Fron, Steine, Erben

Die umstrittene Flick-Sammlung kommt nach Berlin. Warum protestiert niemand? Über Mick Flick, den Phänotyp des deutschen Erben. von peter kessen

Ein Flick kann sich manchmal sehr gut erinnern: »In New York, 1976 bis 80 war ich natürlich häufig im legendären ›Studio 54‹, da waren eine Menge interessanter Leute. Ich kannte damals zum Beispiel Andy Warhol gut. Mick Jagger war da, Liza Minelli.« Damals, als Disco im »Studio 54« den Glamour explodieren ließ, da hat der Jet-Set den deutschen Erben wachgeküsst und ihn, so erinnerte er sich jedenfalls in der Berliner Zeitung, in einen »Kosmopoliten« verwandelt. Ein Jahr zuvor, 1975, hatte Friedrich Christian die Spitze des Flick-Konzerns im Streit verlassen, ausbezahlt mit rund 100 Millionen Mark.

Friedrich Christian Flick, der Enkel von Friedrich Flick, der Hitlers wichtigster Rüstungslieferant war und in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilt wurde, verwandelte sich in »Mick«, den geborenen Rentier und Lebemann. Er rauschte in den nächsten Jahrzehnten durch die Yellow Press, war immer auf dem Sprung zwischen Los Angeles und seinem Oxford-Schlösschen, befand sich mal auf einer Motorrad-Tour durch Alaska, weilte dann wieder an seinem Hauptwohnsitz Gstaad in der Schweiz. Eine Jet-Set-Odyssee, angereichert mit Schlagzeilen über zwei spektakulär gescheiterte Ehen mit Gräfinnen aus dem europäischen Hochadel. Mick hat durchgehalten. Noch im Januar 2003 porträtierte Klatschkolumnist Michael Graeter »den edlen Platzhirschen« beim Tête-à-tête mit Liz Hurley im »Club Dracula« in St. Moritz.

Eher nebenbei, nach eigenen Worten »in kleinem Maßstab«, betrieb der promovierte Jurist und gelernte Banker noch »privates Investment«, mal interessierte ihn die texanische Ölindustrie, mal das »Ranching Business«. Jet-Set und Investment – alles scheint nur auf der Auszahlung des Erbteils zu gründen, 1975 und 1985, insgesamt an die 300 Millionen Mark. In Wirtschaftskreisen galten die Flick-Brüder »Mick« und »Muck« eher als unstete Lebemänner, die das Dolce far Niente der Kärrnerarbeit im Konzern vorgezogen hatten. In den beiden »fröhlichen Arbeitslosen« erkannte die Welt gar den Verfall einer Familiendynastie, den Niedergang der Generationen: »Die erste baute auf, die zweite verkauft, die dritte ausgezahlt!«

Mick besetzte fortan das Genre »Lost Generation«, ein Zerstreuungssüchtiger, der die bleiernen Zahlenkolonnen des kapitalistischen Alltags lieber vom ewig strömenden Moët Chandon hinwegspülen ließ. Dabei orientierte er sich weniger an der lässigen Eleganz des Stilisten Gunther Sachs, dem er äußerlich recht ähnlich ist; der Flick-Sprössling inszenierte eher das manifeste Neureichentum kleinbürgerlicher Provenienz, etwa indem er sich zum 33. Geburtstag einen mit Goldstaub veredelten Mercedes kaufte oder heute, mit 56 Jahren, an einem weißen Schreibtisch sitzt, dessen Form der eines Damenslips nachempfunden ist.

Dass er eher als mediokres High-Society-Mitglied galt, kein echter Decadent, nur ein »Mick« im »Bunteland« war, kreisend im Mantra der ewigen Wiederkehr »Going Places, Seeing Faces, Dating Models«, muss auch ihn irgendwann gestört haben. Mitte der neunziger Jahre wuchs der Überdruss, der Erbe beklagte sich über »inhaltslose Gespräche«, die eine gewisse »Leere« und Desorientierung (»Ich hätte mich verlaufen können!«) beförderten.

Rettung nahte in Gestalt des Zürcher Stargaleristen Iwan Wirth, der den vom Partyrummel gelangweilten Erben mit dem Kunstmilieu in Kontakt brachte. Auf das Jahr 1996 datiert der Galerist das Erweckungserlebnis des Industriellenerben. Gerhard Richters »Kleiner Akt« sei zum Auslöser für die Sammelleidenschaft geworden und sei der Grund gewesen, warum Flick den Kunsthändler seinerzeit kontaktierte. »Es war die nackte Frau, die ihn interessiert hat«, erzählte Wirth dem Magazin Bilanz Online. Der Rentier hatte mit der Kunst eine neue Obsession entdeckt, noch dazu eine, die bereits sein Großvater gepflegt hatte, und mit Iwan Wirth war ein ehrgeiziger und aufstrebender Geschäftsfreund und Kunstkenner gefunden, mit dessen Hilfe eine der größten Privatsammlungen der Gegenwartskunst zusammengetragen werden konnte.

Zu seinen Hausgöttern erklärte er Marcel Duchamp, dessen »Fahrradfelge« er erwarb, und Bruce Nauman; umfassende Werkgruppen von Martin Kippenberger, Dieter Roth und Sigmar Polke gehören in die Sammlung, ebenso wie die Elite des amerikanischen Minimalismus und Fotografie aus dem Umfeld des Bauhauses.

Zwar ist der künstlerische Rang der Sammlung unumstritten. Dennoch protestierten in Zürich Künstler, Intellektuelle sowie die jüdische Gemeinde gegen die Pläne von Friedrich Christian Flick, die rund 2 500 Werke im Wert von zirka 300 Millionen Dollar in einem Museum der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So erklärte das Direktorium des Zürcher Schauspielhauses, Christoph Marthaler, Stefanie Carp und Anna Viebrock: »Wir können den Gedanken nicht verdrängen, dass die Exponate dieser Sammlung mit Kriegsverbrechergeld und enteignetem, arisiertem jüdischen Vermögen bezahlt wurden. Die Kunst der Sammlung können wir nicht trennen vom Wissen darüber, dass sich die Familie Flick bis heute weigert, Entschädigungsgelder an ehemalige Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge zu bezahlen. Kunst ›veredelt‹ in diesem Fall nicht.« Mick beantwortete die Vorwürfe, die Sammlung beruhe auf »Blutgeld«, mit der Sentenz: »Ich empfinde Verantwortung, aber keine Schuld.«

Nachdem die Zürcher Pläne gescheitert waren, änderte er seine Strategie. An die Verhandlungen mit der Stadt Berlin ging der Sammler schon ganz anders heran, nämlich sehr viel vorsichtiger, als er noch in Zürich agiert hatte. Er ließ sich zunächst gründlich von einer PR-Agentur beraten, initiierte eine Stiftung gegen Rassismus in Potsdam, traf den deutschen Bundeskanzler und wurde alsbald auch von Bürgermeister Klaus Wowereit angerufen. Im Januar 2003 einigte man sich bereits mit Kulturstaatsministerin Christina Weiss und den Verantwortlichen in der Hauptstadt darüber, dass im Frühjahr 2004 die Flick-Collection in der sanierten Rieck-Halle neben dem Hamburger Bahnhof für zunächst sieben Jahre gezeigt werden kann. Anders als in Zürich blieb der Protest gegen die Entscheidung in der deutschen Hauptstadt aus.

Hier könnte die Familiensaga eigentlich glücklich enden, als Novelle im Geist der Neuen Mitte: Das Bildnis der Venus hilft dem reichen Taugenichts aus millionenschwerem Überdruss, ja verwandelt den Lebemann gar in einen geläuterten Erben, der belastetes Familienkapital erneut verzaubert. Der Privatier dient nun der Zivilgesellschaft – mit einem Museum hochkarätiger Kunst und sozialem Engagement per antirassistischer Stiftung. Die Vergangenheit wäre bewältigt – wenn ein Erbe nur aus einem Erbschaftsvertrag bestünde. Der Familienreichtum erscheint in der Debatte als eine Art verwunschener Schatz, dessen Herkunft wie ein Alp auf der Generation der Nachfahren liegt. »Geschichte« weht wie giftiger Staub aus den Archiven, eine Altlast, die zur moralischen Tat im Heute anspornt, im Geiste eines neuen Deutschland, das die Zwangsarbeiter entschädigt haben will und zudem ein Holocaust-Mahnmal errichtet.

Friedrich Christian Flick blickt auf seine Familiengeschichte wie der Pfarrer auf den Dorffriedhof. Der Erbe erkennt im Großvater den verurteilten Kriegsverbrecher, dessen Schuld zu eigener Verantwortung verpflichtet. Die öffentliche Debatte um seine Sammlung besteht in diesem Sinn aus Urteilen, inwieweit diese Bewältigung gelungen ist. Die Geschichte besteht aus Abspaltungen, die Generationen erscheinen als isolierte Kohorten, die sich fast mechanisch-juristisch zu einer fremden »Vergangenheit« verhalten.

Doch es geht nicht nur um den Schatz der Familie, sondern auch um den Diskurs und die Erzählung, welche die Gabe mitübertragen soll. Aus dieser Perspektive ergibt sich eine neue Flick-Geschichte, sie spielt nicht mehr im Hitlerdeutschland und im 21. Jahrhundert, sondern in den Jahren zwischen 1963 und 1991. Die Millionen des Erbes besiegeln einen neuen Familienpakt, in dem die Enkel die Taten des Patriarchen auf neue Weise fortsetzen. Hier verknüpft sich die Flick-Saga mit einem Namen, der in den aufgeregten Moralgefechten noch keine Rolle gespielt hat: Dynamit Nobel.

Der Großvater Friedrich saß von 1940 bis 1945 im Aufsichtsrat des Unternehmens Dynamit Nobel. Ende der fünfziger Jahre kaufte er die Firma mit rüden Methoden auf. Ab Ende 1962 verhandelte die Firma mit der Jewish Claims Conference um eine Entschädigung – nur für die jüdischen ZwangsarbeiterInnen. 1964 erreichte der von Flick mit den Verhandlungen Beauftragte Fabian von Schlabrendorff eine Einigung: Fünf Millionen Mark, also 5 000 Mark pro Kopf, waren das Ergebnis.

Die Historiker Bernd Klewitz und Dieter Vaupel haben sich mit der Geschichte der Zwangsarbeit bei der Dynamit AG beschäftigt. Der größte Munitionsproduzent Hitlers hatte mit rund 50 Prozent die höchste Quote von ZwangsarbeiterInnen. In mindestens zehn Fabriken der Dynamit AG kamen KZ-Gefangene zum Einsatz. Unter härtesten Arbeitsbedingungen: Die SklavenarbeiterInnen – darunter 1 000 ungarische Jüdinnen aus dem KZ Auschwitz, im Durchschnitt 26 Jahre alt – haben von der Arbeit in den Fabriken in Hessen schwerste Gesundheitsschäden davongetragen. Neben dem Schleppen von 30 Kilo schweren Granaten verursachte der TNT-Staub noch besondere Leiden. Krankheiten an Lunge und Augen, die Haare verfärbten sich rot, die Haut schimmerte gelbgrün. Vielleicht waren die besonders brutalen Bedingungen ein Grund, warum der Unterhändler Fabian von Schlabrendorff, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, der mit dem Widerstand um den 20. Juni in Verbindung gestanden hatte, eine Zahlung für die Überlebenden vereinbaren wollte. Doch der alte Flick blockierte diesen Vertrag bis zu seinem Tod im Jahr 1972. Im Januar 1970 formulierte Eberhard von Brauchitsch »im Namen von Dr. Friedrich Flick« eine »abschließende Entscheidung«: Man vermöge nicht zu erkennen, dass »humanitäre oder moralische Gründe« eine Zahlung rechtfertigen könnten. Eine Entscheidung mit Tradition. 1947 sagte Flick: »Nichts wird uns überzeugen, dass wir Kriegsverbrecher sind.«

Auch in der Zeit, als Friedrich Christian Anfang der siebziger Jahre an der Spitze des Flick-Konzerns saß, blieb die Blockade bestehen. 1985 kaufte die Deutsche Bank für fünf Milliarden Mark das Flick-Imperium. Die Medien berichteten über die Zwangsarbeiter bei Nobel, die Jewish Claims Conference erneuerte ihre Forderung. Wegen des Drucks der Öffentlichkeit sorgte die Bank schließlich dafür, dass die neue Feldmühle Nobel AG die fünf Millionen Mark zahlte. Die Flicks hatten nichts gezahlt. Ganz im Gegenteil – Mick Flick begann ab 1986 mit Aktien zu spekulieren, den Aktien der Feldmühle Nobel AG, dem neuen Konzern, in dem die Dynamit Nobel aufgegangen war. Das brachte ihm bis zum Jahr 1991 laut Munzinger-Archiv einen Gewinn von rund 200 Millionen Mark.

Nach dem Coup kaufte sich Mick 1991 ein 300 Jahre altes Schloss bei Oxford und führte mit seiner zweiten Ehefrau, Gräfin Schönburg-Glauchau, den bis dahin teuersten Scheidungskrieg Großbritanniens um 20 Millionen Mark Unterhalt. 1986 hatten Vertreter der Zwangsarbeiter von Dynamit Nobel die angepeilte Entschädigung als »Almosen« und »Unverschämtheit« bezeichnet. Im Oktober 1990 wurden auf den »Internationalen Tagen der Begegnung« im ehemaligen KZ-Außenlager Münchmühle neue Zahlen bekannt. Die »Entschädigungssumme« für die ZwangsarbeiterInnen war weiter geschrumpft – von den angestrebten 5 000 auf 2 000 Mark. Es hatten sich immer mehr Betroffene gemeldet.

Mick Flick schwieg zu den Vorgängen und begann Mitte der neunziger Jahre, mit den erspekulierten 200 Millionen des Nobel-Aktiendeals eine der größten Kunstsammlungen der Welt aufzubauen. Ein Deal im Geist der Familientradition. Der Großvater erscheint dem Nachgeborenen auch noch im Jahr 2003 im Interview mit der Berliner Zeitung als übermächtige Figur: »Ich habe ihn geliebt und verehrt. Er war ja auch eine erstaunliche Persönlichkeit. Wie er in den Raum kam, im Sessel saß. Und dann dieses holzschnittartige Denken.«

Die Kunst hat in der Flick-Saga immer eine wichtige Rolle gespielt. Im Januar 2003 erzählt der Erbe, seine Kunstleidenschaft habe bereits in den siebziger Jahren mit dem Kauf von alten Meistern begonnen. Mit ebensolchen Werken bekräftigte sein Großvater die profitablen Geschäftsbeziehungen zu Reichsfeldmarschall Hermann Göring. Der alte Flick war dessen größter Mäzen. Einmal erhielt der Kunstsüchtige einen Scheck über 400 000 Reichsmark, dann »Die Flusslandschaft« (1647) von Salomon Rysdael im Wert von 900 000 französischen Francs.

Der Großvater nannte sich gerne »Eisenmann«, nach seiner Hauptleidenschaft, der Stahlindustrie. Die Verurteilung als Kriegsverbrecher scheint dem Alten gleichgültig gewesen zu sein.

Nun hat der kunstsinnige Enkel die Familiengeschichte überraschend umgeschrieben, das ökonomische Kapital verwandelt sich in Kunst, mit einem eigenen Museum, das erstmals den Namen Flick in einen generös-glamourösen Zusammenhang stellt. Statt an Himmler, Göring, Zwangsarbeit und Skandale soll die Öffentlichkeit beim Namen Flick nun an Zivilcourage, Ästhetik und Kultur denken. Eine Halle im Herzen der deutschen Hauptstadt soll dies möglich machen. Das Holocaust-Mahnmal, die Topographie des Terrors, die Schaltstellen des Terrors liegen im Umkreis von drei Kilometern.

Der Flick-Coup basiert auf einer Koalition der Neuen Mitte, die sich mit der Sammlung gleichzeitig selbst ein Denkmal errichtet hat. Hier lebt eine Generation von deutschen Erben, deren Prosperität auch auf der Ökonomie des Natioanalsozialismus gründet. Der Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski hat errechnet, dass den insgesamt 14 bis 15 Millionen ZwangsarbeiterInnen statt der ausgehandelten 10 Milliarden eine Entschädigung von 180 Milliarden Mark zustände. Die Industrialisierung im Faschismus war die Basis des Wirtschaftswunders der fünfziger Jahre. Der Historiker Werner Abelsauser bilanziert in seiner »Wirtschaftsgeschichte der BRD«, dass seit der Mitte der dreißiger Jahre das vorhandene Bruttoanlagevermögen um nicht weniger als 75 Prozent gewachsen ist: »Die Wachstumsstruktur der deutschen Kriegswirtschaft macht somit deutlich, dass gerade jene Industriezweige am meisten von der Aufrüstung profitieren, die nach 1945 auch die Grundlage für den Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft bildeten. An dieser quantitativen und qualitativen Bilanz können weder die Kriegszerstörungen noch die Demontagen der Jahre 1945–48 Entscheidendes ändern.«

Allein im Zeitraum zwischen 1997 und 2002 wurde ungefähr eine Billion Euro vererbt, ein Reichtum, der auch auf der Industrialisierung im Nationalsozialismus und deshalb auf millionenfacher Zwangsarbeit basiert. Auch die glamouröse Freizeitgestaltung und Landnahme dieser Erben in der Hauptstadt wären ohne die Verbrechen des »Dritten Reichs« weniger beeindruckend ausgefallen. Rund 1 700 Flurstücke in den Bezirken Mitte und Prenzlauer Berg befanden sich einstmals in jüdischem Besitz, in der DDR verwandelten sie sich in »Volkseigentum«. Die Freiräume, die die Partyszene und die Gastronomie nach der »Wende« für sich beanspruchten, haben oftmals die Vertreibung und Enteignung der Juden zur Grundlage.

Bei den deutschen Erben deckt sich das Gesetz der Familie nicht mit den Gesetzen des Geschäfts. Seine Logik ist die der Gabe und nicht des Äquivalententausches oder des Kredits. Mit jedem Scheck, der zwischen den Generationen weitergereicht wird, wird also auch ein Familiendiskurs mitübertragen. Das deutsche Erbe ist mit einer Hypothek belastet, von dem die profitierenden Nachkriegsgenerationen nichts wissen wollen.

Die Flick-Collection wird so zum Monument des deutschen Erbens, geschaffen vom Phänotyp des deutschen Glamours, dem Mick aus dem »Club Dracula«.