Die Gegenwart der Vergangenheit

Zum 60. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Von Stefan Eschrich

Am 6. April dieses Jahres wurde auf einer Gedenkveranstaltung der gruppe offene rechnungen und des Berliner Bündnisses gegen IG Farben an den Aufstand im Warschauer Ghetto erinnert. Die Erinnerung an das Ereignis, das sich am 19. April zum 60. Mal jährt, geschah nicht, um dem weit verbreiteten Bedürfnis das Wort zu reden, aktuelle Ereignisse mit der Vernichtung der europäischen Juden zu vergleichen oder sogar gleichzusetzen, sondern um dem Fortbestehen der antisemitischen Bedrohung Rechnung zu tragen.

Ein Beispiel, wie sich inhaltsleere Erinnerung mit deutschen Ansprüchen verbindet, findet sich ausgerechnet beim Gedenken an den 59. Jahrestag des Ghetto-Aufstandes. Berlins Innensenator Ehrhart Körting sprach ganz allgemein, es sei »immer verhängnisvoll, wenn Menschen angesichts von Unrecht und Gewalt geschwiegen haben. Damals wie heute ist es oft der Mut der Verzweiflung, der die Menschen stark macht, der sie dazu bringt, gegen das Verbrecherische vorzugehen.«

Hier wird die Erinnerung generalisiert. Täter, Opfer und antisemitische Motivation werden auf das allgemein Menschliche reduziert. Solcherart von Menschen, Unrecht und Gewalt zu reden, scheint zunächst dem Bedürfnis geschuldet, das Geschehene nicht an sich heranzulassen, es konsequenzlos einem allgemeinen Begriff des Verbrecherischen zu subsumieren.

Den Vernichtungsantisemitismus der Deutschen derart ins allgemein Menschliche zu transformieren hat aber durchaus einen weiteren Sinn, nämlich den, aus der proklamierten Läuterung der Deutschen die Ansprüche ihrer moralischen Weltordnung zu formulieren. »Wir haben in Deutschland aus unserer Vergangenheit gelernt«, sind die Worte, mit denen Körting den Deutschen die Absolution erteilt und wie es mit diesen Worten vor und nach ihm viele andere getan haben und tun.

Nachdem er seine Betroffenheit über die palästinensischen Selbstmordattentate zum Ausdruck brachte, kam der Berliner Innensenator dann auf Vorgänge zu sprechen, von denen er meinte, man dürfe darüber nicht schweigen. »Sind wir Deutschen überhaupt berechtigt, den Menschen in dieser Region Ratschläge zu geben?«, fragt Körting und gibt auch die Antwort. »Ich meine, ja, denn wir haben eine Verpflichtung gegenüber unseren israelischen Freunden. Auch Freunde dürfen nicht schweigen.«

Körting leitet direkt aus der Erinnerung an den Aufstand im Warschauer Ghetto die deutsche Verpflichtung ab, Israel zu kritisieren. So gerät die deutsche Erinnerung zum Trumpf gegen die Juden, die ihre staatliche und damit ihre nach wie vor einzige gesicherte Existenz verteidigen.

Noch etwas weiter ging der Leiter des Deutschen Orientinstitutes in Hamburg, Udo Steinbach, als er im Januar die palästinensischen Selbstmordattentäter mit den Kämpfern im Warschauer Ghetto verglich: »Wenn wir sehen, wie israelische Panzer durch palästinensische Dörfer fahren und sich die verzweifelten Menschen mit Steinen wehren, dann müssen wir im Blick auf Warschau und im Blick auf den Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto auch fragen dürfen, war das dann nicht auch Terror?« Steinbach setzt die Israelis nicht nur in die Rolle der Deutschen, das heißt in Vernichtungsabsicht handelnd, sondern er legitimierten die Morde der Palästinenser auch als gerechten Widerstand.

Die Erinnerung an das deutsche Menschheitsverbrechen erfordert, dass man sich der Möglichkeit einer Wiederholung bewusst ist. Jede Erinnerung, die sich dem verweigert, arbeitet einer Historisierung zu. Indem eine solche Erinnerung die Motivation der Täter, den zur Vernichtung bereiten Antisemitismus, ignoriert, bewirkt sie eine Derealisierung des Geschehenen. Solche Erinnerung – und dies ist der Charakter der so genannten deutschen Erinnerungskultur – verkommt zum Jargon und damit zur ideologischen Spielmarke.

Vor diesem Hintergrund auf der Berliner Gedenkveranstaltung vom 6. April über die Bedeutung des Aufstandes im Warschauer Ghetto zu sprechen, verweist auch auf die Frage nach der Notwendigkeit und der Legitimität bewaffneter Gegenwehr gegen antisemitische Bedrohung. In enger Zusammenarbeit mit dem polnischen Verband der jüdischen Kriegsveteranen und -versehrten sollte zum einen von den Erinnerungen der Überlebenden, zum anderen von der aktuellen Situation die Rede sein.

Wir dokumentieren auszugsweise ein Podiumsgespräch über den April 1943 mit verschiedenen Überlebenden des Holocaust und die Rede von Ludwik Krasucki, dem Vorsitzenden des Verbandes der jüdischen Kriegsveteranen.

Auf dem Podium saßen Jadwiga Gawronska, die im polnischen Widerstand aktiv war, Teresa Wieczorek, die als kleines Kind aus dem Warschauer Ghetto geschmuggelt wurde, Ludwik Hoffmann, der 1943 in einem Zwangsarbeiterlager in Ostgalizien saß, und Jerzy Pikielny, der zu jener Zeit im Ghetto Lodz war. Ingrid Strobl befragte die Überlebenden. Sie publiziert regelmäßig über jüdische Frauen im Widerstand gegen die deutsche Besatzung und gegen die Vernichtung.

Ludwik Krasucki nahm an den Kämpfen der Armia Krajowa (polnische Heimatarmee) teil und überlebte das Konzentrationslager Stutthof. In seiner Rede bezieht er sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart.