Die behinderte Kommunikation

Taubstumme Kinder leben in einer Welt für sich. silke kettelhake hat einen Tag mit ihnen verbracht

Die 16jährige Josi hält ihre rot lackierten Fingernägel ins Sonnenlicht. Josi liebt Rot. Alles sollte rot sein. Aber Josi hat nur noch einen kleinen Rest von ihrem Augenlicht. Wütend zerrt Josi an ihrem roten Lieblingspullover.

Für die Ärzte war Josi eine »lebende Totgeburt«. Sauerstoffmangel. Josi ist seit der Geburt taub und geistig behindert. In den Ferien und am Wochenende fährt sie manchmal nach Hause. Zusammen mit der kleinen Eva, der Zwölfjährigen, die glatt als Vierjährige durchgehen könnte, mit Krischi und Max, den beiden vom Hals ab gelähmten »Rollis«, und dem blinden, taubstummen Toni lebt Josi in der Gruppe 1 im Oberlinhaus, einem weitläufigen ehemaligen Diakonissenheim in Potsdam bei Berlin.

Josi kam in der 23. Schwangerschaftswoche zur Welt, sie wog 720 Gramm und war nur 32 Zentimeter groß. Bei der Geburt war es zu schweren Komplikationen gekommen.

1998 kam sie in die Schule im Oberlinhaus, seit 1999 wohnt sie dort auch im Heim.

»Unsere Kinder haben wenigstens kein Verlustbewusstsein«, sagt die Pflegerin Maxie, und die anderen guten Geister, die im Schichtdienst für die Rundumbetreuung der Kinder sorgen, stimmen zu. Die Kinder der Gruppe 1 sind von Geburt an behindert. »Viel schlimmer ist es doch bei Nicole!« seufzt Maxie. Eine Etage über der Gruppe 1 sitzt Nicole im Rollstuhl und verliert allmählich das Augenlicht. Manchmal erinnert sie sich noch an das, was war; will auch eine Zigarette, wenn sie jemanden rauchen sieht, und dann kommt die Wut. Nicole war vierzehn, als sie mit ihrem Freund Drogen einschmiss und Autos knackte. Bis zum Unfall. Jetzt lernt sie die Blindensprache, und die Pflegerinnen und Pfleger des Oberlinhauses begleiten Nicole behutsam auf ihrem Weg ins Dunkel.

»So unterschiedlich wie die Behinderungen sind, so unterschiedlich sind auch unsere Kinder«, nickt die Heimleiterin Kathrin Biesecke. »Wir haben hier ganz verschiedene Menschen: Kinder, Jugendliche, Erwachsene – und die sind nicht alle blind und sie sind auch nicht alle gehörlos. Zum Beispiel die Zwillinge: Ein Kind sieht auf dem linken Auge, das andere hat eine Behinderung auf dem rechten Ohr, andere sind völlig gehörlos, es gibt alle Varianten. Bei manchen kann man mit Hörgeräten und Brillen noch ausgleichen. Manche verstehen die verbale Sprache, reagieren aber nicht. Dann gibt es Kinder, die gar keine Sprache verstehen, und dann gibt es Kinder, die Gebärden verstehen. Das Verstehen ist das eine, aber selber aktiv Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken, das steht auf einem ganz anderen Blatt.«

Meningitis, Geschlechtskrankheiten und andere verdeckte Infektionskrankheiten waren in den vergangenen Jahrhunderten die Hauptursache der Taubblindheit.

Heute führen meist Embryopathien, Röteln-Infektionen der Mutter während der Schwangerschaft, Frühgeburten, die mit Sauerstoff unter- bzw. überversorgt wurden oder Komplikationen während der Geburt zu Schädigungen nicht nur an den Sinnesorganen, sondern auch am Gehirn.

Essen, Schlafen und Wecken stehen auf dem Stundenplan

Die Heimleiterin Kathrin Biesecke: »Im Heim werden die Grundbedürfnisse nach Essen, Schlaf und Wärme, nach Zuwendung immer erfüllt, ohne dass die Kinder sie jemals fordern müssen. Vermutlich hat jeder Bedürfnisse, aber manche hier bei uns äußern gar nichts von sich aus. Viele der Kinder sind in Heimen groß geworden; vielleicht entwickelt man in Heimen nicht so ausgeprägte individuelle Bedürfnisse wie beispielsweise ein gesundes Einzelkind. Der feste Stundenplan, die Weck- und Essenszeiten mit ihren wiederkehrenden Rhythmen, wirkt einerseits stabilisierend auf die Kinder, andererseits wird die Motivation, eigene Bedürfnisse zu haben, nicht unbedingt geweckt. Ein Kind zuhause kann immer selber entscheiden, ich will jetzt essen, ich hab’ Appetit, im Heim gibt es das nicht. Und die Kinder bleiben im Heim, denn: Wer adoptiert ein Kind, das schwerst behindert ist?«

Die Kinder der Gruppe leben in ihren Körpern wie in einem Gefängnis. Ob sie sich dessen bewusst sind? »Aus Mäxchen wird Max, und er ist schon traurig, das merkt man«, sagt die Pflegerin Steffi. »Früher, da war er wirklich süß und handlich und man konnte ihn einfach überallhin mitnehmen, oder er saß beim Staubsaugen dem Papa auf der Schulter.« Mäxchen kann hören und versteht die Sprache. Aber anders als mit einer Reaktion auf die ihm vorgehaltenen Ja- und Nein- Karten kann er sich nicht äußern.

»Groß ist der Unterschied«, seufzt Kathrin Biesecke, »ob die kleinen Heimbewohner vor dem Ertauben und Erblinden eine eigene Sprache gelernt haben oder ob sie mit der Behinderung geboren wurden. Wir versuchen, das Dactylalphabet zu vermitteln. Bei Sehenden kann man es noch in die Luft schreiben, bei Blinden kann man es in die Hand schreiben. Thomas zum Beispiel hat niemals in seinem 22jährigen Leben gehört oder gesehen; doch er kommuniziert ganz aktiv in die Hand des Gegenübers oder er führt lange Selbstgespräche. Thomas war schon immer neugierig.« Thomas muss zum Arzttermin, ihm werden neue Medikamente verschrieben. Mit seinem Kumpel sitzt er im Wartezimmer und kann gar nicht aufhören, ihm in die Hand zu klopfen. Der rollt nur mit den Augen. Was die beiden da bereden, weiß das Pflegepersonal nicht.

Josi sitzt auf dem Fußboden und schmollt. Sie will ihre Schuhe nicht selbstständig anziehen. Steffi, die junge Pflegerin der Gruppe, lacht. »Wenn die anderen so betüdelt werden, dann will sie eben auch. Warum sollte sie sich auch selbst die Schuhe zubinden? Dafür sind wir doch da.« Und sie hilft Josi in die Schuhe, denn draußen wartet schon der weiße Bus.

Gutes Benehmen und Integration

Heute ist ein besonderer Tag, heute geht’s zum Ausflug in einen Wildpark in der Schorfheide. Die beiden Rollis sitzen festgezurrt in ihren Stühlen, die kleine Eva starrt mit leerem Blick nach innen, Toni darf vorne sitzen. Als der Wagen anfährt, platzt Krischi fast vor Begeisterung. Auto fahren ist das Größte, gleich hinter Wurststullen mampfen.

»Genuss ist sehr wichtig. Und wir versuchen, den Kindern gute Umgangsformen mitzugeben. Beispielsweise in der Esskultur müssen sie lernen, dass Kot etwas Ekliges ist oder dass in der Öffentlichkeit die Hose zu bleibt und nicht gefummelt wird. Sonst wird die Isolation noch größer«, meint Andi, der gepiercte männliche Pfleger, der nun mit voller Kraft voraus die Rollstühle durch den märkischen Sand bugsiert. Eva steht in der Körperhaltung einer alten Frau auf dem Abenteuerspielplatz. Den Kopf vorgebeugt, lauscht sie dem Sirren einer Gleitgondel. Josi hat eine silbrig-glänzende Rutsche entdeckt. Bremsend gleitet sie langsam die Rutsche hinab, um sich unten stolz mehrmals auf die Brust zu tippen: Alleine, heißt das, das hab’ ich alleine geschafft! Dann klettert sie in ein Labyrinth. Hier gibt es kein Zurück mehr. Mit ihrem schwachen Sehvermögen kann sie gerade noch erkennen, was sie erwartet: Schlauchartige Gänge aus breitmaschig geflochtenen Tauen, in die man stürzen kann; Josi muss wackelige Holzscheite überqueren, durch schmale Röhren kriechen. Am Ende ist sie etwas wackelig auf den Knien, aber: alleine! Geschafft! Solche Erfolge feiert Josi nicht alle Tage.

»Häufig kommen noch die Lerndefizite hinzu«, sagt Biesecke. »Ein Baby liegt beispielsweise im Bettchen und weint. Die Mutter ruft schon von weitem: Ich bin ja da. Das Kind lernt, sich zu beruhigen. Ein Kind mit einer Behinderung kann das nicht. Ganz überlebenswichtige Lernprozesse bleiben aus und das Kind bleibt allein mit seiner Angst. Es hat keine Chance, eine Erwartungshaltung zu entwickeln, Wünsche zu haben. Oft wird die Behinderung nicht gleich nach der Geburt entdeckt. Und für die Mütter und Väter ist es furchtbar, im Laufe der Zeit zu erfahren, dass ihr Kind nicht reagiert. Kein einziges Lächeln wird es ihnen schenken.«

Vier Pullover in vier Tagen

Krischi und Mäxchen liegen zusammen im Schatten auf einer Decke. Ihre Hände begegnen sich, sie lachen. Toni spreizt mit den Fingern seine verwachsenen Augenlider auseinander, damit die Sonne ihren Weg findet. Josi stiert mit zurück gelegtem Kopf ins Licht und zerrt an ihrem Pullover, als wolle sie sich selbst in Stücke reißen. »Komm, Josi!« drängelt die Pflegerin Marion mehrmals, »die Wollschweine warten!« Josi scheint nichts zu hören. Reißender Stoff, ein einschneidendes Geräusch auf dieser friedlichen Wiese am Waldesrand. »Einmal hat sie mich gebissen, sah aus wie ein Pferdebiss. Sie kann halt nicht sagen, wie es ihr geht«, meint Andi und rückt gleich ein Stückchen weiter von ihr weg. In vier Tagen hat Josi vier Pullover zerrissen. In Josi tobt ein innerer Kampf. Heftig knallt sie ihre Stirn gegen einen Baumstamm, immer wieder. Ihr Kopf kracht. Ihre Nägel kratzen über die Arme, der Pullover hängt in Fetzen von der Schulter. Eine auswegslose Situation bahnt sich an in Richtung Selbstzerstörung.

»Viele Kinder entwickeln aus diesem inneren Druck heraus autoaggressive Züge, sie verletzten sich selbst«, sagt die Heimleiterin. »Mangelnde Zuwendung, mangelnde Stimulation führt dann zu dieser Art von negativer Selbststimulation. Dagegen sind unsere Insassen im Onanieren die Größten! Wenigstens das macht ihnen Spaß! Nur wenn wir spazieren gehen oder im Bus, da müssen wir ihnen beibringen, die Hand aus der Hose zu lassen. Aber ineinander verlieben, das hatten wir hier noch nicht. Jeder ist so in sich gefangen. Kinder, die kommen und sich einkuscheln wollen, das gibt es sehr selten. Es gibt Weinen und Autoaggression. Die wenigsten Kinder spielen untereinander, ein Großteil der Kinder hat überhaupt kein Interesse an Gleichaltrigen. Sie haben keine Beziehung zueinander, keine Kommunikation.«

Endlich beruhigt sich Josi. Mit der Pflegerin Marion macht sie die ganze Tour: Elche, Wölfe, Wollschweinferkel, Ziegen, Wildpferde. Zur Belohnung gibt’s dann Schokolade. Langsam und vorsichtig packt Josi die Schokoladenstäbchen aus und schiebt sie sich und Marion in den Mund. Sie sind schön süß.

»Wenn wir die nicht aufheben würden, liegen Mäxchen und Krischi da morgen noch!« meint eine Pflegerin und es geht nach Hause: Windelnwechseln, Festschnallen im Rollstuhl. Zurück im Bus drückt Josi ihre roten Fingernägel gegen die Fensterscheibe. Alle sind müde. Auch die Kinder aus Gruppe 1 machen schöne Sachen in den Ferien.

In der Nacht werden Krischi und Mäxchen wieder mehrmals gewendet, selbst im Schlaf sind sie noch auf die Hilfe des Pflegepersonals angewiesen. Morgens um sechs Uhr startet der neue Tag für Josi, Eva, Toni, Krischi und Mäxchen.