Experten des Strafstoßes

Der Deutsche und der Elfmeter – eine harmonische Zweierbeziehung. von rené martens

Der 1. September 2002 war ein großer Tag in der Geschichte des deutschen Fußballs, und zu verdanken haben wir dies Viola Odebrecht, Sarah Günther, Anne-Kathrin Sabel und Linda Bresoni.

Es geschah in Kanada bei der U19-WM der Frauen. Im Spiel um den dritten Platz sorgten diese vier Spielerinnen dafür, dass Deutschland mit 4:3 nach Elfmeterschießen gegen Brasilien gewann. Getilgt war die Schmach, die die über 19jährigen Männner zwei Monate zuvor im WM-Endspiel von Yokohama gegen denselben Gegner erlitten hatten. Doch was war davon in den deutschen Medien zu vernehmen? Fast nix. Dabei passte der Sieg doch perfekt zu einem langlebigen Mythos: Wenn es zum Elfmeterschießen kommt, gewinnt immer die deutsche Mannschaft. Das gilt jedenfalls, seitdem Ulrich Hoeneß 1976 im EM-Finale gegen die CSSR versagt hat – was der Bundesrepublik letztlich den Titel vermasselt hat.

Danach hat das DFB-Team bei Welt- und Europameisterschaften insgesamt viermal zum Elfmeterschießen antreten … man muss fast schon sagen: dürfen. Die Herren mit den Adlertrikots haben sie alle gewonnen und dabei nur ein einziges Mal das Ziel verfehlt. Ein anderer Ulrich war’s, der Stielike, 1982 im WM-Halbfinale gegen Frankreich.

Die Erfolgsgeschichte erstreckt sich im Übrigen über die Nationalelf hinaus auch auf die deutschen Europacup-Teilnehmer. Seit 1970 mussten west- und ostdeutsche Teams bei Europacupspielen 29 Mal ins Elfmeterschießen, wobei sie nur sechsmal als Verlierer den Rasen verließen – zuletzt Eintracht Frankfurt in der Saison 1993/94 gegen Casino Salzburg und fünf Jahre später der FC Schalke 04 gegen Slavia Prag. 23 Mal setzten die Deutschen sich durch.

Kein Wunder, dass sich für ein Fußball-Fanzine, das in den neunziger Jahren einen »british look at German football« versprach, nur ein Name aufdrängte: »Elfmeter«. Nur einmal waren die Briten sehr irritiert, weil in der Premier League der damals für Derby County spielende Deutsche Stefan Schnoor einen Strafstoß verschossen hatte. »Einer der schlechtesten Elfmeter in der Geschichte des Fußballs«, so Schnoor selbst. Aber als es das englische Revolverblatt The Mirror Anfang September 2002 für angemessen hielt, einen Nachruf auf den deutschen Fußball zu verfassen – ganz abwegig war das nicht, denn das DFB-Team war in der WM-Qualifikation gerade mit 1:5 gegen England eingegangen –, da ordneten die edlen Federn vom Boulevard dem Verblichenen im wesentlichen drei Attribute zu: »arrogant«, »klinisch« und »penalty-scoring«.

Wenn es um Elfer während der regulären Spielzeit geht, stellt sich die Sache schon etwas anders dar. Gewiss, 38 Jahre lang hat das DFB-Team keinen Elfmeter verschossen, aber das ist schon lange her. Das war in der Zeit zwischen 1923 und 1961. Aber aus den Länderspielen in den 35 Jahren danach melden die Chronisten gleich 18 Fehlschüsse. Fast vergessen, das!

Obwohl diese Schwäche 1990 beinahe die Teilnahme an der WM gekostet hätte. Pierre Littbarski verschoss nämlich im letzten Qualifkationsspiel gegen Wales, so dass es eines Sonntagsschusses von Thomas Häßler bedurfte, damit Deutschland 2:1 gewann und überhaupt zur WM fahren konnte. Andererseits lässt sich der Fehlschuss im Nachhinein auch als gutes Omen sehen, denn schließlich wurde Deutschland dann ja – möglicherweise weil nicht Littbarski schoss – durch ein Elfmetertor Weltmeister, nachdem es sich im Halbfinale nach Shootout durchgesetzt hatte.

Und wie war das 1996? Kurz vor der Europameisterschaft vergaben Klinsmann und Möller bei einem Testspiel in Nordirland gleich zwei Strafstöße innerhalb einer halben Stunde. Trotzdem schoss Letzterer dann das entscheidende Tor im Elfmeterschießen gegen England, und ein paar Tage später hatte Deutschland dann wieder den Pokal.

Es muss wohl immer um alles gehen, damit der Deutsche seine deutschen Tugenden hervorkramt und mit militärischer, ja roboterhafter Präzision seine Elfer verwandelt. Da passt es ins Bild, dass in Deutschland kreierte Maschinenmenschen die Tradition der Lebewesen fortsetzen. 2000 stand es im Endspiel des Robocups von Melbourne nach der regulären Spielzeit von zweimal zehn Minuten 3:3, doch im Elfmeterschießen gelang den von Mitarbeitern der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität programmierten Robotern auf typisch deutsche Weise der Sieg: 6:4 gegen die beim Shootout ja notorisch schwache Fußballnation Italien.

Wer bösartig ist, könnte aus den Erfolgen der Deutschen beim Elfmeterschießen folgern: Die können ja nur so – und nicht anders. Haut aber nicht ganz hin. Vor den Elfmeterschießen gegen Frankreich und England hatten die von den Herren Derwall, Beckenbauer und Vogts befehligten Teams entweder bravourös einen Rückstand aufgeholt oder gar 120 Minuten glänzend gespielt; lediglich dem Viertelfinal-Sieg gegen Mexiko von 1986 waren schwer ansehnliche Darbietungen vorausgegangen.

Außerdem: Man kann noch viel deutscher spielen als die Deutschen. Was 1990 die Argentinier bewiesen, die in der regulären Spielzeit der Achtel-, Viertel- und Halbfinalpartien bloß zwei Treffer erzielten und sich in den letzten beiden Runden vor dem Endspiel nach Elfmeterschießen durchsetzten. »Argentiniens torarmer Marsch ins Finale provozierte eine Diskussion um den Sinn und Unsinn des Elfmeterschießens«, schreiben die Fußballpublizisten Hubert Dahlkamp und Dietrich Schulze-Marmeling. Aber die versandete dann auch bald wieder, denn auf so wenig elegante Art wie die seinerzeit germanisch anmutenden Südamerikaner mogelte sich hernach keine Mannschaft mehr durch ein internationales Turnier.

Aus: René Martens: Elfmeter. Kleine Geschichte einer Standardsituation. Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2003, 111 S., 11,11 Euro