Der Verräter brennt

Im baden-württembergischen Grünmettstetten treffen sich jedes Jahr Jugendliche zu einem Osterbrauch: zum Judasverbrennen. von tobias bezler

»Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, fuhr der Satan in ihn.« (Johannes 13, 27)

Das Dorf Grünmettstetten mit seinen 800 Einwohnern liegt gut 40 Kilometer von Tübingen entfernt. Hier ist am Karfreitag die Kirche voll, vor St. Konrad stehen die Gläubigen bis auf den Parkplatz. Im Gotteshaus wird die Passionsgeschichte in verteilten Rollen gesungen. Judas ist der Verräter, die Juden wollen den Herrgott ans Kreuz nageln und toben: »Weg mit ihm« und »Kreuzige ihn«.

Der Pfarrer gibt sich liberal und bittet für »die Juden, die Regierenden und den Wohlstand der Völker«. Die Ministranten klappern mit Holzrasseln. Anschließend folgt noch die »Betstund« der Dorfjugend mit Meditationsmusik aus dem Kassettenrecorder.

Das ist der erste Teil der katholischen Ostertradition in Grünmettstetten. Der zweite Teil wird ein paar Kilometer außerhalb des Dorfes in den Hügeln des beginnenden Schwarzwaldes gepflegt. An einer Feuerstelle, hinter einer Hecke versteckt, wird Jahr für Jahr von den Grünmettstettener Jugendlichen am frühen Morgen des Karsamstags symbolisch »der Judas« verbrannt.

Ab Mitternacht rücken etwa 50 Jugendliche an, fast alle sind im Alter zwischen zwölf und 18 Jahren, nur wenige sind über 20. Alle sitzen um das Lagerfeuer herum. Viele Gespräche drehen sich um Tanzkurse, Musik oder die Schule. Es gibt Cola, Bier und, die Fastenzeit sei ja vorbei, ziemlich viel Wodka mit Feige. Manche rauchen hier ihre erste Zigarette. Ein paar fangen zu singen an: »Daylight« von den No Angels und »Country Roads«, auch »Blowin’ in the Wind« und »Die Sache Jesu braucht Begeisterung«.

Mit Begeisterung werden erst einmal rote Würste in die Glut gehalten. Später gibt es weich gekochte Leberwurst aus einem Topf im Feuer, und ein Jugendlicher erzählt, dass die Tradition des Judasverbrennens sich nur über zwei Generationen zurückverfolgen lasse oder dass »der Judas« früher auf dem Dorfplatz verbrannt wurde, was wegen der Gefahr des Funkenflugs mittlerweile verboten sei. Und dass die katholischen Kirchgänger nicht mehr wie früher die Osterkerze am Feuer des verbrannten Judas entzündeten.

»Mit Antisemitismus hat das nichts zu tun«, meinen die Jugendlichen, »das ist doch bloß eine Puppe!« Dann gibt es doch noch Diskussionen, allerdings über ein ganz anderes Problem. Gegen vier Uhr kommt Streit darüber auf, ob man denn »den Judas« jetzt nicht endlich verbrennen könne oder ob man wirklich auf das angeblich in der Bibel beschriebene erste Vogelgezwitscher warten müsse, das den Tod Judas’ angekündigt habe. Nach langem Hin und Her wird beschlossen, die Tradition etwas abzuwandeln.

Also fehlt nur noch »das Viech«. Ältere Jugendliche haben zuvor die lebensgroße Puppe, die moderne Klamotten trägt und mit Stroh ausgestopft ist, aus dem Versteck entwendet. Nun wollen sie die Puppe nur im Tausch gegen ein paar Flaschen Bier wieder herausgeben.

Doch für diesen Fall ist vorgesorgt. Es liegt ein zweiter Judas parat, das Geschäft platzt. Die Achtklässler, die alljährlich die Puppen basteln müssen, werden gerügt, haben sie doch vergessen, auch dem »Ersatz-Judas« einen Silbergeldbeutel anzuhängen.

»Achtung«, heißt es dann, »jetzt geht’s los!« Kurz vor fünf Uhr wird ein etwa vier Meter hoher Galgen aufgebaut. Zwei Jungs knüpfen »den Judas« mit einem Seil an den Querbalken und stellen den Galgen so auf, dass die Figur direkt über dem Feuer hängt. Es kommt wieder mehr Leben in die doch etwas müde gewordene Runde. Aus einem Jugendlichen bricht es schließlich heraus: »Brenn, Judas, brenn!« Ein anderer ruft: »Der Wichser hat unseren Jesus verraten.«

Die Austreibung des Teufels und seine symbolische Vernichtung im »Judasverbrennen« erreichen ihren Höhepunkt: Die Strohpuppe am Galgen fängt Feuer, brennt und zerfällt. Bevor es richtig hell wird, werden auch die übrigen Holzvorräte und die mittlerweile wieder aufgetauchte zweite Puppe ins Feuer geworfen. Der Verrat an Jesus ist gesühnt. Bis zum nächsten Jahr.

Auch andernorts werden solche Brauchtümer wie in Grünmettstetten heute noch gepflegt. Antisemitische Inszenierungen haben eine lange Tradition. Sie reicht vom mittelalterlichen Passionsspiel über den nationalsozialistischen Film bis in die Gegenwart.

Alle zehn Jahre etwa kommen hunderttausende Besucher in den bayerischen Ort Oberammergau, um dabei zu sein, wenn ein Teil der dortigen Bevölkerung als Laiendarsteller den Verrat durch Judas und den Leidensweg Christi nachspielt.

Solche Inszenierungen sollen »den Hass auf die Juden spielbar machen«, wie Gerhard Scheit in seinem Buch »Verborgener Staat, lebendiges Geld – Zur Dramaturgie des Antisemitismus« erklärt. Adolf Hitler meinte einst, nie sei die Bedrohung durch die Juden im Römischen Reich so überzeugend dargestellt worden wie in Oberammergau.

Einmal im Jahr kommen auch hunderte Pilger nach Rinn in Tirol, um dem »seligen Anderl von Rinn« zu huldigen, einem »Märtyrer«, der nach der alten Ritualmordlegende im Jahre 1462 von seinem Taufpaten an »durchreisende Juden« verkauft, von diesen ermordet und »ausgesaugt« worden sein soll.

Den Passionsspielen und den Ritualmordlegenden ist der phantasierte Zusammenhang des Geldes, mit dem das Opfer gekauft werde, und des Blutes, das die Juden ihm sodann aussaugten, gemein. Das Nehmen des Geldes, die Erhebung des Zinses wird mit dem unterstellten Mord der Juden an Jesus Christus und an Christen allgemein in Verbindung gebracht.

Als Händler, der den Juden das Blut Christi verkaufte, fungiert Judas. Verdächtig ist er schon deshalb, weil er die Kasse der Jünger verwaltete und »die Einkünfte veruntreute«, wie im Evangelium nach Johannnes zu lesen ist (Johannes 12, 6). Seit dem 14. Jahrhundert ist in der bildenden Kunst der Geldbeutel das Symbol des Verrats durch Judas. Weil »der Teufel in ihn gefahren ist«, müsse dieser durch Vernichtung ausgetrieben werden.

Judas wird stellvertretend für das gesamte Judentum dämonisiert. Johannes lässt Jesus zu den Juden sagen: »Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an.« (Johannes 8, 44)