Einer wird gewinnen

Die Berlinale zwischen Weltkino und deutschem Film. von jürgen kiontke

Der letzte Ramsch bleibt liegen, oder so ähnlich lasen sich letzte Woche die Überschriften der Berliner Zeitungen – indes: Es war wohl nur Zufall, dass die offizielle Vorstellung des Berlinale-Programms auf den Beginn des letztmalig stattfindenden Winterschlussverkaufs fiel, denn es ist auf jeden Fall außerordentlich, auf jeden Fall sehenswert und ein echtes Großevent. Aber: Festivalchef Dieter Kosslick scheint sich die neuen Rabattgesetze zum Vorbild genommen zu haben, und deswegen gibt es wenigstens einmal neu eingeführte Minipreise auf Deutschlands größtem Filmfestival. »Angesichts der großen Resonanz auf die ›Perspektive Deutsches Kino‹ bei Publikum und Kritik und der internationalen Erfolge deutscher Filme aktuell ist der Zeitpunkt richtig gewählt, einen neuen, jungen und über die Grenzen weisenden Preis zu vergeben. Ziel des Preises ist es, das neue deutsche Kino einem jungen französischen Publikum nahe zu bringen«, so die Festdiktion.

Die große Resonanz – anderswo hängen die Trauben höher. Der nominierte deutsche Spielfilm »Good Bye, Lenin« ist gerade bei der US-amerikanischen Golden-Globe-Prämierung leer ausgegangen – was Wunder, der gepreiste Film heißt »Osama« und kommt aus Afghanistan. DDR und Kommunistenverarbeitung sind da wesentlich unzeitgemäßer. Nun, bei einer Reihe namens »Deutsches Kino« wird wahrscheinlich ein heimischer Film gewinnen.

Aber nicht nur der Kampf ums nationale Filmbewusstsein steht auf der Berlinale-Agenda 2004: Nichts weniger als das Weltkino wird nach Berlin geholt werden. Im Fokus der 1 152 Vorführungen von 394 Filmen in der Zeit vom 5. bis zum 12. Februar stehen Lateinamerika und Südafrika. Lateinamerika, weil Filme aus Ländern, in denen 44 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, immer interessante Stoffe bieten; Südafrika, weil dort vor zehn Jahren die Apartheid abgeschafft wurde. Unser Kanzler weilte ja auch gerade auf dem schwarzen Kontinent, um sich zu informieren, wie man ein Entwicklungsland leitet.

Obendrein wird es Filme aus dem Programm des Marshall-Plans zu sehen geben: Was hatten die Amerikaner den Deutschen in der Stunde Null zu zeigen? Die USA drehten nach dem Zweiten Weltkrieg insgesamt 250 Filme, die der Reeducation dienten sollten – vielleicht ein früher Fall von nation building, mind mapping auf jeden Fall. Scherzhaft spricht man von »Marshall Arts«, in Anlehnung an die »martial arts«, die chinesische Haudrauf-Filmkunst.

Deutschlands Zusammenbruch und Wiederaufbau – das ist aktuell wie nie: Gerade letzte Woche haben wir unseren BA-Chef Florian Gerster gekickboxt, nun ist der Chef der Bundesagentur für Arbeit selbst ein Arbeitsloser. Niemand scheint dem Heer der Arbeitslosen Herr werden zu können. Überall ist das Geld knapp, die Gewerkschaften sprechen von der Notwendigkeit einer Armutsdebatte. Finanzen haben natürlich auch Kosslick beschäftigt. Zum Glück greifen Sponsoren auch dieses Jahr hilfreich dem Filmbusinessbeschäftigungsprogramm (15 000 Akkreditierte) unter die Arme: mit Duftwasser (L’Oreal), Luftwasser (Evian) und geilen Schlitten (VW). Gerade letztere Firma kennt sich ja mit armen Leuten aus: Es war der VW-Personalvorstand Peter Hartz, der den Arbeitsmarkt reformierte. Wenn auch nur in der Statistik.

Auch hier hat das Festival gelernt, dass niemand vergessen werden darf. Schon gar nicht die potenziellen Statisten. Bisher gab’s nur ein Kinderfilmfest. Jetzt gibt es auch das Programm »14plus«, für alle Kinogänger ab 14 – eine Klientel, die besonders gern rumhängt und die Straßen unsicher macht, wenn’s mit der Lehrstelle nicht klappt. Klingt doch verdammt nach »JumpPlus«, und das ist das Jugendbeschäftigungsprogramm der Regierung.

Neben besagter Weltpolitik haben die Berlinale-Macher ein Band der Sympathie um alle Sparten ihres gigantischen Filmpakets geschnürt. Es heißt: Musikke.

In Kooperation mit dem Wolfsburger Autokonzern wird im »Berlinale Talent Campus« der herausragendste Beitrag junger Filmmusikkomponisten und Sounddesigner in der Kategorie »Sound and Music« ausgezeichnet – wobei das Engagement der Autobauer wahrlich nicht verwundert. Die schufen auch schon die Golfs »Pink Floyd« und »Rolling Stones«. Freuen wir uns also auf den demnächst erscheinenden ebenso old school herumfahrenden Viertürer Marke »John Cale«! Der Velvet-Underground-Recke jedenfalls wird einen Teil des »Talent Campus«-Programms musikalisch begleiten.

Ein Gespür fürs Modernere hingegen haben die Organisatoren mit einem weiteren Schwerpunkt bewiesen: Nigeria. Das große, an Bodenschätzen reiche Land verfügt über eine überbordende Filmproduktion. Bei der Sichtung sei er etwas ratlos gewesen ob der Fülle von Filmen, erzählt Dieter Kosslick. Na, watt denn, hätten die nigerianischen Kollegen gefragt, ist doch ganz einfach: Sie erzählen uns jetzt mal, welche Sektionen Sie bei ihrem Festival haben und wir geben für jede Sparte einen Film in Auftrag.

Da war er platt, das war eben ganz anders als in der hierzulande schwer stagnierenden Filmbranche, wo die Kinobesitzer über das am 1. Januar 2004 in Kraft getretene Filmförderungsgesetz lamentieren. Das sieht vor, die Förderung auf die Kinokarten umzulegen, wodurch diese naturgemäß teuerer werden und das Publikum noch mehr illegale DVDs brennen wird. Verfassungsklage vom Verband der Kinobetreiber ist anhängig. Zur Begründung heißt es, dem Bund fehle »die Gesetzgebungskompetenz in dieser Frage«.

Ja, wo fehlt die denn nicht? Es kreischt ja auch keiner rum, wenn hoch bezahlte Hansels über das Schicksal von fünf Millionen Arbeitslosen entscheiden. Die Kinobesitzer sollten deshalb vor allem im Umfeld der Berlinale kleine Brötchen backen – denn mit Nigeria hat man auf dem Filmfest bewiesen, dass einem das Herz an den deutschen Kinos liegt: Es ist bekannt für Konzerne, die das Volk gnadenlos ausbeuten, korrupte Beamte, Massenarmut mit krass unterfinanzierter Pflegeversicherung und Debatten um die Einführung der islamischen Rechtsprechung – alles Filmstoffe, die die Deutschen zu großen Haufen an den Kinokassen erscheinen lassen werden, weil sie das von zu Hause kennen.

Bei so viel Weitsicht fragt man sich: Warum wird Dieter Kosslick, dieser charmante Beschäftigungstherapeut, der uns tolle Filme zu und mit moderaten Preisen und Stars wie Nicole Kidman und Jack Nicholson nach Berlin holt, nicht der neue Chef der Bundesagentur für Arbeit? Schlange stehen muss man nicht nur auf der Personalservice-Agentur, sondern auch vor dem Berlinale-Ticket-Accounter. Wo’s hinterm Tresen auch nur Minijobs und Überlastung gibt. So wäre zu fordern: Die Berlinale wird zur Bundesfilmagentur und zieht endlich mit ihren 90 000 Mitarbeitern ganz von Nürnberg in die Hauptstadt – nicht nur für zwei Wochen, sondern fürs ganze Jahr und mit sozial gerechten Arbeitslosentickets. Da hätten wir, was sich jetzt nur in einem Bundesland andeutet: eine perfekt kolorierte Wärmestube, in der uns die Welt besuchen kommt, um sich anzuschauen, wie uns das Wasser bis zum Hals steht.

Genauso kommt es dieses Jahr daher, das Filmfest: »Grimmig, bissig, wild«, wie es Panorama-Leiter Wieland Speck nicht nur für seine CSD-Sparte ankündigt – das korrespondiert so gar nicht mit dem kuscheligen schwullesbischen Filmpreis »Teddy«, den er jedes Jahr verleiht.

Beweis: das Highlight einer anderen Sektion, namens »Berlinale Special«: ein Film über einen Stasi-Offizier, der erzählt, wie er die Wende erlebt hat – Speck: Das sei so wild, grimmig und bissig wie der Film über den Prozess gegen Adolf Eichmann, den Bahnwärter des Holocaust.

Und das ganze Festival? Wie Cannes, nur mit schlechtem Wetter (Kosslick). Auch so funktioniert deutsche Arbeitsmarktpolitik zuvörderst – mit falschen Etiketten.