Offenbarung in Kabul

Nach dem Mordattentat auf deutsche Soldaten wird über die Sicherheit der Truppe und den Sinn des Einsatzes in Afghanistan diskutiert. von alexander wriedt

Soldaten in tadellos sitzenden Paradeuniformen trugen die Särge ihrer vier toten Kameraden über die staubige Straße vor dem Hauptquartier der internationalen Stabilisierungstruppe (Isaf) in Kabul. Andere Soldaten standen Spalier, salutierten, einige weinten. Die Bundeswehrsoldaten stehen unter Schock: Erstmals sind in Kabul deutsche Kriegsgefallene zu beklagen.

Von Beginn an betonten Politiker, dass trotz allen Schutzes ein »Restrisiko« beim Einsatz in Afghanistan bestehe. Doch vom Risiko zu sprechen, ist das eine, seine brutale Verwirklichung zu erleben, das andere. Während der kurzen Trauerfeier in Kabul sprach der niederländische Kommandeur Robert Bertholee aus, was meist bei der Isaf verschwiegen wird: »Ihr Tod lässt uns mit einem Gefühl der Ohnmacht zurück.«

Von dem Ziel, der afghanischen Hauptstadt zu ihrer alten Blüte zu verhelfen, sind die Soldaten weit entfernt. Es fällt ihnen schon schwer, minimale Sicherheitsstandards durchzusetzen. Kaum jemand glaubt noch daran, dass der Isaf-Einsatz Afghanistan Frieden und Demokratie bringen wird. Eineinhalb Jahre nach Beginn der Mission wird plötzlich über die Sicherheit der Soldaten diskutiert.

»Sollte sich die Sicherheitslage erheblich verschärfen, sollten wir die Truppe entweder erheblich verstärken oder abziehen«, forderte Bernhard Gertz, der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, in der vergangenen Woche. Der CSU-Abgeordnete Christian Schmidt verlangt auf einmal eine »schlüssige Begründung« der Friedensmission. Angelika Beer, Wehrexpertin und Vorsitzende der Grünen, stellte vorsorglich klar, dass die Truppe nicht abgezogen werde. Statt mehr Panzer möchte sie den Soldaten Psychologen und Seelsorger schicken. Offenbar gibt es Diskussionsbedarf in ganz entscheidenden Fragen. Was ist das Ziel der Mission, an der unter anderen 2 300 deutsche Soldaten beteiligt sind? Wie lange soll der Einsatz dauern?

Es ist ein offenes Geheimnis: Ebenso wie in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Mazedonien, wo vermutlich nach einem Abzug der internationalen Einheiten der Krieg wieder aufflammen würde, werden die Truppen auf Jahre hinaus in Afghanistan bleiben müssen. 8 480 Soldaten der Bundeswehr sind weltweit im Einsatz, in Djibouti ebenso wie in Georgien oder in Usbekistan. Mehr als 60 000 Soldaten und Zivilangestellte der Bundeswehr sind direkt und indirekt an den Einsätzen beteiligt.

Erst unter der rot-grünen Koalition wurden die Auslandseinsätze stark ausgeweitet. Die Regierung Helmut Kohls steuerte der UN-Friedensmission 1992 in Kambodscha lediglich ein paar Sanitätssoldaten bei. Ein Jahr später schickte sie 1 700 reguläre Soldaten nach Somalia. Schon damals beschworen die Verantwortlichen die »Friedensmissionen«, um »humanitäre Katastrophen« zu verhindern und um »die Menschenrechte« zu verteidigen. Und stets hieß es: Alles geschieht unter dem Dach der Vereinten Nationen.

Viele Kriegsgegner und selbst Pazifisten, denen mittlerweile dämmerte, dass mit dem Konzept des gewaltlosen Widerstandes mordende Warlords ebenso wenig zu beeindrucken sind wie Diktatoren oder übergeschnappte Generäle, neigten eher zur Befürwortung von Bundeswehreinsätzen, wenn die Soldaten mit blau-weiß angemalten Panzern durch die Einsatzgebiete fuhren.

Ende der neunziger Jahre, als die Beteiligung der Bundeswehr am Kosovo-Krieg ohne UN-Mandat beschlossen wurde, weil sich abzeichnete, dass im Weltsicherheitsrat keine Mehrheit für ein militärisches Eingreifen zu bekommen war, ließ sich auch diese Hürde überwinden. Es gelte, ein neues Auschwitz zu verhindern, erklärte der neu gewählte Außenminister Joschka Fischer den aufgebrachten Linken in der rot-grünen Koalition. Der Einsatz dieses moralischen Arguments verhinderte eine offene Diskussion über einen grundlegenden Politikwechsel im Nachkriegsdeutschland: die Remilitarisierung der deutschen Außenpolitik.

Heute regt sich kaum Widerspruch, wenn gefragt wird: Welche Region der Erde ist als nächste dran? Der Nahe Osten versinkt in Gewalt. Während im Abstand weniger Tage Selbstmordattentäter Israel mit Terror überziehen, feuern israelische Armeehubschrauber ihre Raketen selbst in voll belebte Einkaufsstraßen, um mutmaßliche Terroristen zu töten. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, erwägt jetzt den Einsatz einer Friedenstruppe. Aber was hat die Bundeswehr im Nahen Osten überhaupt zu suchen?

Nicht besser sieht es in Afrika aus. Es gibt auf dem Kontinent kaum ein Land, das seit der Erlangung seiner Unabhängigkeit in den fünfziger und sechziger Jahren nicht einen Krieg oder Bürgerkrieg erlebte. Trotzdem wurde Afrika Mitte der neunziger Jahre von der politischen Agenda gestrichen, nachdem die Uno in Somalia ebenso gescheitertet war wie die heroischen US-Eliteeinheiten, die 1993 in Mogadischu in einen Hinterhalt gerieten.

Nun steht der Kongo auf dem Plan. Der französische Präsident Jacques Chirac hat bereits mehrere hundert Soldaten in das Land entsandt. Struck schickt mit großen Bedenken 350 Soldaten. Doch die Bedenken richten sich nicht gegen die Legitimität des Einsatzes. »Unsere Kapazitäten sind ausgeschöpft«, heißt es aus dem Verteidigungsministerium. Angenommen, zehntausend Soldaten stünden bereit. Würde Struck sie dann in den Kongo schicken?

Merkwürdig ist zudem, dass die Europäer, ausgestattet mit einem UN-Mandat, ausgerechnet jetzt und so überstürzt in den Kongo einrücken. Der Bürgerkrieg wütet dort bereits seit 1997. Mehr als 500 000 Menschen ließen dabei ihr Leben, etwa zwei Millionen starben an kriegsbedingten Hungersnöten und Krankheiten.

Der Krieg weitete sich schnell zum »afrikanischen Weltkrieg« aus, da die Truppen aus den rivalisierenden Nachbarstaaten Ruanda und Uganda ebenso in das rohstoffreiche Land einfielen wie Kämpfer aus Zimbabwe, Namibia, Angola, Tschad und dem Sudan. »Afrika rüstet zum großen Krieg«, warnte etwa Michael Birnbaum, der Afrika-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, schon im Dezember 1998.

Auffallend ist, wie leichtfertig Politiker der rot-grünen Koalition Soldaten in den Krieg schicken, wenn sich nur das Argument einer »humanitären Katastrophe« bemühen lässt. Während der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Friedbert Pflüger, zu bedenken gibt, Deutschland könne nicht in allen Krisenregionen an vorderster Front dabei sein, plagen Kerstin Müller, die grüne Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, solche Skrupel nicht. »Wir tragen Verantwortung für die Durchsetzung der Menschenrechte dort.« Sie selbst hat ihren Beitrag während einer Kongo-Reise bereits geleistet. »Ich habe hier auch alle ermutigt, jetzt ganz schnell und zügig die Vereinbarung von Pretoria umzusetzen«, sagt sie stolz, als ginge es um eine neue Abwasserverordnung.

Die Legitimität von Auslandseinsätzen wurde nie geklärt, denn eine solche Diskussion hätte deutlich gemacht, dass der Einsatz von Militär oder seine Verweigerung immer auch nationale Interessen berührt. Man konnte es am Beispiel des Irakkriegs sehen. Die Entscheidung gegen eine Kriegsbeteiligung hatte schwere Folgen für das deutsch-amerikanische Verhältnis.

Statt zuzugeben, dass der Entsendung der Bundeswehr immer auch solche Interessen zugrunde liegen, versteckte man sich hinter UN-Mandaten und den Menschenrechten im Allgemeinen. Doch nicht die Taktiererei des grünen Außenministers entscheidet über den politischen Einfluss bei den Verbündeten, sondern die Einsatzbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Armee.