatzbesitzer« gab und gibt es eine Kampfbereitschaft in den Betrieben und Büros. Es handelt sich aber nur um kleine Schritte aus der selbstzerstörerischen Unterordnung der Gewerkschaften unter die Regierungs- und Kapitalinteressen. Angesichts der absehbaren Politik der rot-grünen Koalition sind weitaus größere Schritte nötig.

Wer die öffentliche Daseinsvorsorge verteidigen und verbessern und dafür politischen Druck machen will, kommt um die zentrale Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums nicht herum. Und politische Konzepte, die dies gegen die Kapitalinteressen ansprechen, werden nicht mit Lobbyismus durchgesetzt, sondern nur durch die eigene Kraft, durch Demonstration von Gegenmacht auf der Straße. Nur das beeinflusst auch die öffentliche und veröffentlichte Meinung.

Die Gewerkschaften stehen vor einer Richtungsentscheidung. Es geht um die Rückgewinnung der Autonomie, der Glaubwürdigkeit und der Zukunftsfähigkeit durch Kampagnen für eine soziale Umverteilung, gegen soziale Demontage und Krieg, im Bündnis mit der Antikriegsbewegung, den sozialen Verbänden und der Antiglobalisierungsbewegung.

Dass diese Alternative sich gegen den gefährlichen, letztlich selbstzerstörerischen nationalen Wettbewerbspakt mit den Unternehmern und die Moderation der Verschlechterung an einem Tisch mit der Regierung durchsetzt, dafür muss die Linke in den Gewerkschaften kämpfen. Die Alternative für die Gewerkschaften heißt heute mehr denn je: Teil der Lösung werden oder Teil des Problems!

tom adler, ig metall

Keine Lust auf Krise

»Wir lassen uns von der Konterrevolution nicht die Termine diktieren«, hieß es früher einmal. Die Krisenkampagne macht mir wenig Lust, mitzureden, mein Oppositionsgeist gibt mir ein, dazu die Schnauze zu halten wie zu Naddel und Bohlen.

Es ist auch allzu deutlich, dass diese Krise-Krise geschürt wird, um den Abbau sozialer Leistungen zu begründen. Schwimmbäder und Verkehrsmittel sollen weiter verteuert, die Lohnnebenkosten gesenkt werden, kurzum, es soll weiter von unten nach oben umverteilt werden. All das gibt es schon in den USA, ohne dass das Reicherwerden der Reichen die allgemeine Wohlfahrt befördert hätte. Jetzt wird ein Krieg vorbereitet, um das allgemeine Geschäftsklima zu verbessern.

Seit 20 Jahren kriegen wir täglich zu hören, dass die Armen nicht länger auf der faulen Haut liegen dürften, dazu braucht es keine besondere Krise. Das läuft wie die Kampagne zur Einführung eines Waschmittels, das endlich gekauft wird in der Hoffnung, dann werde die Werbung verstummen.

Den Armen wird nicht nur genommen, sie werden auch noch zur Sau gemacht. Daran wirkt fast die ganze kulturelle Produktion mit, an diesem Weltbild des produktiven Konsums, nach dem es toller sei, in einen Club zu gehen als in die Eckkneipe.

Gut, ich nehme diese Krise jetzt zum Anlass, den sozialen Rassismus aufzugreifen, das bashing der Prolos, denen die öffentlichen Bäder zu teuer sind und die nicht in die privaten Fitnessclubs gehen, weil es da keine Pommes gibt. Schön wär’s, die Prolos wehrten sich, ihnen ihre Duldsamkeit anzukreiden, das gehört zum Verarschen dazu.

harun farocki, filmemacher

Falsche Fragen, schlechte Antworten

Die Orakel dröhnen. Die Wirtschaftskrise dauert! Die Lebensarbeitszeit muss verlängert werden! Die Lohnnebenkosten müssen runter! Die Sozialdämme brechen!

Kaum jemand fragt noch nach Belegen. Die Wirtschaft kriselt? Wo? Hierzulande wächst sie, nicht üppig, aber immerhin. Ganz zu schweigen von den durchschnittlichen Gewinnen großer Konzerne. Die Lohnnebenkosten müssen runter? Warum? Für Profite sind sie zweitrangig. Da schlagen Produktivität und Innovation ganz anders zu Buche. Die Steuern sind zu hoch? Bei wem? Den Unternehmen, die sich arm rechnen und ihre Scheinverluste staatlich vergolden lassen? Egal, die Orakel dröhnen weiter, wieder und wieder.

»Es muss umgebaut werden«, lautet die Botschaft, »radikal.« Gemeint sind vor allem die Sozialsysteme. Kaum jemand spricht dabei noch von Solidarsystemen. Deren Sinn war übersichtlich: Gesunde helfen Kranken, Verdienende helfen Arbeitslosen, Reiche helfen Armen. Derweil zahlen Kranke mehr als Gesunde, Arme mehr als Reiche, abhängig Beschäftigte mehr als viele Unternehmer. Mit den bekannten Folgen: Das Staatssäckel und die Sozialkassen sind leer. Und aus dem Solidarprinzip werden Kasko-Versicherungen mit wachsender Selbstbeteiligung. Die Orakel fragen nicht nach Artikel 20, Absatz 1, Grundgesetz: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein (…) sozialer Bundesstaat.«

Wer falsche Fragen stellt, bekommt schlechte Antworten. »Können wir uns die Sozialsysteme noch leisten?«, geben die Orakel zu bedenken und befinden prompt: »Nein!« Auf andere Pfade gelangt, wer fragt: »Wie können wir das Solidarsystem retten?« Beispiel Arbeitgeberanteil. Zu Bismarcks Zeiten wurden die Anteile paritätisch erhoben. Ob Kranken-, Renten- oder andere Kassenbeiträge, ein Teil wurde vom Lohn abgezogen, ein gleich großer vom Gewinn. Das schien damals gerecht. Denn wer viele bei und für sich beschäftigte, wer folglich entsprechend verdiente, der sollte auch mehr Sozialbeiträge zahlen als kleinere Unternehmen.

Das Prinzip gilt offiziell noch heute, obwohl es in zweifacher Hinsicht überholt ist. Zum einen, weil sich die Gewinnerwartung eines Unternehmens nicht mehr primär aus der Zahl der Beschäftigten ableitet. Die Arbeitswelt ist eine andere. Zum anderen, weil die Arbeitgeber schon längst nicht mehr paritätisch beteiligt sind. Für jedes Rezept wird einseitig eine Gebühr kassiert, von den Lohnabhängigen, den Kranken. Und wer seine Rente nicht zusätzlich privat »verriestert«, muss mit Abzügen leben.

Nicht nur die PDS schlägt seit langem einen Systemwechsel vor, der zeitgemäß wäre und gleichzeitig das Solidarsystem stärken könnte. Der Arbeitgeberanteil sollte nicht mehr nach der Lohnhöhe eines Unternehmens berechnet, sondern durch eine Wertschöpfungsabgabe ersetzt werden. Aber die Orakel dröhnen weiter und die Politik zollt Beifall. »Die Vorschläge der Rürup-Kommission werden wir eins zu eins umsetzen«, hieß es aus grünen Kreisen, als die Kommission noch nicht mal gebildet war.

petra pau, mdb (pds)

Das Jahr zwei

Willkommen im Jahr zwei der Krise! Endlich dahin – der ungesunde Lärm der Neunziger, der Hype um Aktienpakete, der Größenwahn der IT-Branche, das Allmachtsblabla des Kapitalismus. Und überhaupt: Krisis ist das griechische Wort für Entscheidung. Ernüchtert wird jetzt gespart, verkatert der Euro dreimal umgedreht.

Was folgt, wird nicht wirklich Spaß machen. Das ahnt jeder. Die Gespräche dieser Tage, ob vor der Imbissbude oder an der Arbeitsstelle, drehen sich wieder um Realitäten, nicht um hohlen Distinktionsgewinn. Tastes like Wirklichkeit, Jammern auf hohem Niveau. Aber lassen sich die Probleme allein durch Sparsamkeit, die Tugend des 19. Jahrhunderts, bewältigen?

Neu an dieser Krise ist, dass erstmals auch die Medien betroffen sind, und zwar so ziemlich alle: Agenturen wie Verlage, Boulevard- wie bürgerliche Presse, private wie öffentlich-rechtliche. Bisher war man immer fein raus, als integrer Großverdiener, als Moralapostel auf Beobachterposten. Jetzt droht auch der Gesinnungsavantgarde der Sturz in die Arbeitslosigkeit.

Werbeanzeigen bleiben aus, Annoncen stehen, wenn überhaupt, im Internet. Unter Sparzwang und Zeitdruck schreiben die Redakteure schon mal alleine die Seiten voll, die freie Mitarbeiter gehen leer aus, trashige Wiederholungen füllen die Programme. Wer soll dafür noch Geld ausgeben?

Die Gründe für die Pleiten sind zahlreich: die Vorgängergeneration, die sich schamlos bedient hat, das Missmanagement der Medienkonzerne, die Unternehmer, die auf den Hype reingefallen sind. Klar ist auch, dass die »Bewusstseinsindustrie« den Wahnsinn in den neunziger Jahren selbst heftig befördert hat.

Da wäre Selbstkritik angebracht. Man könnte sich an die eigene Nase fassen und etwa Börsenmeldungen, die die Beherrschbarkeit des Marktes suggerieren, aus den allgemeinen Nachrichten nehmen. Die Spekulation mit Aktien wird wieder zum risikoreichen Geschäft für Spezialisten, für eine ziemlich kleine Gruppe der Bevölkerung.

Das Jahr zwei der Deflation. Autos, Waschmaschinen und ISDN-Anschlüsse haben wir schon. Schwierigkeiten gibt es mit den »Waren« der besonderen Art: Information, Bildung, Kultur, Gesundheit, Altersvorsorge, allesamt Güter, die in langwierigen, sozialen Prozessen geschaffen wurden, Errungenschaften des Sozialstaats. Was die ehemals sozialistischen Länder schon ereilt hat, steht nun auch hier bevor: Glasnost und Perestroika, Anamnese und der Umbau des Sozialstaates.

Die Vertreter der politischen Klasse scheinen weder fähig noch willens, die Probleme in den Griff zu kriegen. Wir, die heute Berufstätigen, sind trotz alledem verantwortlich, und zahlen müssen wir eh. Das Erarbeiten von Lösungsvorschlägen sollte deshalb nicht nur Expertenkommissionen überlassen werden. Eine Diskussion auf breiter Basis muss her, eine öffentliche Auseinandersetzung über unsere Zukunft und die Aufgaben des Staates, darüber, wer wir sind. Was müssen wir wirklich wissen? Was brauchen wir, um menschenwürdig leben zu können? Und wie lässt sich das finanzieren?

Wir erleben gegenwärtig die erste kollektive Krise unserer Generation, die das hypertrophierte Selbstverständnis ankratzt. Bisher läuft es noch ganz manierlich ab, aber was passiert, wenn’s weiter kracht? Wer weiß, vielleicht gibt es ja noch ein paar alternative Modelle, auf die man sich schon mal einigen kann, außerparlamentarisch zumindest. Mit Fremden vor der Würstelbude, mit Kollegen im Redaktionsflur.

markus mayer, rundfunkjournalist

Ein Wunschzettel

Liebes neues Jahr, ich wünsche mir eine Linke. So eine wie Greta sie hat, nur nicht so schlecht gelaunt und ein bisschen moderner. Eine, die man überallhin mitnehmen kann, nicht bloß zu anderen Linken. Sie soll richtig reden können, mit echten Sätzen. Nicht wie die von Melanie, die nicht mal Bitte und Danke sagen kann ohne dass »Kapital« dabei vorkommt.

Sie soll alles anziehen können, auch richtig schicke Sachen. Nicht so wie die von Paul, die immer aussieht, als ob er sie eben in der Mülltonne gefunden hätte. Und sie soll keine Ökoklamotten anhaben wie die von Agnes, die so scheußlich nach Schaf riecht.

Sie soll Sätze sagen können wie: »Bush ist Scheiße!«, ohne rot zu werden. Sie soll gegen den Krieg sein. Sie soll gegen Chefs sein und andere ab und an fragen, ob sie sich nicht vorstellen könnten, den Laden selbst zu schmeißen. Sie soll fies lachen können, wenn jemand sagt: »Das war immer schon so« oder »Das ist für uns alle am besten«.

Sie soll zickig sein können, und wenn ich sie rufe, soll sie manchmal nicht kommen. Wenn jemand blöd zu mir ist, soll sie mir nicht erklären, wieso die Welt so sei, sondern mit nachdenken, was wir machen können. Sie soll Fragen stellen können wie die, wohin das Geld verschwindet und wer wovon was hat. Sie soll manchmal PDS wählen und in irgendwas Mitglied sein, aber sie soll keine Wissenschaft draus machen.

Sie soll keine glasigen Augen kriegen, bloß weil jemand »Amerika« sagt oder »Widerstand« oder »Wertvergesellschaftung«. Ich finde es blöd, wenn sie so wäre wie die von Anke, die einen Krampf kriegt, wenn sie sich mal was gönnt, weil das vielleicht antisemitisch ist oder rassistisch oder irgendwie verkürzt. Ich mag auch keine wie die von Hajo, die nicht mehr rausgeht, weil sie schon alles weiß und sich schon selber für alles kritisieren kann. Eigentlich soll sie wie eine gute Freundin sein, die was in der Birne hat und sich von niemandem was gefallen lässt.

Liebes neues Jahr, ich weiß, du hast viel zu tun. Trotzdem verstehe ich nicht, was das Problem an meinem Wunsch sein soll, den du im letzten und vorletzten Jahr, wenn ich dich erinnern darf, auch schon nicht erfüllt hast! Ich weiß ganz genau, dass du Gerd einen neuen Job gebracht hast und Dörte eine nagelneue Adorno-Gesamtausgabe. Also bitte, denk auch mal an mich!

christoph spehr, redakteur der zeitschrift alaska

Denkt anspruchsvoll!

Krise heißt, am Sonntagnachmittag auf dem Rechner für ein Almosen das Textprogramm zu öffnen, statt auf dem Ego-Shooter »Medal of Honour« Europa vom Faschismus zu befreien (eine Raubkopie, versteht sich). Im Hintergrund singen die Strokes dazu: »Take it or leave it!«

Eine eilige Umfrage in der WG ergibt: Die Krise schwächt die Antifa. Der Mitbewohner fürchtet, dass niemand mehr den Nazis hinterherjagt, wenn der Zahnersatz selbst bezahlt werden muss. Die Mitbewohnerin sagt, die Leute können bald wegen der Studiengebühren nicht mehr studieren und haben deshalb keine Zeit mehr, links zu sein.

Doch seit ich politisch denken kann, seit Ende der achtziger Jahre, kriselt alles außer der Krise: die Arbeitsgesellschaft, der Sozialstaat, der deutsche Schlager, die Linke. Dass die Krise jetzt überall besprochen wird, liegt zu einem Gutteil daran, dass sie auch Journalisten trifft. Dass daneben Sozialarbeiter, Projektmanager, Dozenten entlassen werden, bedrückt die radikalen Linken, es sind ihre bevorzugten Berufe.

Im Grunde bringt die Krise aber nicht viel Neues. Wer vor zehn Jahren Antifa war und vom Kapitalismus nicht reden wollte, war damals schon borniert. Antifa kann vieles sein: ein Aktionsfeld für eine ansonsten wenig handlungsfähige Linke, ein Agitationsthema zur Politisierung der rebellierenden Jugend, ein Abwehrkampf gegen alle, die für das noch schlechtere Leben morden. Die Kritik der politischen Ökonomie ersetzt sie nicht.

Will die Antifa mehr sein als der schlagende Arm der Sozialdemokratie, bedarf es der Verbindung mit dem antikapitalistischen Kampf. Die Antifa muss sagen, was ist: dass der Kapitalismus systematisch Ungleichheit produziert, dass er alles und jeden mit dem Warencharakter schlägt, dass er die Menschen auf die Konkurrenz zurichtet und das Leben vom Zweck zum Mittel degradiert.

Ob wegen der sozialen Krise mehr Leute zuhören werden? Das ist fraglich. Vom Gang vor die Fabriktore ist weiterhin abzuraten. Das Treten nach unten, gegen Flüchtlinge, Obdachlose, Behinderte, wird noch zunehmen. Und das Pöbeln nach oben manifestiert sich als wohlstandschauvinistischer Ruf nach dem autoritären Staat oder, schlimmer noch, als antisemitisches Ressentiment.

Antifas bleiben beschäftigt: im Abwehrkampf gegen die nationale Notstandsgemeinschaft und deren prügelnden Mob. Und in der Auseinandersetzung mit Globalisierungsgegnern, die den Nationalstaat oder gar das Volk gegen das Finanzkapital in Stellung bringen wollen.

Ansonsten gilt: Besitzstände wahren, das Anspruchsdenken pflegen, zusammenhalten und sich gegenseitig lukrative Jobs zuschustern. Und an die jüngeren Genossen: Hört auf eure Eltern, lernt was Anständiges! Verkauft euch teuer!

markus maximilian, antifaschistische aktion berlin