West-östliche Diva

In den Briefen an ihre Freundin im Westen klagt Brigitte Reimann über die Enge in der DDR. von sandra löhr

Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische deutsche Nationalkultur braucht dich!« Mit diesem Aufruf sollten in den fünfziger Jahren ostdeutsche Arbeiter zum Schreiben gebracht werden. Auch die junge Lehrerin Brigitte Reimann veröffentlichte in dieser Zeit erfolgreich und ganz im Sinne des Arbeiter- und Bauernstaats ihre ersten Geschichten. Außerdem schrieb sie fast ihr ganzes Leben lang Tagebuch und unzählige Briefe, in denen sie ihren Alltag, ihre zahllosen Liebesaffären und ihren Ärger mit den erstickend engen Verhältnissen in der DDR festhielt. So als hätte ihr damals jemand zugeflüstert: »Schreib’ das auch alles auf, denn irgendwann braucht die wieder vereinigte deutsche Kultur das mal!« Heute ist Brigitte Reimann vor allem wegen ihrer privaten Aufzeichnungen auch den Westdeutschen ein Begriff.

Noch 1990 hätte wohl niemand daran geglaubt, dass die Schriftstellerin eine Renaissance im wieder vereinigten Deutschland erleben würde. Zwar wurde ihr 1974 posthum veröffentlichter Roman »Franziska Linkerhand« ein Kultbuch, doch viele wollten oder konnten in ihr nicht viel mehr als ein Ziehkind Ulbrichts sehen, der sie anfangs heftig protegierte. Im Westen blieb sie weitgehend unbekannt. Das hat sich seit dem Erscheinen der Tagebücher in den Jahren 1997 und 1998, die von Marcel Reich-Ranicki im »Literarischen Quartett« enthusiastisch besprochen wurden, geändert. Plötzlich wurde sie als »Phönix aus der Asche der untergegangenen DDR« gefeiert, und durch ihre Tagebücher wehte der »Odem großer Literatur«. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung war damals gut gewählt. Ende der Neunziger konnte man die DDR endlich als historisch begreifen, und je ferner sie rückt, desto stärker wird das Interesse an ihr. Auf jeden Fall trifft es sich ganz gut, dass ihre Biografie alle Ingredienzen eines prallen Lebensromans enthält.

Jetzt gibt der Aufbau-Verlag einen weiteren Briefwechsel heraus, der auf den ersten Blick das öffentliche Verlangen nach der privaten Reimann weiter bedient. Da ihre Tagebücher drei Jahre vor ihrem Tod enden, musste man sich bisher vor allem mit dem 1993 erschienenen Briefwechsel mit Christa Wolf begnügen, um auch etwas über ihre letzten Lebensjahre zu erfahren. »Grüß Amsterdam« schließt nun diese biografische Lücke. Von 1956 bis 1973 schrieben sich Brigitte Reimann und ihre Kindheitsfreundin Irmgard Weinhofen, die einen Niederländer heiratete und mit ihm 1963 nach Amsterdam ging. Und doch vermag das Buch sehr viel mehr, als nur das voyeuristische Interesse an der Person der Schriftstellerin zu befriedigen. Der Briefwechsel ist nicht nur das Zeugnis einer spannenden, trotz der Distanz immer tiefer gehenden Freundschaft zweier Frauen, sondern erzählt anschaulich und wie nebenbei die Konsequenzen des Ost-West-Konflikts und der Teilung Europas im Kalten Krieg.

Zunächst liest sich das Ganze wie eine brav geführte Korrespondenz zweier Freundinnen, die mehr aus Gewohnheit den Kontakt halten. Zwar schreibt Brigitte Reimann ausführlich von ihren materiellen Schwierigkeiten als Jungliteratin und erklärt ihrer Kindheitsfreundin: »Du bist mein Gewissen.« Doch kein Wort von all den Tragikomödien, dem Hin und Her zwischen zwei, drei oder mehreren Männern, von denen im Tagebuch zu dieser Zeit die Rede ist. Fast fühlt man sich ein wenig an Sylvia Plaths »Briefe nach Hause« erinnert, in denen die Amerikanerin ein perfektes Bild von sich entwirft und ihrer Mutter alle Ängste, Zweifel und Depressionen einfach verschweigt.

Doch nach und nach gewährt Brigitte Reimann ihrer fernen Freundin einen Blick hinter die Kulissen ihres Künstler- und Liebeslebens in der DDR, und im Gegensatz zu der Korrespondenz mit Christa Wolf muss sie ihrer im Ausland lebenden Freundin – und damit dem Leser – viele Bedingungen des DDR-Alltags erklären. Auf eine Einladung nach Amsterdam schreibt sie resigniert: »Ich habe kaum Chancen, ins Ausland zu kommen. (…) Wenn du wüsstest, wie ich dich darum beneide, dass du schon so viele Länder gesehen hast!«

Im Gegenzug berichtet Irmgard Weinhofen freimütig von ihren Erfahrungen und Schwierigkeiten im kapitalistischen System, von Wohnungsnot, mangelndem Kündigungsschutz, Ellbogenmentalität und fehlender Gleichberechtigung: »Im Allgemeinen verdient ein Arbeiter hier im Durchschnitt 100–125 hfl. in der Woche. Frauen natürlich ein Drittel weniger, auch bei gleicher Arbeit. (…) Man muss das hier alles erst einmal mitgemacht haben, um wieder einen kräftigen Schritt nach links zu tun.«

Mit den typischen Frauenproblemen in den fünfziger und sechziger Jahren müssen sich beide Freundinnen herumschlagen. Gegenseitig bestärken sie sich in ihren Emanzipationsversuchen, und manchmal scheint es fast, als ob die Freundin schließlich das Leben führt, das Brigitte Reimann immer angestrebt hat. In Amsterdam beginnt Irmgard Weinhofen mit fast vierzig Jahren ein Literaturstudium, sie reist nach Paris, England und Marokko, geht auf Jazzkonzerte und macht sich von ihrem Mann unabhängig. Besonders in den letzten Jahren, während Brigitte Reimann durch ihre Krebserkrankung immer schwächer wird, intensiviert sich noch einmal die Freundschaft. Sehr offen und anrührend berichtet sie ihrer Freundin von ihren Ängsten, ihrer Verzweiflung und den Schmerzen, aber auch von dem immer wieder aufkeimenden Lebensmut und den amourösen Verwicklungen. Gleichzeitig nimmt sie neugierig und auf alle Details versessen Anteil an den Erlebnissen ihrer Amsterdamer Freundin, die ihr so eine zumindest gedankliche Reise aus der engen DDR ermöglichen.

Man kann sich fast sicher sein, dass dies nicht die letzte Veröffentlichung zu der früh verstorbenen Autorin sein wird, die in diesem Jahr, in dem sich ihr Todestag zum 30. Mal jährt, ihren 70. Geburtstag hätte feiern können. Ab Herbst verfilmt der MDR in einer groß angelegten Produktion ihr Leben. Spätestens nach der Ausstrahlung wird Brigitte Reimann wohl endgültig zur gesamtdeutschen west-östlichen Diva werden und damit als Identifikationsfigur – nicht nur für Ostdeutsche – taugen. Hätte es die liebes- und lebenswütige Künstlerin mit ihrer Hassliebe zur DDR und ihrem frühen, sich tragisch hinziehenden Tod nicht gegeben, man hätte sie wohl erfinden müssen, um medienwirksam von den Lebensbedingungen im ostdeutschen Gesellschaftssystem zu berichten. Nur schade, dass hinter dem Rummel um die private Reimann ihre eigentlichen literarischen Arbeiten verblassen.

Brigitte Reimann/Irmgard Weinhofen: Grüß Amsterdam – Briefwechsel 1956–1973. Aufbau, Berlin 2003, 8,95 Euro