Jetzt-Apokalypse

Der Cyberpunker William Gibson veröffentlicht seinen ersten Gegenwartsroman. von vali djordjevic

William Gibson kann das Wort »Cyberpunk« nicht mehr hören. Der kanadische Autor hat 1984, als sich das zunächst als Traum amerikanischer Militärs gestartete Internet langsam zu dem weltweiten Netzwerk entwickelte, das wir heute kennen, den Cyberspace erfunden. Zwar gab es auch damals schon vernetzte Computer, aber das Konzept des virtuellen Raumes hat in Gibsons erstem Science-Fiction-Roman »Neuromancer« seine erste Verkörperung gefunden.

In »Neuromancer« klinken sich die Konsolen-Cowboys in ihre Decks ein, schweben durch eine bunte Datenlandschaft aus Quadern, Pyramiden und Würfeln und durchbrechen virtuelle Mauern von Weltkonzernen, hinter denen infame Weltherrschaftspläne geschmiedet werden. »Neuromancer« gab dem abstrakten Raum im Computer eine vorstellbare Form. Mit »Neuromancer« und den beiden Fortsetzungsbänden »Count Zero« und »Mona Lisa Overdrive« begründete Gibson damals den Cyberpunk als neue Bewegung der Science-Fiction-Literatur. Autoren wie Bruce Sterling, Rudy Rucker, John Shirley, Pat Cadigan und andere erklärten Mitte der Achtziger die bisherige SF-Literatur für veraltet und verbanden in ihren stilistisch sehr unterschiedlichen Romanen Zukunftsspekulationen mit subkulturellem Flair.

Obwohl er mit den nachfolgenden Romanen nicht mehr den ganz großen Erfolg hatte wie mit der »Neuromancer«-Trilogie gehört Gibson seither zu den zuverlässig liefernden Autoren an der Schnittstelle zwischen Pop, SF und Literatur. Dass sein neuester, im Februar in den USA erschienener Roman mit dem Titel »Pattern Recognition« erstmals in der Gegenwart spielt, erregte daher schon einiges Aufsehen.

Darin geht es um Cayce Pollard, die als Coolhunter für Werbeagenturen arbeitet und die neuesten Trends aufspürt, noch bevor sie existieren. Ihre besondere Begabung bringt es mit sich, dass sie allergisch auf Marken reagiert und daher sofort sagen kann, was im Land des Style geht und was nicht. Ein Auftraggeber schickt sie auf die Suche nach den Schöpfern der geheimnisvollen »Footage«, kurzen Videosequenzen, die im Web auftauchen und um die herum sich eine Gefolgschaft von Enthusiasten gebildet hat.

Damit beginnt eine Reise zwischen London, Tokio und Moskau, die Cayce Gelegenheit gibt, durch den von Menschen geschaffenen Zeichendschungel zu navigieren. Cayce bewegt sich unter albanischen Mafiatypen in gefälschten Prada-Klamotten, euro-amerikanischen Werbe-Jetsettern und japanischen Otaku-Jugendlichen. Das Buch spannt dabei stilistisch einen Bogen von Thomas Pynchons Romanen zu James-Bond-Filmen.

Es geht vor allem um Verschwörungen. Ein klassisches Thema. Die bekannte Erklärung, dass die Welt so komplex geworden ist, dass man sie ohne Verschwörungstheorien nicht mehr verstehen kann, stimmt natürlich immer noch. Ob es Verschwörungen allerdings wirklich gibt oder ob sie nur leere Erklärungsversuche sind, die Verbindungen sehen, wo gar keine sind, ist die Frage, die »Pattern Recognition« stellt. Im Buch lässt Gibson am Ende alle Handlungsstränge zusammenlaufen, lässt aber offen, ob die Geschichten auf lauter Zufällen basieren oder ob ein diabolischer Plan dahinter steht.

Cayces Vater, Sicherheitsexperte während des Kalten Krieges, der in den Wirren des 11. September in New York verloren geht, spielt eine wichtige Rolle im Roman, obwohl er nie direkt auftritt. Sein Diktum ist: »Es muss immer Raum für Zufälle geben«, sonst übersieht man die wirkliche Bedrohung. Verschwörungstheorien sind immer zu perfekt, als dass sie wirklich funktionieren würden.

Der zentrale Begriff in »Pattern Recognition« ist Apophänie. Damit bezeichnet die Gestaltpsychologie ein bestimmtes Krankheitsstadium der Schizophrenie, wobei der Erkrankte spontan Verbindungen und Bedeutungen zwischen nicht in Zusammenhang stehenden Phänomenen sieht. Im Rätsel um die »Footage« verdichtet sich die Fragestellung: Ist sie »eine Illusion von Bedeutsamkeit, fehlerhafte Mustererkennung« oder steckt ein unbekanntes Genie dahinter, das es schafft, unzählige Menschen aus allen möglichen Kulturkreisen emotional zu berühren. Der Titel »Pattern Recognition« heißt übersetzt denn auch »Mustererkennung«.

Allerdings erzeugt man die Muster und Verbindungen in dem Augenblick, in dem man sie wahrnimmt, auch wenn sie vorher nicht da waren – eine Art von self-fulfilling prophecy. Dieser Mechanismus wiederholt sich auf verschiedenen Ebenen des Romans. So erinnert der Name der Hauptfigur »Cayce« an den des Helden aus »Neuromancer«, der – lautgleich – »Case« hieß. In einem Interview mit der Online-Zeitschrift Salon.com behauptet Gibson, diese Interpretation sei ein typischer Fall von Apophänie, da würden zwei Phänomene spontan als miteinander in Verbindung stehend wahrgenommen, die gar nichts miteinander zu tun haben. Über die Entscheidung, seine Figur Cayce zu nennen, sagt er: »Ich musste mich entscheiden, ob ich das tue, und ich weiß, dass es keine symbolische Bedeutung für mich hat, aber dass manche Leute annehmen, dass es sie hätte, so dass es diese Verbindung daraufhin auf eine seltsame Weise geben würde.«

In »Pattern Recognition« geht Gibson mit der gleichen Sensibilität an die Gegenwart heran, die schon seine Science Fiction ausgezeichnet hat. Im Interview sagt er: »Ich glaube, ich war an einen Punkt gekommen, wo ich nicht mehr in der Lage gewesen wäre, Geschichten über eine imaginäre Zukunft zu schreiben, weil mein Maßstab für die Sonderbarkeit des Jetzt verloren gegangen war. Es wurde irgendwie langweilig. Ich musste zurückkommen und schauen, was jetzt war, um später vielleicht in der Lage zu sein, wieder hinauszugehen und mir vorzustellen, wie es in der imaginären Zukunft sein könnte, von diesem Jetzt aus gesehen. Es war, als ob ich das Jetzt wiederentdeckt hätte, was – wie sich herausgestellt hat – ein apokalyptischer Prozess war.«

Auch Bruce Sterling, Gibsons Kollege aus alten Cyberpunk-Zeiten, hat sich in seinem neuen Buch von der Science Fiction verabschiedet. Er ist der Zukunft allerdings treu geblieben. »Tomorrow Now« ist der Versuch einer Vorhersage, wie die nächsten fünfzig Jahre ausschauen werden. Sterlings Clou ist dabei, dass die großen Veränderungen ausbleiben werden und sich die Entwicklung im Kleinen abspielen wird, wie zum Beispiel in der Verbindung von Nano- und Gentechnologie. Nun hatte Sterling nie die literarischen Qualitäten von Gibson, ihm ging es immer schon um Ideenliteratur, die Entwicklung zur Non-Fiction ist daher nur konsequent. Die Visionen in »Tomorrow Now« kommen einem allerdings bekannt vor. Das Staunen und Wundern über die unbekannte Zukunft bleibt aus, denn wir leben sie schon. Schon die Gegenwart lässt sich nicht fassen, da ist es schwer, eine Zukunft zu entwerfen. Wie der Werbe-Guru Hubertus Bigend, einer der Fiesen, in »Pattern Recognition« sagt: »Wir haben keine Zukunft, weil unsere Gegenwart zu unbeständig ist. Wir haben nur Risikomanagement. Das Entwerfen von Szenarien jedes gegebenen Augenblicks. Mustererkennung.«

William Gibson: Pattern Recognition. Putnam, New York 2003, 357 S., ca. 26 Euro

Bruce Sterling: Tomorrow now: envisioning the next fifty years. Random House, New York 2003, 224 S., ca. 25 Euro