Saddam wanted

Das irakische Regime ist zusammengebrochen, von Saddam Hussein und seiner Armee fehlt jede Spur. Wurde das Kriegsende ausgehandelt? von martin schwarz

Dass Hassan Ali al-Majid, ein Vetter Saddam Husseins, der wegen des von ihm befehligten Gifgaseinsatzes gegen Kurden in Halabja im Jahre 1988 auch »Chemie-Ali« genannt wurde, bei der Bombardierung seiner Villa in Basra sein Leben ausgehaucht hat, gehörte bis vor wenigen Tagen noch zu den Gewissheiten dieses Krieges. Ganz sicher seien sich jene britischen Spezialeinheiten gewesen, die das Haus nach der Einnahme von Basra untersucht hätten.

Doch mittlerweile sind wieder Zweifel aufgetaucht. »Er ist wie Freddy Krueger«, meinte ein britischer Offizier: »Wir haben ihn schon fünfmal getötet.« Die Zweifel des Briten am tatsächlichen Tod des Generals werden nun auch durch jene Fahndungsliste genährt, die vom US-Kommando an die Truppen verteilt wird: unter den 55 meistgesuchten Vertretern des alten Regimes findet sich auch Chemie-Ali.

Mag Saddam Husseins Regime auch zusammengebrochen sein, so fehlt von den einstigen Staatsführern jede Spur. In Syrien könnten sie sein, sich in Saddam Husseins Heimatregion Tikrit versteckt haben, in Bunkern unter Bagdad ihrer Festnahme harren, sich in sicheren Privathäusern aufhalten oder vielleicht doch tot sein. Wo immer und in welchem Zustand sich Saddam Hussein und seine Getreuen befinden, so gibt ihr Verschwinden aus Bagdad doch einige Rätsel auf.

Immer mehr weist darauf hin, dass der Abzug des Regimes aus Bagdad weniger eine Flucht als ein kalkulierter Rückzug war. Obwohl die US-Bombardements die Kommunikationsstrukturen des Regimes in den Tagen vor dem Fall Bagdads weitgehend unbrauchbar gemacht hatten, wussten offensichtlich sämtliche Mitarbeiter des Regimes schon Tage vor dem endgültigen Einzug der US-Amerikaner, dass es besser war, nicht mehr an den Arbeitsplätzen zu erscheinen. Bereits am Morgen vor der Einnahme der Stadt durch die US-Truppen verabschiedeten sich jene Geheimdienstmitarbeiter von den Journalisten im Hotel Palestine, die seit dem Beginn des Krieges zu deren Überwachung eingesetzt waren. US-Soldaten, die Präsidentenpaläste in Bagdad besetzten, mussten feststellen, dass wertvolles Mobiliar schon ausgeräumt worden war – bevor dann die Plünderer in Bagdad den Rest besorgten.

Auch die Verteidigung Bagdads war alles andere als tapfer. Während die US-Truppen Tage zuvor noch im Sand der irakischen Wüste festsaßen und es um Städte wie Nasirija, al-Najaf, Kerbela oder Basra erbitterte Kämpfe gab, war die Hauptstadt schnell befreit. Panzer wurden nur dort gebraucht, wo es galt, Saddam-Statuen vom Sockel zu reißen. Wo also waren die gefürchteten Republikanischen Garden, deren Widerstand gerade in Bagdad erwartet worden war? Wohin verschwand die angeblich 500 000 Mann starke irakische Armee? Die USA haben nach eigenen Angaben rund 8 500 irakische Soldaten gefangen, weitere 3 000 sollen getötet worden sein. Von Massenkapitulationen ist bislang wenig bekannt, auch lange Trecks marodierender und plündernder irakischer Soldaten auf dem Heimweg vom Schlachtfeld gibt es nicht.

»Ich gehe davon aus, dass wohl eine sechsstellige Anzahl von irakischen Soldaten getötet oder verwundet worden ist«, versucht Steven Baker, ein ehemaliger Admiral der US-Flotte im Persischen Golf, das wundersame Verschwinden der irakischen Armee zu erklären. Auch unter den rund 100 000 an der iranischen Grenze wartenden Flüchtlingen seien wohl viele irakische Soldaten zu finden. Ben Works, ein amerikanischer Militäranalytiker und derzeit für die ARD in Washington tätiger Kriegsexperte, bezweifelt die offiziellen Angaben über die Truppenstärke: »Viele irakische Divisionen, die offiziell eigentlich 10 000 Man haben sollten, hatten von Anfang an nur 5 000 bis 8 000 Mann.«

Mussten die Amerikaner bei ihrem Eintreffen in Bagdad, dem »Herz des Regimes« (Donald Rumsfeld), also bloß Schattenboxen betreiben und sich mit einer Armee anlegen, die gar nicht mehr existierte? Vielleicht. Der Rest lässt sich möglicherweise mit fein kalkulierter Sabotage und mit der Flucht des Diktators aus der Realität erklären. »Saddam Hussein war mit der Wirklichkeit kaum mehr verbunden, wie der russische Vermittler Jewgeni Primakow während eines Besuchs in Bagdad vor dem Krieg vermutete. Wahrscheinlich haben es die irakischen Kommandeure den US-Truppen nicht besonders schwer gemacht, in Bagdad einzudringen. Es war wohl eine Mischung aus Sabotage und Inkompetenz«, so Ben Works. Als nämlich Primakow den irakischen Staatschef von den Verlockungen eines rechtzeitigen Exils zu überzeugen versuchte, klopfte ihm Saddam Hussein angeblich auf die Schulter und verließ den Raum.

In russischen Geheimdienstkreisen wiederum geht man davon aus, dass es sich zumindest in der letzten Phase dieses Feldzugs um einen »ausgehandelten Krieg« gehandelt habe. Um einen blutigen Häuserkampf in Bagdad zu vermeiden, sollen sich die USA auf einen von Russland eingefädelten Deal eingelassen haben: Saddam Hussein würde seine gefürchteten Republikanischen Garden in Bagdad nicht zum Einsatz kommen lassen und sich aus der Hauptstadt zurückziehen, er selbst hingegen würde ins Exil gehen können. Selbst die Sicherheitsberaterin von George W. Bush, Condoleezza Rice, soll in die Verhandlungen eingebunden gewesen sein, als sie in der Vorwoche überraschend Moskau besuchte.

Für die Existenz eines solchen Plans für einen Show-Krieg spricht, dass in Bagdad selbst bloß eingesickerte »Märtyrer« aus arabischen Staaten Widerstand leisteten, während es keinerlei koordinierte Militäraktion zur Abwehr der Invasionstruppen gab. Der iranische Geheimdienst wiederum will wissen, dass die Kommandeure der Republikanischen Garden schon frühzeitig einen Separatfrieden mit den USA ausgehandelt hatten und ihre Einheiten gar nicht zur Verteidigung Bagdads antraten. Dafür dürften sie nun auf eine gewisse Immunität hoffen.

Wiewohl ein solches Szenario militärisch für beide Seiten durchaus sinnvoll erscheint, wäre es politisch ein schmutziges Geschäft, das den USA auch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit in ihrem Bestreben nehmen würde, den Mittleren Osten von den regionalen Despoten zu säubern. Ein Saddam Hussein, der am Swimmingpool in einer gemieteten Villa in Damaskus oder in Russland sitzt und dort als politischer Emeritus wirkt, wäre auch für die befreiten Iraker ein schwerer Schlag. Das Überleben des Symbols der Diktatur wäre nicht nur eine psychologische Niederlage, der Despot könnte sogar versuchen, die zu erwartenden Schwierigkeiten der jungen Demokratie auszunutzen.

Das Versprechen der Bush-Administration, Saddam Hussein tot oder lebendig zu erwischen, erwiese sich dann als ebenso leer wie die vollmundigen Ankündigungen, der Irak werde bald als Hort von Massenvernichtungswaffen entlarvt. Schon jetzt hat US-Außenminister Colin Powell Syrien davor gewarnt, Saddam Hussein und seiner Clique Asyl zu gewähren: »Es wäre sehr unklug, wenn Syrien plötzlich zu einem sicheren Hafen für alle diese Leute würde, die vor Gericht gehören und versuchen, aus Bagdad herauszukommen«, sagte Powell der BBC.

Die USA hätten auch gute innenpolitische Gründe, sich einem Deal doch zu verweigern. George W. Bush kann es sich nicht abermals leisten, einen weiteren Feind laufen zu lassen, während Ussama bin Laden offensichtlich noch immer irgendwo im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan haust.