Holloways Mittelweg

John Holloway versucht die Synthese aus Wertformanalyse und Globalisierungskritik. von felix klopotek

Zu Beginn ein Test: Man nehme den Bestseller der Antiglobalisierungsbewegung, Naomi Kleins »No Logo«. Dann nehme man eine Analyse (»Rekonstruktion«) Marxscher Kategorien aus den siebziger Jahren, als die westdeutsche Rekonstruktionsdebatte sich auf ihrem Höhepunkt befand, zur Hand.

Bücher wie »Aspekte der Marxschen Theorie II. Zur Wertformanalyse« findet man problemlos in den Antiquariaten, sie erschienen damals bei großen Verlagen wie Suhrkamp oder Fischer.

Dann versuche man, in den Büchern abwechselnd zu lesen. Ein paar Seiten »No Logo«, dann ein paar Seiten »Wertformanalyse«.

Das Ergebnis sei verraten: Dies Experiment bringt nichts außer einer disparaten Leseerfahrung. Irgendwie handeln die Bücher von einer Darstellung des Kapitalismus. Das ist aber auch das einzige Gemeinsame. Es fehlt jede Vermittlung, jeder gemeinsame Bezug. Der eine Texte ist konkret, so konkret, dass er nicht viel auf eine genaue, kritische Begriffsbildung gibt. Er ist theoretisch anspruchslos, wenn nicht sogar irreführend. Der andere Text zeigt nur die Entwicklung von Begriffen und ist ein Entwicklungsroman, in denen der Bösewicht »Wert« heißt und wunderliche Formen annimmt – Tauschwert, Geld, Kapital, Staat. Praxis? Fehlanzeige. Anschaulichkeit? Verboten. Emanzipatorische Perspektive? Falsche Fragestellung.

John Holloway wagt es, den goldenen Mittelweg zu gehen. Sein nun auch ins Deutsche übersetzte Buch »Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen« ist so etwas wie die dialektische Synthese aus »No Logo« und »Wertformanalyse«. Damit ist nicht gemeint, dass er die von Klein beschriebenen Scheußlichkeiten philologisch mit den entsprechenden Stellen aus dem »Kapital« stützen will. Sein Ansatz greift auf die basalen Kategorien der Marxschen Kritik zurück, um sie explizit als Kritik wieder zu beleben. Holloway zeigt, dass diese Kategorien gesättigt sind mit dem Wissen um soziale Kämpfe: Sie klären über das ausbeuterische Wesen des Kapitalismus auf und fordern zur Revolution auf. Holloway unternimmt eine praktische Wendung von abstrakt und hermetisch anmutenden Marxschen Begriffen.

Das alles hat mit seiner politischen Biografie zu tun: John Holloway, 1947 in Dublin geboren, studierte in den siebziger Jahren in Frankfurt, einem der Zentren der westdeutschen Wertform-Debatte. In der Folgezeit propagierte er mit englischen Kollegen den »open marxism« – Marxismus nicht als Sozialwissenschaft oder Fortsetzung Hegelscher Philosophie, sondern als Kritik und Reflexionsmedium sozialer Bewegungen. Seit 1993 lehrt er an der Universität im mexikanischen Puebla Politikwissenschaft. Er hat immer wieder für die Zapatistas öffentlich Stellung bezogen. Der Titel seines Buches ist zapatistisch inspiriert.

Seine Kritik geht von drei Grundbegriffen aus: der Schrei; das antagonistische Paar kreative Macht/instrumentelle Macht; die Fetischisierung. Diese Begriffe stehen in enger Verbindung, die Mittel, mit denen er sie verzahnt, sind die Dialektik und die Wertformanalyse. Holloway formuliert es so: »Der Ausgangspunkt dieser Argumentation ist nicht der Drang, die Gesellschaft zu verstehen oder zu erklären, wie sie funktioniert. Unser Ausgangspunkt ist sehr viel zugespitzter: der Schrei, der Antrieb, die Gesellschaft radikal zu verändern. Aus dieser Perspektive fragen wir, wie die Gesellschaft funktioniert. Der Ausgangspunkt führt uns dazu, die Frage des Tuns in den Mittelpunkt unserer Diskussion zu stellen, und dies führt uns wiederum zu dem Antagonismus zwischen Tun und Getanem.« Holloway beginnt bei der spontanen Empörung über den Zustand der Gesellschaft und dem sehnsüchtigen Wunsch nach ihrer Veränderung. Die Empörung rührt von der Fragmentierung unseres Tuns. Und die Sehnsucht von dem Gefühl, dass es möglich ist, diese Fragmentierung aufzuheben. Wenn es so ist, dass jedes Getane ein Tun voraussetzt (das ist, laut Holloway, der Kern der Marxschen Arbeitswerttheorie), dann ist jedes Getane Bestandteil eines endlosen Netzes sozialer Beziehungen. Ein Stuhl ist kein Stuhl, sondern Ausdruck eines sozialen Verhältnisses – hier verwirklicht sich die kreative Macht. Erst wenn Tun und Getan getrennt werden, wird aus dem Stuhl eine Ware, ein Objekt, ein Fetisch. Der Stuhl verliert seine Nicht-Identität. Er wird Ausdruck des Privateigentums: Dieser Stuhl gehört mir (Identifizierung) und nicht dir (Ausschließung). Er hat sich in einen Ausdruck instrumenteller Macht verwandelt.

Hier ist der Punkt, an dem Holloway die Marxschen Formbestimmungen einführt.

Kreative Macht steht der instrumentellen nicht nur starr gegenüber. Holloway bestimmt: Das eine drückt sich in der Form des anderen aus. Tun existiert als (Lohn-) Arbeit, die Nützlichkeit einer Sache als Wert, der gesellschaftliche Fluss sozialer Beziehungen als seine Fragmentierung. »Die Negation kann nicht ohne das, was negiert wird, existieren«, schlussfolgert Holloway. »Das Getane ist vom Tun abhängig.« Instrumentelle Macht ist also als Metamorphose der kreativen Macht zu verstehen. Kapital kann nur als Produkt verwandelten Tuns existieren, dies ist der Schlüssel zu seiner Überwindung. »Wir wollen keine Theorie der Herrschaft, sondern eine Theorie der Verletzbarkeit von Herrschaft, der Krise der Herrschaft, als Ausdruck unserer eigenen (Anti-) Macht.« Deshalb kann ihm auch der Begriff des Kapitals gar nicht politisch genug sein: »Dies ist das Kapital: die Geltendmachung von Herrschaft über andere auf der Grundlage von Besitz des Getanen und damit der Mittel des Tuns als Vorbedingung jener anderen, die befehligt werden.«

Holloway entfaltet nun die Antagonismen, der Kampf der kreativen Macht gegen die instrumentelle (die sie ja selber ist!) setzt sich auf jeder Ebene fort. »Geld ist die tobende Schlacht der Geldwerdung und Antigeldwerdung«, notiert er. Wir können fortsetzen: »Staat ist die tobende Schlacht …«, »Wert ist die tobende Schlacht …« usw. Auf dem Wege dieser Entfaltungen kritisiert er im Vorbeigehen seine von ihm verehrten Vorläufer und Kollegen: Lukacs, Adorno, Foucault und Negri. Sie treiben die Fetischisierungskritik nicht weit genug (Lukacs), sie vernachlässigen die politische Ökonomie und neigen zu Kulturpessimismus (Adorno), sie geben das dialektische Denken auf und erfassen somit den Antagonismus nicht (Negri), sie verzetteln sich in Nominalismus und Positivismus (Foucault).

Leninistische Vorstellungen der Avantgardepartei, die auf Erringung der Staatsmacht hinarbeitet, werden von ihm demontiert.

Bleibt also übrig: Holloway. Tatsächlich, seiner emphatischen Rede, transparent und flüssig übersetzt von Lars Stubbe, nimmt man zunächst alles ab. Seine Bilder sind kraftvoll (der Schrei!), seine Kritik am Intellektualismus vieler Marxisten wohltuend: Es gibt keinen privilegierten Ort der Kritik, Antagonismus, Entfremdung und Fetischisierung lauern überall.

Interessanterweise lenkt genau diese Selbstkritik davon ab, dass seine eigenen Kategorien abstrakt zu werden drohen. Wenn Holloway mal dies, mal das als Beispiel der brutalen Identitätspolitik der Kapital-Werdung heranzieht – mal die Mauer an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze, mal den Holocaust – gerinnt der Inhalt der Kategorien zu reinem Illustrationsmaterial. Bisweilen fällt Holloway hinter sein eigenes dialektisches Denken zurück.

Schließlich produzieren seine Kategorien eine Ambivalenz, wie sie Holloway keinesfalls beabsichtigt. Mit diesem sonst so lesenswerten und brillanten Buch kann man jede soziale Regung als proto-revolutionär und superkreativ verklären. Man kann aber auch jeden Widerstand als reformistisch und fetischistisch in den Wind schlagen.

John Holloway: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2002, 24,80 Euro