Der Pakt der Patrioten

Der Bruch des europäischen Stabilitätspaktes ist für die SPD inzwischen eine patriotische Pflicht. Denn Hans Eichel schafft es, bei den Armen zu sparen und trotzdem Schulden zu machen. von alexander wriedt

Niemand kann sich daran erinnern, dass der Mann jemals laut geworden wäre. Er spricht leise, ist stets freundlich und strahlt eine innere Ruhe aus, die seinen lauten und mächtigen Gegnern abgeht. Klaus Regling, der EU-Generaldirektor für Wirtschaft und Finanzen, ist der Mann, der in Brüssel maßgeblich das Defizitverfahren gegen Deutschland vorangetrieben hat. Das wird ihm Finanzminister Hans Eichel (SPD) nicht verzeihen.

»Wir lassen uns den Aufschwung nicht kaputtsparen«, rief ausgerechnet Eichel in die Fernsehkameras, kurz bevor die Sitzung der EU-Finanzminister in Brüssel stattfand, in der entschieden werden sollte, ob die EU-Kommission Deutschland zu weiteren Sparmaßnahmen verpflichten dürfe. Mindestens sechs Milliarden Euro sollte Deutschland nach Reglings Vorstellung einsparen, um das Haushaltsdefizit unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu drücken, die der Stabilitätspakt vorsieht. »Dieser Waigel-Mann hat doch ein Interesse daran, die rot-grüne Bundesregierung schlecht aussehen zu lassen«, hieß es aus Eichels Ministerium.

Der »Waigel-Mann« wurde allerdings von Bundeskanzler Gerhard Schröder selbst in Brüssel durchgesetzt. Ungünstig ist jetzt nur, dass der Eurokrat sich nicht für die Interessen Deutschlands einspannen lässt. Die Strafe folgte prompt. Die Sozialdemokraten schickten ihre linken Genossen vor, die für Regling einen ihrer schlimmsten Vorwürfe bereithielten: Er sei ein Jünger des »Neoliberalismus«.

Doch mit der Angst vor einer »entsolidarisierten« Gesellschaft ließ sich dieser Tage keine Stimmung machen. Denn die Beteiligten hatten bereits die wenig anschauliche Welt der Volkswirtschaft verlassen und ordneten ihr Gezänk um Defizitgrenzen und Einsparungen in größere Zusammenhänge ein. Auf einmal ging es um nichts weniger als die nationale Identität der Deutschen, ihre Symbole und die Pflichten aufrechter Patrioten.

»Dies ist ein nachträglicher Verrat an der D-Mark«, hieß es in einer Erklärung der Unionsfraktion im Bundestag. Die Regierung habe sich »am Erbe der D-Mark versündigt«, erklärte die CDU-Vorsitzende Angela Merkel und sprach von einer »Tragödie für dieses Land«. Denn nach wie vor ist die Mehrheit der Deutschen davon überzeugt, dass die Aufgabe ihrer D-Mark, des Symbols ihres Fleißes, ihrer Arbeitsdisziplin und ihrer wirtschaftlichen Macht, das die totale Niederlage im Zweiten Weltkrieg vergessen half, ein Fehler gewesen sei.

Um den Zorn des bürgerlichen Lagers zu dämpfen, wies der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) seinen Finanzminister Theo Waigel (CSU) an, bei den Verhandlungen über die gemeinsame europäische Währung in Brüssel in den frühen neunziger Jahren als finanzpolitischer Musterschüler aufzutreten. Der Garant dafür, dass die neue Währung so stabil sein werde wie die westdeutsche Mark, sollte ein ehrgeiziger Stabilitätspakt sein. Und Waigel handelte. Schon bei einem Defizit von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollte ein Defizitverfahren durchgeführt werden, forderte er damals. Die Höhe der möglichen Strafe solle nicht, wie vorgeschlagen, auf 0,5 Prozent beschränkt werden, sondern in unbegrenzter Höhe möglich sein.

Im Herbst 1995 erklärte Waigel sogar, dass das hoch verschuldete Italien bei der gemeinsamen Währung nicht dabei sein werde. Die internationalen Finanzmärkte reagierten damals sofort mit einer Abwertung der Lira. Die Botschaft, die die Regierung Kohls vermitteln wollte, lautete: Der Euro ist nur ein anderer Name für die alte Mark, die nun europaweite Geltung hat. Sollte es etwa ein Zufall sein, dass die Europäische Zentralbank in Frankfurt sitzt, nur wenige Kilometer von der Bundesbank entfernt? »Es ist eine Schande, dass Deutschland als ehemaliger Verfechter des Stabilitätspaktes jetzt zum größten Sünder wird«, schimpfte Waigel in der vorigen Woche.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) jedoch griff das nationale Pathos dankbar auf, um die bürgerliche Opposition in die Pflicht zu nehmen. »Patrioten werden Sie durch Handeln«, rief er der Union während der Haushaltsdebatte im Bundestag zu. Wer der EU-Kommission empfehle, gegen Deutschland zu klagen, »wird der Aufgabe, in seinem Land Politik zu machen, nicht gerecht«, pflichtete der SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering seinem Vorsitzenden bei. Eichel sagte, er kämpfe dafür, »dass nicht die Haushaltssouveränität nach Brüssel abgegeben« wird.

Der Appell an die Vaterlandsliebe der Konservativen war der verzweifelte Versuch, vom eigenen Versagen abzulenken. Denn trotz der Ankündigung, an allen Ecken und Enden zu sparen, sieht der Haushalt des Jahres 2004 eine Nettokreditaufnahme von 29,3 Milliarden Euro vor. Geht das Sparen schon zu weit? Hat Eichel etwa selbst den Aufschwung »kaputtgespart«? Nein, heißt es aus dem Bundesfinanzministerium. Das Sparen habe gerade erst begonnen. Das Kalkül, das die Bundesregierung, allen voran Eichel und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD), verfolgt, ist einfach: Die Zugeständnisse an die so genannten Parteilinken der SPD, etwa im Bereich der Arbeitsmarktpolitik und im Gesundheitswesen, werden im Bundesrat durch den Druck der Union wieder zurückgenommen.

Vor allem die Reformen auf dem Arbeitsmarkt sollen demnächst Milliarden in die Kassen bringen. Die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II soll ohne Ausnahme, etwa für ältere Arbeitslose, auf dem niedrigeren Niveau der Sozialhilfe erfolgen. Die Zumutbarkeit einer Beschäftigung soll weiter verschärft werden, um die Zahl der Empfänger des Arbeitslosengeldes zu reduzieren.

Clement würde am liebsten die Arbeitslosen verpflichten, auch »Billigjobs« anzunehmen, also solche Beschäftigungen, die untertariflich bezahlt werden. »Für Empfänger von Arbeitslosengeld II soll künftig grundsätzlich jede angebotene Arbeit zumutbar sein«, heißt es auch in einem Papier der bayrischen Staatskanzlei. Die Finanznot des Bundes gibt solchen Plänen Auftrieb. Schon jetzt zeichnet sich ein Kompromiss ab: Die CDU verzichtet auf die Forderung nach der Abschaffung des Flächentarifvertrages, dafür stimmt die SPD weit reichenden Arbeitsmarktreformen zu.

Auch die Rentner werden weitere Verluste hinnehmen müssen. Nächstes Jahr werden sie erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik weniger Geld bekommen als im Jahr zuvor, und es wird nicht das einzige Mal bleiben. In der Gesundheitspolitik ist noch keine Linie erkennbar, zu sehr sind die CSU und die CDU zerstritten. Doch es steht außer Zweifel, dass es zu harten Einschnitten, etwa zur Auslagerung der Zahnmedizin aus dem herkömmlichen Versicherungssystem, kommen wird.

Während viele Sozialdemokraten gegenwärtig nicht wissen, ob sie ihrem Wirtschaftsminister glauben sollen, der meint, gerecht sei, was Arbeit schaffe, oder ihrer Ikone der sozialen Gerechtigkeit, Oskar Lafontaine, der mit einer »aktiven Finanzpolitik« die Wirtschaft ankurbeln will, richten sich Eichels Hoffnungen vor allem auf die Weltkonjunktur. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) prognostiziert für Deutschland deutliche Wachstumsschübe, allerdings erst im Jahr 2005. Der Weltmarkt soll sich patriotisch zeigen und Deutschland retten.