Ein Muster ohne Wert

Damit der Sozialstaat noch schneller umgebaut werden kann, soll auch die Verfassung geändert werden. Die Zeiten der deutschen Musterdemokratie scheinen vorbei. von alexander wriedt

Nun ist das Grundgesetz dran. »Wir haben hier einen großen Reformbedarf«, sagt Bundespräsident Johannes Rau (SPD). Der ehemalige Vorsitzende des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, fordert einen Verfassungskonvent zum »political reengeneering«. Denn: »Wir blockieren uns dauernd.« Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Franz Müntefering, ist der Meinung, das Grundgesetz habe »Verklemmungen und Verkrustungen«, die von einer Kommission, die er im Herbst einsetzen will, aufgebrochen werden sollen.

Eine klare Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern und keine Instrumente der Blockade mehr: Alle 16 Ministerpräsidenten haben sich in einer Umfrage dafür ausgesprochen. Denn wie sollten sich sonst die viel beschworenen Reformstaus, Blockaden und Stillstände auflösen lassen? Es müsse darum gehen, »die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Bundes und der Länder zu erweitern«, erklärte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD). Unterstützung erhalten die Reformeifrigen vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, der die »Reform an Haupt und Gliedern« fordert. Seine Diagnose lautet: »Die Bundesrepublik Deutschland ist in der Krise.«

Haben die Politiker nicht alles versucht, um die Deutschland AG wieder flott zu machen? Arbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) reformiert die Bundesanstalt für Arbeit, indem er 12 000 neue Mitarbeiter einstellt und nun auf ein Vermittlungswunder hofft. (Siehe Seite 9) Die ewig gut gelaunte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) tritt der Lobby im Gesundheitswesen furchtlos entgegen. Das Ergebnis ist, dass die Menschen die Zahnbehandlung zusätzlich versichern müssen. Und die Politiker der Union tun alles, um den »Reformstau« zu beseitigen: Sie lehnen fast alle Gesprächsangebote ab. Mit der Regierung zusammenzuarbeiten, mag vielleicht sinnvoll sein. Doch Blockieren ist einfacher und macht auch mehr Spaß.

Noch vor wenigen Jahren hätte es niemand gewagt, das Grundgesetz derart offen infrage zu stellen, wie es momentan geschieht. Mit dem Verfassungspatriotismus, einem Begriff, den der Politologe Dolf Sternberger geprägt hatte, kämpfte etwa der Philosoph Jürgen Habermas im Historikerstreit in den achtziger Jahren noch leidlich erfolgreich gegen die Nationalisten. Stolz auf Deutschland mochte nach dem Krieg kaum jemand sein, zumindest nicht öffentlich.

Eine moderne, demokratische Verfassung jedoch bot einen Halt, auf den sich alle beziehen konnten. Mit dem Stolz eines Musterschülers feierten die Deutschen das Regelwerk als das beste der Welt. Wer daran rührte, setzte sich dem Verdacht aus, den demokratischen Grundkonsens infrage zu stellen. Die Notstandsgesetzgebung oder die Änderung des Grundrechts auf Asyl sorgten auch deshalb noch für Proteste.

Die Gliederung des Bundes in Länder, die letztendlich für die »Blockade« verantwortlich gemacht wird, gehört neben der Unantastbarkeit der Menschenwürde und der rechtsstaatlichen Demokratie zu den Grundprinzipien des Grundgesetzes. Weder der Bundestag noch der Bundesrat können daran etwas ändern. Die Bundesregierung mag sich über einen störrischen Bundesrat beklagen oder über Landtagswahlen, bei denen vor allem die Bundespolitik entscheidet, aber sie muss mit dieser Zumutung leben.

Staatsrechtler legten immer wieder dar, dass der Bundesrat als »vertikale Gewaltenteilung« ein wichtiger Schutz für die Freiheit des einzelnen ist. Nebenbei ist die Verwaltung der Republik durch Landesverwaltungen effektiver, als wenn gigantische Bundesbehörden die Arbeit übernähmen.

Der Vorteil eines Bundesstaates gegenüber dem Zentralstaat ist auch politischer Natur. Wegen der vielfältigen Beteiligung, etwa durch das Zusammenspiel von Bundesrat und Bundestag, werden viel leichter allgemeinverbindliche Entscheidungen getroffen. Die Möglichkeit, Entscheidungen in diesem Prozess zu blockieren, ist schlicht und einfach Teil der Demokratie.

Wenn die Wähler die vom damaligen saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine im Bundesrat ein Jahr vor der Wahl 1998 blockierten Reformgesetze zur Gesundheits- und Steuerpolitik befürwortet hätten, hätten sie erneut Helmut Kohl im Amt bestätigen können. Spätestens wenn dann die ersten SPD-geführten Landesregierungen abgewählt worden wären, wäre die Blockade durchbrochen worden. Doch offenbar wollten die Menschen die Kohlschen Reformen nicht. Und vielleicht wollen sie jetzt die Schröderschen Reformen ebenso wenig.

Heute ist die Situation kaum anders als 1998, nur unter umgekehrten politischen Vorzeichen. Trotz einer Blockade der Union im Bundesrat würden mindestens 45 Prozent der Wähler die CDU wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Es ist eine Erfindung der Medien, dass die Politiker sich vom Bürger entfernt hätten und abgekoppelt von »den Menschen im Land« ihre politischen Spielchen spielen würden.

Ein Exempel dafür, wie der Wille der Bürger in die so genannte Blockade einfließt, ist der Streit um die Versandapotheken. Nach den Plänen der Bundesregierung sollten auch ausländische Apotheken in Deutschland Medikamente anbieten dürfen, um den Wettbewerb zu beleben. Die deutschen Pharmakonzerne und Apothekerverbände fürchten allerdings um ihre Profite, die hierzulande besonders üppig ausfallen. So können Medikamente durchaus dreimal so teuer sein wie in anderen Staaten der EU.

Die Apotheker sammelten innerhalb weniger Monate mehr als sieben Millionen Unterschriften bei ihren Kunden. Offenbar wollen viele das Risiko, dass auch nur eine ihrer vier Apotheken aus der Nachbarschaft dem Wettbewerb zum Opfer fällt, nicht eingehen. Die Union machte sich daraufhin diese Position zu Eigen.

Die Gesundheitsministerin reagiert darauf nicht deswegen hilflos, weil ihr die Verfassung die Hände bindet, sondern weil sie die Wahrheit einfach nicht aussprechen wollte: Ein kostensenkender Umbau des Sozialstaates erfordert, ihn zumindest teilweise abzubauen und sei es nur, dass die Bürger auf ein paar ihrer Apotheken verzichten müssen. Es ist aus Sicht der Bundesregierung verständlich, dass sie solche Reformen lieber ohne Mitwirkung des Bundesrates durchsetzen würde. Aber ein demokratisches System steht immer dem Bestreben der Exekutive entgegen, ihre Vorstellungen sofort und ohne Kompromisse durchzusetzen.

Betrachtet man die gegenwärtigen Aufrufe, die »verstaubte Verfassung«, wie der Spiegel sie nennt, zu ändern, liegt der Verdacht nahe, dass man sich eines Überbleibsels der Nachkriegszeit und der Jahre der Blockkonfrontation entledigen will. Die Angst vor der »roten Gefahr« und der Kalte Krieg sorgten dafür, dass in Westdeutschland ein liberaler Staat errichtet wurde, der seine Bürger mit einem funktionierenden sozialen System zufrieden stellte. Das Wegfallen dieses Zwangs macht grundlegende Veränderungen einfacher.

Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm, der sich anfangs auch zu jenen zählte, die an das Grundgesetz ran wollten, distanziert sich mittlerweile von diesem Vorhaben. »Im Großen und Ganzen blockiert das Grundgesetz keine notwendigen Reformen«, erklärt er. »Was jahrelang allgemein anerkannt war, ist nicht plötzlich falsch: dass es sich um eine besonders geglückte Verfassung handelt.«

Vielleicht wird sich am Ende, wenn der Reformeifer ein wenig abgeebbt ist und die großen »Erneuerungsprojekte« abgeschlossen sind, doch die Erkenntnis durchsetzen, dass sich der Bund und die Länder, die Regierung und die Opposition weiterhin einigen müssen. Dass es darum geht, Kompromisse zu schließen. Also um einen völlig normalen Vorgang in der Demokratie.