Extreme Polarisierung

Die venezolanische Gesellschaft in der Krise | Raul Zelik

Die Proteste gegen die Regierung Chávez sind zum Erliegen gekommen. Doch weiterhin geht ein Riss durch die Gesellschaft. In der Hauptstadt Caracas offenbart sich dieser Zustand in einer de facto geteilten Stadt. Hier die Mittelklasseviertel, hermetisch abgeriegelt. Da die Armensiedlungen, die teils blockweise besetzt sind. Die Linke unterstützt Präsident Hugo Chávez, aber nicht uneingeschränkt.

Caracas, das Viertel Chacao. Mit dem so genannten Streik ist es vorbei. Hier, im wohlhabenden Osten der Stadt haben die Schnellrestaurants wieder geöffnet. Im Fitness-Center Florida kann man etwas für die schlanke Linie tun, aus der Parketage der Residencia St. Moritz rollen Toyotas und Chevrolets, an den Tankstellen bilden sich keine Schlangen mehr.

Die Hysterie in den besseren Vierteln hat jedoch zugenommen. In unserem Haus hat die Eigentümerversammlung einen Notfallplan beschlossen: Erhöhte Wachsamkeit, Anlegen eines Medikamentenvorrats, Absperren der Zugangstore zu jeder Tageszeit. Außerdem haben sich die meisten Nachbarn mit Waffen versorgt. Kriegsvorbereitungen, die sich im Stadtbild von Chacao schon länger widerspiegeln. Apartmenthäuser und Villen sind von Mauern nicht unter drei Metern umgeben. Dazu kommen Stacheldrahtzäune, Überwachungskameras und bewaffneter Wachschutz. Es heißt, man wolle sich vor den »bolivarianischen Zirkeln« schützen, jenen regierungsnahen Komitees, von denen man im venezolanischen Alltag so wenig mitbekommt. Doch tatsächlich fürchtet man sich wohl eher vor den an den Hängen wohnenden Slumbewohnern, die in den vergangenen Jahren ungeahntes Selbstbewusstsein entwickelt haben.

Die so genannte Zivilgesellschaft. Keine drei Straßen von unserem Haus entfernt liegt die Plaza Francia. Hier hat die so genannte Zivilgesellschaft seit nun über drei Monaten ihre Zelte aufgeschlagen: abtrünnige Militärs, Frauengruppen, Lehrerverbände sowie die wegen milliardenschwerer Korruption erst vor vier Jahren zum Teufel gejagte sozialdemokratische AD (Acción Democrática) samt ihres Gewerkschaftsverbandes CTV.

Ich bleibe dort stehen, um mir eine Rede anzuhören. Neben einer Statue der Jungfrau Maria stehend, zitiert ein oppositioneller Luftwaffengeneral aus Dokumenten, die angeblich aus dem Umfeld der Regierung Chávez stammen. »Wir müssen auf die Lehrer einwirken, denn die Indoktrination während der Kindheitsjahre ist am wirkungsvollsten.« Und: »Schwieriger ist die Angelegenheit an den Universitäten, weil Studenten zu selbstständig denken.« Die Fälschung ist so plump, dass man lachen möchte. Doch die auf dem Platz versammelten Personen lachen nicht. Sie sind fest davon überzeugt, in einer »castro-kommunistischen Diktatur« zu leben. Als Beleg werden die Haftbefehle gegen den Unternehmerchef Carlos Fernández und Gewerkschaftsboss Carlos Ortega angeführt. Dabei ist die Geschichte der Haftbefehle alles andere als spektakulär. Im vergangenen Jahr beschloss die Regierung Chávez, die Erdölindustrie umzustrukturieren und den Aufsichtsratschef des Monopolunternehmens PDVSA auszuwechseln. Ein durchaus üblicher Vorgang bei einem Betrieb in Staatseigentum. Doch die Erdöl-Eliten machten mobil. Der Unternehmerverband Fedecamaras und der rechte Gewerkschaftsapparat CTV riefen zum Generalstreik auf. Diese Proteste, die mit Ausnahme der Erdölindustrie eher Aussperrungen als Streiks glichen, weil sie von den Unternehmensleitungen ausgingen, brachten das Land an den Rand des Ruins und führten zu einer extremen Polarisierung der Gesellschaft. Während die Mittel- und Oberschicht endlich Chávez’ letzte Stunde schlagen sah, forderten die Bewohner der Armenviertel »eine harte Hand« gegen die Opposition. Nach dem Ende dieses angeblichen Streiks im Februar wurden dann tatsächlich einige Haftbefehle erlassen und mehreren tausend PDVSA-Angestellten gekündigt. Mit Willkürmaßnahmen hat das wenig zu tun. In so gut wie keinem Land der Erde sind politische Streiks legal. Schon gar nicht, wenn dabei Werksinstallationen dauerhaft und gezielt beschädigt werden. Und dass Vorstandsmitglieder und Angestellte, die sich den Anweisungen der Eigentümer widersetzen, entlassen werden können, ist auch nicht unbedingt eine Erfindung der kommunistischen Subversion.

Auf der Plaza Francia will man das nicht wahrhaben. Man will nicht daran erinnert werden, dass Chávez erst vor zwei Jahren mit großer Mehrheit im Amt bestätigt worden ist und die Verfassung die Möglichkeit eines Abwahlreferendums im August vorsieht. Man will nicht sehen, dass es Hunderttausende von Demonstranten aus den Slums waren, die Chávez nach dem Putschversuch im April 2002 wieder an die Macht brachten. Ja, man will nicht mal akzeptieren, wer in diesem Land wirtschaftlich benachteiligt ist. Als Protestform hat die Opposition ausgerechnet den Cacerolazo gewählt, das Schlagen auf leere Kochtöpfe. Menschen, die oft nicht mal selbst kochen, weil sie Bedienstete dafür haben, imaginieren sich als Hungeropfer.

Entterritorialisierte Staaten

Ich erzähle Ana, einer Bekannten, dass ich ins Viertel 23 de Enero fahre. Sie verzieht das Gesicht. Dabei kündige ich es an, als wäre es eine Expedition und nicht einfach nur eine U-Bahnfahrt. »Das ist zu gefährlich«, sagt sie. »Da verstecken sich die Drogenhändler, die Guerilleros, die Rebellen aus Kolumbien. Lauter bewaffnete Gruppen.« Ich muss daran denken, dass es in meiner Mittelstands-Residencia vor Bewaffneten nur so wimmelt. Doch es hat keinen Sinn, Ana das zu erklären. Sie würde nicht verstehen, dass man auch solche Bewaffneten als Gefahr empfinden kann.

Die Fahrt ins Stadtzentrum ist wie ein Ausflug auf einen anderen Planeten. Die Hautfarbe der Menschen ändert sich, die Kleidung, die Art, sich zu bewegen – Bilder, die man nicht im Fernsehen sieht. Mühsam umkurve ich Verkaufsstände, es riecht nach ranzigem Öl, Autoabgasen und Müll. Kinder betteln, Straßenköter balgen sich um Essensreste, die Parolen an den Wänden lauten nicht mehr »Chávez muss weg«, sondern »die Revolution verteidigen«.

Mir ist, als hätte ich zwischen Altamira und Capitolio, keine zehn Minuten U-Bahnfahrt voneinander entfernt, eine weitere Strecke zurückgelegt als zwischen Europa und Caracas-Chacao. Neal Stephenson hat in dem SF-Roman »Diamond Age« die Vision von entterritorialisierten Staaten entworfen, die aus über den ganzen Erdball verteilten Flecken bestehen. Das angelsächsisch-viktorianische Staatsgebilde etwa verfügt über ein Viertel in Shanghai, weitere in New York, London und Kapstadt. Diese Viertel sind miteinander verbunden, doch zwischen den Distrikten einer einzelnen Stadt gibt es mehr Trennlinien als Verbindungswege. Science Fiction als Abbild der Realität.

Ich bin auf dem Weg in den Präsidentenpalast. In dem gleichen Saal, in dem im April 2002 die nur 24 Stunden amtierende Putsch-Regierung vereidigt wurde, findet ein Vorbereitungstreffen für eine internationale Solidaritätskonferenz statt. Im Palast in Miraflores ist vom viel beschworenen Militarismus der Regierung Chávez nichts zu bemerken. Die Soldaten am Eingang wirken wie eine Gruppe Jugendlicher, die sich zum Kartenspielen getroffen hat. Auch im Konferenzsaal kein anderes Bild: 60 Vertreter aus Stadtteilorganisationen und regierungsnahen Gruppen sowie einige Leute aus der Chávez-Administration haben sich versammelt. Ein Treffen eines europäischen Sozialforums sieht nicht viel anders aus: alt gewordene Sozialisten, Afrovenezolaner mit Dreadlocks, Studentinnen aus den alternativen Medienprojekten. Das weckt Erinnerungen an das sandinistische Nicaragua: An Unprofessionalität, Improvisation, Konflikte. Die Runde streitet darüber, ob die geplante Solidaritätskonferenz, zu der u.a. Ignacio Ramonet, Noam Chomsky, José Bové und Manu Chao erwartet werden, in den Konferenzsälen der Stadt oder in den Schulen der Armenviertel stattfinden soll. Rafael Vargas, von Chávez entlassener Minister und Organisationsleiter der Konferenz, erklärt autoritär, dass man an dem von ihm präsentierten Konzept nichts ändern werde. Die Konferenz werde nicht in den Slums abgehalten, und auch am Programm solle nichts geändert werden. Als ich das Treffen verlasse, spricht mich eine Aktivistin des alternativen Barrio-Fernsehsenders Catia-TV an: »Denk nicht, der ganze Prozess ist wie er. Der Mann ist eine Schande.«

Man tut sich schwer, diese Regierung einzuordnen. Chávez, der 55 Minister in vier Jahren verschlissen hat, übt in seinem TV-Programm »Alo Presidente« eine Form der politischen Kommunikation, die an eine revolutionäre Ausgabe der Harald-Schmidt-Show erinnert, allerdings ohne dessen Selbstironie; zwischen verrückt und großartig. Der von der regierungsnahen Initiative »Mittelklasse – positiv« veranstaltete Informationsabend über das Freihandelsabkommen ALCA findet im »Club der Armee« statt. Doch niemand trägt eine Uniform, und auf der Bühne sind fünf der sechs Referenten Frauen. Sie halten kapitalismuskritische oder gar antiimperialistische Brandreden gegen die Inwertsetzung des menschlichen Lebens. Auf dem Büchertisch am Eingang liegt das Kommunistische Manifest. Eine Band spielt Playback mit heulenden Geigen. Es vergeht keine Viertelstunde ohne Überraschungen.

Im Barrio-Meer

Direkt hinter dem Präsidentenpalast, an der Grenze zum Regierungsviertel, erheben sich Wohnblocks: das Viertel 23 de Enero. Während der Diktatur Marco Pérez Jiménez’ vom wohl berühmtesten venezolanischen Architekten Carlos R. Villanueva erbaut, wurden die Wohnungen nach dem Sturz des Diktators am 23. Januar 1958 einfach besetzt. An die 50 000 Menschen leben heute in den Gebäuden. Zwischen den Blocks, dort, wo früher grüne Hänge waren, haben sich Landbesetzer niedergelassen. So erheben sich die zehnstöckigen Gebäude heute wie Türme aus einem backsteinfarbenen, von Hunderttausenden bewohnten Barrio-Meer.

Hier schlägt das Herz der venezolanischen Linken. Man ist stolz darauf, dass hier seit den fünfziger Jahren alle wichtigen Revolten mitgetragen wurden. In den sechziger und siebziger Jahren leisteten die verschiedensten legalen und illegalen Organisationen im Viertel politische Arbeit. 1989, nach einer spontanen Rebellion der Slumbewohner gegen das neoliberale Sparprogramm, verteidigte sich das Viertel zwei Wochen lang gegen die eindringende Polizei. Und als Chávez 1992, damals noch ein junger unbekannter Offizier, gegen die korrupte Regierung von Carlos Andrés Pérez zu putschen versuchte, kam es ebenfalls zu einem Aufstand. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass hier niemand Chávez vorwirft, eine autoritäre Regierung installieren zu wollen, sondern eher, sein Programm nicht entschlossen genug umzusetzen. »Wir sind nicht so sehr für ihn, wegen dem, was er macht«, sagt Juan Contreras von der Stadtteilorganisation Coordinadora Simón Bolívar, »sondern wegen dem, was er sagt.« Die nicht zu überhörende Kritik am Präsidenten hat die Bewohner des 23 de Enero nicht daran gehindert, ihn gegen die Opposition zu verteidigen. Als Chávez im April und Dezember 2002 kurz vor dem Sturz stand, sind Zehntausende aus dem Viertel zum Präsidentenpalast in Miraflores gezogen. Niemand hier fühlt sich den Demonstranten der Plaza Francia verbunden, die etwa von CNN als »Zivilgesellschaft« bezeichnet werden.

Tor zur Armut. Das Viertel 23 de Enero ist nur die Eingangstür zu den riesigen Armenvierteln von Caracas. Je weiter man die Hänge hinauf steigt, desto provisorischer wird die jeden Tag wachsende Stadt. Ein Stück südlich beginnt La Vega, die heute wohl größte Armutssiedlung. Wie Dörfer erstrecken sich die Barrios auf den Hängen, man hat den Eindruck, weit draußen auf dem Land zu sein. Ich begleite Andrés, einen Bekannten, der schon seit 20 Jahren in der Stadtteilarbeit aktiv ist, bei einem Rundgang. Die Regierung hat ein Gesetz erlassen, das es den Communities ermöglicht, sich zu legalisieren. Überall entstehen jetzt Landkomitees, denn das Gesetz, die bisher weitreichendste Reform der Chávez-Regierung, ermöglicht nur eine kollektive Regularisierung des Landes und fördert damit Selbstorganisationsprozesse. Wir laufen über einen Gipfelkamm, an einer Gaspipeline entlang. Es ist sehr heiß. Seit drei Jahren hat es in Venezuela kaum mehr geregnet. Auf der vom Stadtzentrum abgewandten Hangseite haben Besetzer, angeblich aus Ecuador und Peru, neue Kartonhütten errichtet. Eine selbstmörderische Ansiedlung: Niemand weiß, ob die Hänge dem nächsten Regen standhalten werden. Ich blicke nach Nordosten. Chacao, die propere Stadt, versinkt weit entfernt im Dunst. In den Falten an den Hängen ist es feuchter, man sieht Bananenstauden, ein paar Mangos. Ich frage Andrés, ob sie die Leute in Chacao hassen. Die Demonstranten von der Plaza Francia, die nicht ertragen, dass ihr Herrschaftsanspruch in Frage gestellt wird. Andrés schüttelt den Kopf. »Es ist anders herum: Sie hassen uns, weil sie uns nicht kennen. Aber wir kennen sie gut. Wir gehen jeden Tag zu ihnen zur Arbeit: als Putzfrauen, Wachleute, Straßenverkäufer.« Es stimmt: Die Teilung der Stadt scheint von außen nach innen durchlässiger zu sein als von innen nach außen. Und wie geht es weiter mit dieser zerrissenen Gesellschaft? Andrés zuckt mit den Achseln. Die Entwicklung der vergangenen Monate ist erstaunlich. Die Leute organisieren sich selbst. Das Bewusstsein, selbst Verantwortung übernehmen zu müssen, ist gewachsen. Aber niemand weiß, wann der nächste Umsturzversuch kommt.

Die Fotografin Sabine Bitter und der Schriftsteller Raul Zelik befinden sich zurzeit auf Einladung des Caracas Case Urban Think Tanks und der Kulturstiftung des Bundes als Gäste in Venezuela.